Veronika sei Dank …

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Rogier van der Weyden: Der hl. Lukas zeichnet die Madonna (um 1440)– Museum of Fine Arts, Boston (Wikimedia) – Vergrößern

(Dieser Beitrag erscheint als zweiter Teil einer Artikelserie zur bildenden Kunst:
Teil I – »Keine Wahrheit ohne Engel« und Teil III – »Kinder an die Macht«.)

… ein Bild ist nicht nur ein Bild

Die Malerei vermag vieles. Eines geht ihr ab: der Kuss der Musen. Keine der neun Zeus-Töchter hat sich ihrer erbarmt. Sie scheinen sich dem Wort und seinem Klang, seiner Melodie und seinem Rhythmus zu widmen. Die Musik darf sich der liebenden Zuwendung von gleich vieren rühmen: Polyhymnia widmet sich dem Gesang und der Leier, die auch Erato, die Liebende, und Terpsichore mit sich führen; die eine, wenn sie der Dichtung der Liebenden, die andere die den Tanz und die Lyrik des gemeinsamen Chorgesangs, ihren göttlichen Glanz und ihre verzaubernde Kraft verleiht. Euterpe tauscht die Leier mit der Flöte und verspricht auch dort lyrischen Klang, wo während ihres Spiels nicht gesungen werden kann. Dem Theater sind zwei Musen zugewandt, Melopomene dem tragischen Stoff und Thalia dem komischen. Klio rühmt im Wort die gestaltende Praxis, die Helden und ihre Geschichte. Und Kaliope, die Schönstimmige, widmet sich dem gesprochenen Gesang, der Dichtung nämlich und der Rhetorik, der schönen Rede und derer die Weisheit zur Sprache bringt, der Philosophie und der Wissenschaft. Und um den Klang geht es auch Urania, die den himmlischen Klang, den Rhythmus der Sternenbewegung dem Menschen zum Gehör bringt.

Die Musen scheinen dem verheißungsvollen Wort verschrieben, nicht den Bildern, die doch mehr als tausend Worte sagen. „Was aber bleibet“, so heißt es dichterisch, „stiften die Dichter“ – durch die Musen. Die Odyssee des Homer, die Dichtung, die in vielem als „Stiftung“ der griechischen Welt gelten darf, beginnt mit dem Anruf der Muse, der in seiner wunderbaren Prägnanz kaum zu übersetzen ist:

Ἄνδρα μοι ἔννεπε, Μοῦσα, πολύτροπον, ὃς μάλα πολλὰ πλάγχθη,

((Vom) Mann mir sage, Muse, (dem) vielbewandert(en), der so weit geirrt)

Und nicht nur die Musen geben der Dichtung göttliche Hilfe. Auch der Götterbote Hermes, der Stammvater der philosophischen Hermeneutik, gewährt sie. Während die Musen das Verheißungsvolle gelegentlich auch dunkel sprechend hervorbringen, will es Hermes den Menschen nahebringen und „entbergen“: auch die schönste Dichtung Homers bedarf des auslegenden Vortrags. Je mehr sie durch göttliche Erleuchtung durchstrahlt wird, desto notwendiger wird die Vermittlung ihres Lichts durch verständige Boten.

Bedürfnislosigkeit der Kunst

Die Malerei und die bildende Kunst bleiben da ohne göttliche Unterstützung und Würdigung. Sie werden eher dem Handwerk als den artes liberales zugeordnet. Im Spiel irdischer Farben scheint kein himmlisches Licht zu erstrahlen, das einen göttlichen Beistand bedürfte um es richtig zu verstehen.

