Moden kommen und gehen. Manche deuten neue Zeiten an, manche variieren einfach die alten. Man würde die Mode überschätzen – und ihre Macher – wenn man darin jeweils den Zeit- oder gar Weltgeist sprechen hörte. Ja, Miniröcken gehören zu den Swinging Sixties und sind wohl auch Ausdruck eines gesellschaftlichen, antiautoritären Aufbruchs für neue (sexuelle) Freiheiten. Ist aber die kurze Zeit der Maxiröcke ein Aufbegehren des Establishments und der reaktionären Kräfte? Wohl kaum. Überlassen wir das der Soziologie der Mode(n) – die Georg Simmel 1905 noch „Philosophie“ genannt hatte.[1]
Das Ende der antiken Kunst
Paul Veyne – einer der gelehrtesten Althistoriker Frankreichs mit foucaultschen esprit – liebt provokante Thesen. Eine, die er 2005 zur Kunst der Spätantike formuliert hat ist: „Das Ende der antiken Kunst“ – die mit ihren Statuen, Fresken und Tempeln die Vorstellung von dem, was Kunst überhaupt ist, maßgebend geprägt hat – das Ende dieser Kunst „war der Erfolg einer Mode.“[2] Inspiriert durch ägyptische Statuen hat sich im 7. und 6. Jahrhundert v.Chr. eine Kunst der Statuen (Kouroi) herausgebildet, die sich im 4./3. Jahrhundert zu den Meisterwerken der Darstellung der Schönheit des menschlichen Körpers in den großen Skulpturen der Klassik ausgeprägt hat. Die „klassische“ griechische Kunst prägte die folgenden tausend Jahre. Die Römer übernahmen weitgehend das griechische Kunstideal wie später immer wieder auf diese „klassische“ Kunst zurückgegriffen wurde: in der Renaissance etwas oder der „Klassik“ des 18. oder der Neo-Klassik des 19. Jahrhundert.
Doch das Schönheitsideal das tausende Jahre beherrschte und später die Winckelmanns der Welt zur „Nachahmung“ deren „edler Einfalt und stiller Größe“ annimieren sollte, ging mit dem römischen Reich unter. Das „dunkle Mittelalter“ fiel in eine primitive, fast barbarische Kunst zurück – so jedenfalls eine gängige Sicht des Verfalls der griechisch-römischen Hochkultur.
Wie kam es dazu, dass z.B. Prozessionen die 9 v.Chr. noch so dargetellt wurden
Mitte des 6. Jahrhunderts zu aussehen.
Schuldige wurden dafür schnell ausgemacht. Die Angriffe, die sich das Reich durch die Völkerwanderung ausgesetzt sah – sinnbildlich durch die Plünderung Roms 410 unter Alarich – konnte (West-)Rom, innerlich geschwächt nichts entgegensetzen. Die staatliche Ordnung zerfiel, es setzte eine Feudalisierung ein und die „heidnische“ Hochkultur wurde durch eine primitive, weltabgewandte christliche Kunst ersetzt.
Das…
…oder das
wird das…
…oder das
„Kunst ist, was nicht Natur ist“
Paul Veyne geht dieser „Zeitenwende“[3] nach und kommt zu einer völlig anderen Einschätzung. Nicht der neue christliche „Zeitgeist“ und auch nicht die ökonomisch-soziale Transformation der römischen Gesellschaft sei für die „Ablösung von dem hellenisierenden Stil“[4] verantwortlich zu machen. Vielmehr sei es schlicht (?!) die Weiterentwicklung der Kunst selbst und ihrer „produktiven Einbildungskraft“. Es kommt zu typischen Manierismen, einer „überschwänglichen“ Betonung bestimmter Ausdrucksformen, die sich in neuen, draufgängerischen Darstellungen niederschlagen. Die alte strenge, alleinstellende Klarheit wird zu einem horror vacui: die Fresken werden zu einem dichten Gedränge von übereinander geschichteten Körpern, die es unmöglich machen, die dargestellten Ereignisse wirklich zu verstehen.
