Inside Kakanien I 22: „Denken Sie an etwas Bestimmtes?“

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Manche Dinge sind mit dem alten Kakanien untergegangen. Zum Glück. Wir erinnern uns ihrer mit Entsetzen. Im neuen „Projekt“, bei dem wir mitzuwirken gedenken – oder gar der großen „Parallelaktion“ unseres Lebens – soll es, ich beschreibe das jetzt (mit Musil) aus männlicher Perspektive, eine großartige, na sagen wir eindrucksvolle Frau geben, die eine maßgebende, na sagen wir entscheidende Rolle darin spielt. Im alten Kakanien sprach man davon, sie hätte „eine unbeschreibliche geistige Anmut“ oder sei „die schönste und gescheiteste Frau“, die man sich dafür denken könnte. „Also“ so hätte man damals ganz ungeniert gesprochen, „eine geistige Schönheit“. Noch bevor wir sie kennengelernt haben und schließlich erfahren, dass sie ihren Vornamen von Hermine in Ermelinda aufgewertet hatte, nennen wir sie „im Geheimen“ unserer Gedanken spöttisch Diotima und entwickeln einen Vorbehalt, den wir durch unsere erste Begegnung bestätigt sehen wollen. Und dann knistert es plötzlich, man gibt sich etwas zu hingebungsvoll die Hand, schaut sich einen Moment zu lang in die Augen und begeht in „ein wenig übertriebener Zuvorkommenheit“ erste kleine faux pas. „Wir müssen und wollen eine ganz große Idee verwirklichen“ versucht sie ihrer Aufgabe der Motivation fürs gemeinsame Vorhaben gerecht zu werden. „Wir haben die Gelegenheit und dürfen uns ihr nicht entziehn!“ Wie könnten wir das jetzt noch wollen? Aber nichts könnte darauf hilfloser antworten als die Rückfrage: „Denken Sie an etwas Bestimmtes?“ Nein, natürlich nicht. „Wie hätte sie das auch tun können! Niemand, der vom Größten und Wichtigsten der Welt spricht, meint, daß es das wirklich gebe. Aber welcher sonderbaren Eigenschaft der Welt kommt das gleich? Alles läuft darauf hinaus, daß das eine größer, wichtiger oder auch schöner oder trauriger ist als das andere, also auf eine Rangordnung und einen Komparativ, und dazu gibt es nun keine Spitze und keinen Superlativ? Macht man jedoch jemand, der gerade vom Wichtigsten und Größten sprechen will, darauf aufmerksam, so faßt er das Mißtrauen, es mit einem gefühllosen und unidealistischen Menschen zu tun zu haben.“ Sie musste das „respektlos“ finden, das Große des Vorhabens kleinteilig detaillieren zu wollen: „Es gibt so viel Großes und Gutes, was noch nicht verwirklicht ist, daß die Wahl nicht leicht fallen wird.

In solcher Lage heißt es den frühzeitigen Rückzug anzutreten, um so die Option einer baldigen Rückkehr zu haben. „‚Wahrhaftig‘ dachte er ‚eine Hydra von Schönheit!‘ Er hatte die Absicht, die große vaterländische Aktion vergeblich auf sich warten zu lassen, aber sie schien in Diotima Gestalt angenommen zu haben und war bereit, ihn zu verschlingen. Es war ein halb spaßiger Eindruck; trotz seiner Jahre und Erfahrung kam er sich wie ein schädlicher kleiner Wurm vor, den ein großes Huhn aufmerksam betrachtet. ‚Um Gotteswillen‘, dachte Ulrich, ‚nur nicht von dieser Seelenriesin sich zu kleinen Schandtaten herausfordern lassen!‘

Was heißt hier „kleine Schandtaten“? Allein der Gedanke ist eine. Aber das alles ist längst überwunden. Im neuen Kakanien gendern wir heute und nehmen aufeinander geschlechtslos Rücksicht. Diotimas sollten wir uns heute mit Bart und Ulrichs fettleibig mit einem Hautausschlag wegen übermäßigem Fleischkonsums vorstellen. 

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