Die „Bedürfnislosigkeit“ der bildenden Kunst ist freilich ihre gefährliche Stärke: dass sie keine vermittelnde Hilfe brauchen, macht sie verdächtig. Sehen ist der unmittelbarste Sinn. Er scheint keine musische Vermittlung zu brauchen. In dieser Musenlosigkeit liegt zugleich die „Verwahrlosung“ der bildenden Kunst, die nur diesseitige Erscheinung ohne jenseitige Wahrheit kennt. Die Bilder sind zu stark, um wahr zu sein und vielmehr eine Quelle der Täuschung. Ihre Werke sind da und den Dingen, die sie abbilden, zum Verwechseln ähnlich. Das Wort „Baum“ wird selten mit einem Baum verwechselt, ein Bild des Sokrates dagegen ist dem Sokrates selbst zum Verwechseln ähnlich. Während das Wort nur in der Rede lebendig ist und als gesprochenes oder gesungenes Wort in der Zeit verrauscht, stellt uns die bildende Kunst etwas entgegen, sie schafft ein Ding von bleibender Existenz. Rhythmus und Sinn sind nur im vorauslaufenden Festhalten des gerade Wahrgenommenen „da“, sie sind gegen die Abfolge in der Zeit „innerlich“ festzuhalten. Die Musen als Töchter der Mnemosyne stiften Sinn indem sie das Vergängliche erinnern. Die Malerei scheint nicht dem Er-Innern, sie scheint dem Ent-Äußern, dem Äußerlichen, dem gestalthaft Wirklichen zugewandt.

Bilderverbot

Wenn sich die Welt wie in der griechischen Philosophie im logos erschließt, dann wird die bildende Kunst keine hohe Wertschätzung erwarten dürfen und sich dem Verdacht ausgesetzt sehen, nur täuschende Schatten zu produzieren. Die Erscheinung der Dinge täuscht uns nicht selten. Unsere sinnlichen Wahrnehmungen führen uns nur allzu leicht in die Irre, wenn wir sie nicht unter die Herrschaft der Vernunft stellen. Wie erst wenn wir uns ausdrücklich den „Schein der Dinge“ zum Ziel nehmen, wenn unsere Absicht gerade ist, es so scheinen zu lassen als ob es die abgebildeten Dinge wirklich gäbe.

Das Christentum folgt der griechischen Skepsis gegenüber den bildenden Künsten. Es gründet sich auf das geoffenbarte Wort, das es (in statu viae) richtig zu hören gilt, um erst dereinst (in statu patriae) zu sehen: Hören geleitet, Sehen verleitet. Von den wichtigsten Dingen, denen von Himmel und Hölle, müssen die bildenden Künste Abstand nehmen und dürfen davon nichts zeigen. Den Einbildungen, Künstler-Phantasien, gehen Einsichten ab. Das Bilderverbot wird in den Texten der abrahamitischen Religionen an prominenter Stelle klar ausgesprochen:

Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben. Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde.“ Die ist durchaus Ernst zunehmen, denn sie wird mit einer empfindlichen Drohung begleitet: „Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott: Bei denen, die mir Feind sind, verfolge ich die Schuld der Väter an den Söhnen, an der dritten und vierten Generation; bei denen, die mich lieben und auf meine Gebote achten, erweise ich Tausenden meine Huld.

Bilder sind (durchaus) gefährliches Menschenwerk, Schöpfungen aus eigener Hand, die in der Unmittelbarkeit ihrer Erscheinung ihre Herkunft vergessen. Sie stellen etwas unvermittelt vor Augen, so als wäre das, was sie darstellen, nichts anderes als das, was sie zeigen. Wenn 20 Millionen Gläubige jährlich nach Guadalupe pilgern, dann ist nicht so sicher, was für die Pilger nun der „Gegenstand“ ihrer Verehrung ist, die Mutter Gottes oder ihr Abbild, das „Gnadenbild“ der Jungfrau von Guadalupe.

Das Wesen des Bilds

Das ist eine Gefahr, die in der Kraft der Bilder und im Wesen des Bilds selbst gründet. Das Bild zeigt etwas, das es selbst nicht ist, das Abgebildete. Das Bild von einem Baum ist kein Baum, sondern seine Ab-bildung. Das, was gezeigt wird, ist im Bild da, ohne selbst das Bild zu sein. Und doch kann das Bild anderes nur zeigen, indem es sich selbst vor Augen stellt. Das Bild vom Baum ist ein Gegenstand von eigener Art, das wir an den Baum halten und an ihn lehnen können.