„Das Ideal der Klarheit und Ruhe [wird] abgelöst von übergroßer Fülle, heftiger Bewegung und Pathos„[5]. Alles ist geprägt durch ein „symptomatisches“ Desinteresse an der plastischen Gestaltung: die „Kunst einer naturgetreuen Darstellung“ wird zu „einer Kunst des Wiedererkennens qua Analogie“[6]. Alles wird grobschlächtiger. Statt den Schein der Wahrheit zu erzeugen, wird „expressionistische Wahrhaftigkeit“ angestrebt. Die „naturalistische Sprache verlor ihre Monopolstellung“ und Analogie im Bild gewinnt an Bedeutung.[7] Das führt zu Stilisierung, zur Überzeichnung und bewusster Schematisierung. Körper werden flach, Gesichter werden „formal“ und erstarren mit übergroßen, runden Augen.
Kunst gilt nur noch dann „bedeutend“, wenn sie anstatt sklavisch die Wirklichkeit zu imitieren, ein hohes Maß an Phantasie und Einfallsreichtum beweist.[8] „Kunst ist, was nicht Natur ist.“[9]
Kaiserliche Wahrhaftigkeit
Die Konzentration auf die Analogie und das Wesen der Darstellung „hinter“ der weltlich naturalistischen Erscheinung legt es nahe, christliche Einflüsse zu vermuten. Tatsächlich setzt der Stilwandel schon lange vor der Durchdringung des römischen Reichs mit christlichen Vorstellungen ein. Ein erster Stilwandel zeichnet sich in den Jahren 170-200 und ein weiterer, grundlegenderer um 290 ab. Als Konstantin 313 im sogenannte Toleranz-Edikt, den Christen weitgehende Religionsfreiheit gewährt, machen die Christen gerade mal ein Zehntel der gesamten Reichsbevölkerung aus. Und der Stilwandel zeigt sich keineswegs an christlich-religiösen Motiven. Wir finden ihn an Sarkophagen, bei der Ausgestaltung von Triumpfbögen nach (großen) Siegen und bei der Darstellung der Kaiser selbst.
Einer der großen Christenverfolger, Kaiser Diokletian (284-305) stellt sich ganz anders dar als seine klassischen Vorgänger. Der Kaiser muss nicht schön sein und die klassischen Ideale der körperlichen Schönheit erfüllen. Er muss entschieden und konzentriert und nicht selten rücksichtslos und gewalttätig sein. „Jetzt legitimiert sich der Machthaber durch seine Fähigkeit, das Imperium zu verteidigen, und verzichtet auf eine aristokratisch-elegante Darstellung seiner Person.“
Diokletian führte die sogenannte Tetrachie ein, die durch ein Zusammenspiel von aufgeteilten Machtzentren das Reich stabilisiert und erst in ihrem Zusammenwirken die kaiserliche Ordnungsmacht darstellen. Sie stellt sich nicht mehr „hellenistisch“, sondern neu und in „konzeptioneller“ Analogie dar und „erinnert“ an die Darstellung mittelalterlicher Herrscher.
Einer der Mitkaiser Diokletians, Galerius legt keinen Wert auf elegante, verkünstelte Schönheit, sondern zeigt sich als entschlossener Träger einer Aufgabe: er und seine Darstellung ist „formal“ auf das Entschiedene und die vorausblickende Standhaftigkeit konzentriert.
Der Manierismus und die Hinwendung zur konzeptionellen, schematisch-analogischen Kunst wurde durch die Erfordernisse des kaiserlichen Populismus gefördert und hatte seine „Ursachen“ nicht in einer „Christianisierung“ oder der „Herausbildung der Feudalgesellschaft“. Die Kunst des „dunklen Mittelalters“ ist keine Degeneration. Sie ist eine künstlerische Fortentwicklung, eine Fokussierung auf neue künstlerische Ideen. Die Künstler lassen „ihrem Einfallsreichtum ungeniert freien Lauf“ und überwinden „den Naturalismus“, nicht aus handwerklichem Unvermögen, sondern aus künstlerischer Entscheidung. Es ist völlig „falsch, von einem Niedergang der Technik oder einem Verlust des Know-hows zu sprechen“.[10]
Moderne Kunst
Die Entwicklung der „modernen Kunst“ weg vom realistischen Naturalismus hin zu Impressionismus, Expressionismus und Abstraktion würden wir nicht als Untergang einer Hochkultur bezeichnen, der durch den Verlust technischer Fertigkeit hervorgerufen wird. Es ist vielmehr der Versuch die Welt anders darzustellen als es die Vorgänger taten. Paul Veyne zitiert Cezanne, der davon sprach, man habe es einfach nicht mehr ertragen können, so „entsetzlich naturgetreu“ zu malen.