Das Bild zeigt etwas, ist aber selbst mehr als ein Zeichen. Das Wesen von Zeichen ist ihre Funktion: sie zeigen von sich weg und auf das, was sie anzeigen. Zahlzeichen oder Wortzeichen sind von dieser Art. Die Ziffer „3“ oder das Wort „drei“ bedeuten die Zahl drei. Wenn wir sie verwenden, sind wir ausgerichtet auf den „Gegenstand“, den sie „anzeigen“, nicht auf sie als Zeichen selbst. Die Kunst des Zeichengebens ist der Minimalismus: das Zeichen begrenzt sich durch das, was für das Zeigen notwendig ist. Was sie auszeichnet ist ihre Angemessenheit für die Verwendung. Zeichen sprechen nicht aus sich. Ihre Funktion als Zeichen bekommen sie aus der Zeichenvereinbarung oder – verwendung. Die römischen Zahlzeichen erwiesen sich als weniger nützlich als die arabischen und wurden deshalb durch jene abgelöst.

Das Bild eines Baums dagegen findet sein Maß am Baum, den es darstellt. Es zeigt etwas mehr oder weniger richtig. Wir erkennen das Abgebildete in der Abbildung mehr oder weniger gut (wieder). Vom Baum in meinem Garten kann es mehrere Bilder geben und damit mehrere Formen ihn darzustellen, ihn im Bild und für den Betrachter da sein zu lassen. Das Bild stellt etwas dar und stellt selbst etwas dar, das wiederum abgebildet werden kann – z.B. in einer Kopie. Das Bild behauptet gegenüber dem Dargestellten ein eigenes Recht.

Es gibt dem Dargestellten ein besonderes Da-Sein, eine Präsenz, die aus der Besonderheit der Darstellung kommt. Im Bild vom Baum sehen wir den Baum anders und das Bild vom Baum kann durch den Baum selbst nicht ersetzt werden. Im Bild zeigt sich der Baum wie wir ihn ohne das Bild nicht hätten sehen können. Im Bild sehen wir plötzlich das Abgebildete wie wir es in direkter Begegnung nicht sahen. Sein Wesen zeigt sich uns anders, wir erfahren ihn und uns (in unserem Sein zu ihm) neu. Die Fülle seines Sich-Zeigens bringt sein Wesen zur Erscheinung. Das Bild gibt zu dem Abgebildeten etwas hinzu, es stärkt und bekräftigt es. Was als „Gegenstand“ nicht „da“ ist, bekommt in der Abbildung eine Präsenz, die ihn in seinem Wesen zeigt.

Christliche Kunst als Auftragskunst

Dem Anspruch der Malerei, etwas vor Augen zu stellen, das sich sonst nicht zeigen würde, wird in der christlichen Kunst in den Dienst der Vermittlung des Worts gestellt. Warum sollte diese Kraft, etwas unmittelbar ansichtig und unvermittelt wirksam zu machen, nicht für die Vermittlung von Dingen genutzt werden, zu denen wir sonst keinen Zugang hätten. Für die christliche Kunst ergibt sich daraus der naheliegende Auftrag, die christliche Botschaft sichtbar zu machen, die sich im Wort kundtut und in den Texten der Offenbarung überliefert ist. Die Kunst ist dabei ausgerichtet am (diskursiven) Verstehen der (überlieferten) Texte und ihres logos, ihrer Vernünftigkeit: Ziel des Verstehen der (Offenbarungs-) Texte ist Einsicht, etwas im Durchgang der Texte so zu „sehen“ wie es ist. Etwas sehen heißt wissen. Das Ansichtig-werden ist das Ziel der Erkenntnis.

Ist die Kunst, die uns solche Schau ermöglicht, also nicht eine Kunst von höchstem Rang, kein Handwerk, sondern die Krone der artes liberales, der Schlussstein des Verstehensbogen, der dem ganzen erst Halt gibt?

Verkündigung

Im Kampf um ihre Anerkennung gibt es Motive, die sich besonders anbieten, den Wert der bildenden Kunst zu zeigen. Eines ist für zwei drei Jahrhunderte die Verkündigung an Maria: der Künstler wird in der „Vergegenwärtigung“ der Verkündigung selbst zum verkündigenden Engel, die Erscheinung des Engels erscheint für den Betrachter im Bild. Der Künstler verkündet uns die Wahrheit, die Gabriel Maria brachte. Die bildende Kunst wird selbst zum Wahrheitsträger.

Lukas der Maler

Dass Malerei das zurecht für sich reklamieren kann, wird auch an einem anderen Motiv deutlich, das sich in der Zeit der Herausbildung des Anspruchs der Malerei immer wieder findet: der Evangelist Lukas wird selbst als Maler dargestellt (z.B. in einer Darstellung in der Alten Pinakothek München aus dem van der Weyden Umfeld: Der Heilige Lukas zeichnet die Madonna, um 1488). In einer visio mystica sieht er Maria und gibt sie uns zu sehen. Er reicht seine Ein-sicht an uns kunstvoll weiter und ergänzt die erzählte Geschichte durch Bilder. Die Evangelien nach Markus, Matthäus und Lukas nennt man die synoptischen. Sie erzählen die Geschichte aus einer gemeinsamen Perspektive. Lukas als Maler ergänzt (und verstärkt) die erzählte Geschichte durch das Bild, eine Synopsis, die die zeitliche Folge auf einen Blick gegenwärtig macht. Das ist die Besonderheit des Sehens – im Unterschied beispielsweise zum Hören. Bach gilt vielen (protestantischen) Christen als fünfter Evangelist, weil seine Musik einem Gottesbeweis gleichkommt. Töne kann man nicht sehen, Farben kann man nicht hören, beide kann man aber verstehen. Und so versteht sich der Maler im 14./15. Jahrhundert zunehmend als Evangelist durch Farben und Formen.

Vera icon – Veronika

Wenn Lukas, der Evangelist, Maria malt, dann ist das Bilderverbot des Alten Testaments wohl doch anders zu verstehen und eine Aufwertung der bildenden Künste naheliegend. Und tatsächlich gibt es einen fundamentalen Unterschied zwischen altem und neuem Testament: das Wort ist mit Christus leibhaftig geworden. Das Bilderverbot des Alten Testaments galt der Idolatrie, der Verehrung der Bilder (oder Skulpturen), die qua Bild eine eigene Existenz behaupten und glauben machen, dass das Abgebildete wirklich da sei. Jesu ist dagegen ganz Gott und ganz Mensch. In Kolosser 1, 15 wird er als Sohn das „natürliche Bild“ des Vaters genannt (eikon physike): „Christus ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes“. Jesus ist selbst ein Bild! Es hat eigene Existenz und zeigt etwas, das ohne das Bild „unsichtbar“ geblieben wäre. Und von ihm, dem Bild, kann es selbst Bilder geben. Anders als die Engel, die unkörperlich keine Fußabdrücke hinterlassen können, gibt es vom menschlichen Jesus ein Abdruck, nämlich auf dem Schweißtuch der Veronika. Eine christliche Legende erzählt von Veronika, die Jesus auf dem Passionsweg nach Golgota ein Tuch gereicht habe. Auf ihm hat sich das Gesicht Jesu abgebildet. Die Szene bildet die sechste Station des Kreuzwegs und wird zu einem festen Bestandteil des kirchlichen Lebens und Gelegenheit für vielfältige Darstellungen in der bildenden Kunst.

Das „natürliche Bild“ Gottes wird auf einem Leintuch abgebildet, das wiederum vom Künstler neu präsentiert wird. Das Bild wird zum Wahrheitsträger, zur Vergegenwärtigung der leiblichen Gegenwart Gottes. Der Künstler schlüpft in die Rolle der Heiligen Veronika und behauptet die beglaubigende Kraft des Bildes. Im Bild zeigt sich die Wahrheit, es lässt Wahrheit sehen, „bringt“ die Wahrheit „hervor“. Der Name „Veronika“ leitet sich von pherenike ab und besagt so viel wie „Siegbringende“. In der lateinischen Form „Veronika“ hat man dann eine Zusammensetzung von vera und icon (eikon) und damit die Bedeutung „wahres Bild“ sehen wollen. Für die bildende Kunst ist das Programm: mit dem „wahren Bild“ zum Sieg der Anerkennung.