Paul Veyne ist als Historiker Skeptiker einer Zeitgeist-Metaphysik. Dass Zeitgenossen, die die Kunst der Zeitgenossen annehmen und sie sich darin besser wiederfinden, bedeutet nicht, dass „die“ Zeit sich darin ausdrückt. Er ist – ökonomisch ausgedrückt – ein Vertreter der Angebotstheorie. Nicht der neue Bedarf, schafft das neue Angebot, sondern der Einfallsreichtum der Künstler schafft einen neuen, bislang unbe- und unerkannten Bedarf. Die sich jetzt in der „neuen Mode“ wiederfinden, wussten nicht, dass sie die Kleider wechseln wollen.
Paul Veyne kritisiert die Ideologie des Zeit- oder Weltgeistes, die hinter den historischen Veränderungen eine „wahre“ Geschichte entdecken will. Die Kunst der Renaissance zeigt die Kunst der Renaissance „nicht aber, wie man fälschlicherweise meint, die Renaissance selbst“. [11] Er polemisiert gegen die „wahren“ Ursachen der Veränderung wie sie der Hegelianismus und seine marxistischen Erben zu erkennen glauben. Die „Vorstellung von einer kollektiven Seele ist für uns [Historiker] ein verbales Hirngespinst.“[12]
Die Künstler leben natürlich in ihrer Zeit, sie sind Zeitgenossen. Ihre Kunst ist aber nicht das Produkt des Zeitgeistes; sie wird durch Künstler geschaffen. „Die Kunst ist vor allem das Kind ihrer eigenen Werke.“[13] Nehmen wir, sagt Paul Veyne, den Impressionismus. Er ist ein „Kind“ der Jahre um 1870, wie die Pariser Börse und die Mode der Reifröcke. Aber welcher „Produktionszusammenhang“ besteht zwischen der Pariser Börse und dem Impressionismus. Sie entstehen zusammen, aber – so Paul Veyne – nicht auseinander.
Die Kunst stützt sich auf sich selbst, reflektiert über sich und bietet sich zur Verwendung für allerlei Interessen an. Die Kaiser haben die neuen ästhetischen Formen für ihre Zwecke aufgegriffen und sie damit unterstützt und ihre Durchsetzung befördert. Die Kunst gibt neue Möglichkeiten, deren Ergreifen wiederum neue Möglichkeiten auftut. Vieles ist hier vom Zufall und dem Einfallsreichtum abhängig. Im Deutschen spricht man – darauf bezieht sich Paul Veyne ausdrücklich – von „(produktiver) Einbildungskraft“. Im Französischen steht dafür „Esprit“, dem Paul Veyne seine angemessene Stelle in der Geschichte der Menschheit (und ihrer Geschichtsschreibung) einräumen will.
[1] Georg Simmel, Philosophie der Mode, in: Gesammtausgabe Bd. 10 1995.
[2] Paul Veyne, Die Kunst der Spätantike, Geschichte eines Stilwandels, 2005, dt.: 2009.
[3] A.a.O., S. 9.
[4] A.a.O., S. 11.
[5] A.a.O., S. 11.
[6] A.a.O., S. 98.
[7] A.a.O., S. 142f.
[8] A.a.O., S. 101.
[9] A.a.O., S. 49.
[10] A.a.O., S. 103.
[11] A.a.O., S. 152.
[12] A.a.O., S. 153.
[13] A.a.O., S. 158.