Meister von Flemalle: Hl. Veronika (1428/30) – Wikimedia

Im Frankfurter Städel findet sich ein Bild der Heiligen Veronika, das dieses (neue) Selbstbewusstsein der bildenden Kunst wunderbar zum Ausdruck bringt. Veronika hält dem Betrachter das Schweißtuch wie ein Beweisstück entgegen. Es steht zum Beweis für die Wahrheit des Evangeliums und der wahrheitsversichernden Kraft der Malerei. Das feine, hauchdünne Tuch ist fast transparent. Das Kleid Veronikas scheint durchs Tuch, auf dem sich freilich das Gesicht Jesu abzeichnet, das ernst und gefasst zu fragen scheint, ob nun genug gezeigt wurde, um für den Glauben bereit zu sein. Mit der Darstellung der Kunstfertigkeit seiner Darstellung scheint auch der Maler selbst den Betrachter zu fragen, ob er für die Kraft der Malerei noch weiterer Bestärkung bedarf.

Das Bild Veronikas ist Teil eines Altars gewesen, zu dem auch eine Tafel „Gnadenstuhl“ gehörte. Es ist eine Grisailledarstellung, die ganz in steinernem Grau gehalten, eine Skulptur imitiert, die auf einem kleinen Vorsprung in einer Mauernische steht. Unglaublich realistisch ist nicht nur die Szene in der Skulptur; täuschend echt ist auch die Skulptur im Bild. Der Betrachter soll zunächst (!) nicht bemerken, dass es sich nicht um eine Skulptur, sondern um ein Bild handelt. „Zunächst“ weil der Maler natürlich genau das Erstaunen beabsichtigt, das sich einstellt, wenn man die kunstvolle Täuschung bemerkt.

Das Bild, kann etwas da sein lassen, was nicht da ist. Das freilich kann es nur, wenn es selbst zur Erscheinung des Abgebildeten wird. Das Bild wird zu etwas, das das Sich-Zeigende braucht, um in seiner wahren Gestalt, seinem Wesen (eidos) erscheinen zu können. Hans-Georg Gadamer spricht auch von der „Dialektik des Bildes, zu sein, was es nicht ist, und nicht zu sein, was es ist“ (Zur Vorgeschichte der Metaphysik, 1950). Das Bild braucht etwas, das über es hinausweist und das von der Art ist, das Bild als seine Erscheinung zu brauchen. Das Bild ist kein (beliebiges) Zeichen, das dem Bezeichneten fremd ist und nur unseren Bedürfnissen dient. Es ist ein „Zeichen“ des Bezeichneten selbst, etwas, wodurch sich das Abgebildete aus- und uns zuspricht. Ohne diesen Verweisungszusammenhang des Bilds auf etwas anderes, das Abgebildete, das in ihm zur Erscheinung kommt, wäre es nur ein farbiger Gegenstand, ein Machwerk zur Dekoration oder täuschenden Belustigung.

Das Bild muss sich als Bild von etwas anderem sehen lassen, ansonsten wird seine Kunst, etwas täuschend echt darzustellen, zu einer echten Täuschung. Plato hat den Dichtern, die nicht unter göttlicher Leitung und dem rechten Verständnis ihres Zuspruchs stünden, zu Lügnern erklärt. Der Vorwurf würde ganz analog die Malerei treffen. Ihren Anspruch als hohe Kunst zu gelten kann die bildende Kunst nur einlösen, wenn sie sich auf das Hohe der Kunst bezieht, auf den Gegenstand der artes liberales. Das Bild ist nur „wahr“, wenn es dem richtigen Verstehen, dessen was ist, entspricht.

Wikimedia

In einer anderen, anonymen Darstellung der Heiligen Veronika in der Alten Pinakothek München (Meister der Heilen Veronika, 1420), die weit weniger kunstvoll gearbeitet ist, hält Veronika das Tuch nicht nur dem Betrachter frontal entgegen, sondern zeigt es im Bild lesenden Engeln. Die Engel studieren intensiv eine Schriftrolle (Altes Testament) und ein Buch (Neues Testament) und sehen mit dem auf dem Schweißtuch abgebildeten Gesicht Jesu das, was sie in den Texten suchten. Mit dem Bild scheint den Texten zu ihrem sichtbaren Erstaunen ein neuer Sinn zuzukommen. Das Studium zielt auf Einsicht, Synopsis und kontemplative Schau. Sie scheint ihnen nun in der Erscheinung Veronikas und des Tuches zuteilgeworden zu sein.

Bild und Studium, Zu-Verstehen-Suchen und Sehen, gehören zusammen. Wenn ein Bild, eine Einsicht, eine Vision das mühevoll meditierende Durchlaufen eines Textes abschließt, braucht es doch die lesende Meditation, die das Bild erschließt.

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Das freilich bedeutet, dass es mehr als tausend Worte braucht, um es zu verstehen. So wenig ein leeres Grab – und sei es noch so schön – die Auferstehung bezeugt, so wenig kann der Abdruck eines menschlichen Gesichts die messianische Bestimmung der Person zeigen, der es gehört. Um zu „sehen“, was Veronika zeigt, braucht es die Geschichte, aus der Gesichtsabdruck seine Bedeutung erhält.

Wenn wir die Geschichte wegnehmen, bleibt die Darstellung einer älteren Dame, die aus nicht klar ersichtlichen Gründen ein reichlich dünnes und ziemlich verknittertes Tuch vor sich und uns entgegenhält. Wir können dann die Kunstfertigkeit der Darstellung, also des Malens, bewerten, nicht aber nach einem („weiteren“) Sinn suchen. Wenn wir den Sinn weglassen, bleibt nur Technik, eine Technik, etwas so aussehen zu lassen, wie es nicht ist!

Es lebe die Auftragskunst

Es ist gerade die Kunstfertigkeit bei der bildhaften Darstellung, die der Auftraggeber vom Künstler wünscht und die zugleich als eine Gefahr betont wird und das abrahamitische Bilderverbot motiviert. Die Kunstfertigkeit muss deshalb ausgerichtet werden. Kunst war jahrhundertelang Auftragskunst. Der Auftraggeber weiß, was er (zeigen) will. Er möchte mit Hilfe des Bilds etwas vermitteln, was er ohne das Bild nicht zu tun vermag: Abwesendes wird in ihm gegenwärtig, Schwieriges einsichtig. Der bildenden Kunst wurde gegeben, was es braucht, wenn sie Kunst sein will: das Bild wurde auf das Abzubildende, es übersteigende, ausgerichtet, und sie konnte gerade in dieser Ausrichtung zeigen, wie sehr die Dinge, die Darstellung im Bild suchen.

Dass bildende Kunst Auftragskunst war, ist also kein Makel, nichts, dass als unfrei beklagt werden müsste. Es nimmt ihr nichts, gibt ihr vielmehr Gehalt. Nun kann sich der Künstler auch selbst beauftragen und seinen Auftrag als eine Berufung durch die Musen empfinden. Irgendetwas muss zu ihm sprechen und aus dem Bild, sonst bleiben beide stumm und sinnlos. Ohne „verheißungsvolle Worte“ der Musen kein Bild. Als Kunst braucht die bildende Kunst den Musenkuss und die hermeneutische Begleitung. Hohe Kunst ist bildende Kunst in der Dienstfunktion für das Wahre, indem sie kunstvoll etwas zeigt, was sie übersteigt.

(Dieser Beitrag erscheint als zweiter Teil einer Artikelserie zur bildenden Kunst: Teil I – »Keine Wahrheit ohne Engel«.)

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