Die Einbildungskraft des Mythos

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Bei „Whodunnit“-Krimis wissen wir, dass wir uns konzentrieren müssen, um bei all den Ablenkungen und Irrwegen, die der Autor legt, der Wahrheit nahe zu kommen. Man könnte natürlich gleich die letzte Seite lesen und dann wäre der Spaß vorbei: wir hatten es befürchtet, aber es schien uns zu trivial: der Mörder war wieder der Gärtner. Bei Paul Veynes Glaubten die Griechen an ihre Mythen? (1987) sind die Dinge auch verschlungen und manchmal scheint sich der „Plot“ ins Unwahrscheinliche zu verrennen. Wollen wir bei diesem „Krimi“ der Wahrheit auf den Grund kommen, dann werden wir immer wieder durch Sätze wie diesem abgelenkt: „Wenn etwas den Namen Ideologie zurecht trägt, dann die Wahrheit.[1] Und wenn wir uns dann den intellektuellen Spaß der Lektüre Paul Veynes wirklich nehmen wollten, weil wir ihm glauben, dass die Wahrheit der Geschichte(n) nicht zu finden ist und vor allem nicht gesucht werden sollte, und auf die letzte Seite springen, um endlich zu erfahren, wer denn nun Täter und wer Opfer war – wenn es denn überhaupt eine Tat gab –, dann würden wir lesen können, dass „jeder, der auch nur die geringste historische Bildung besitzt“ bei der Titelfrage würde „vorweg geantwortet haben: ‚Aber natürlich haben sie an ihre Mythen geglaubt!‘ Wir [also Paul Veyne] wollten nur, daß das, was ihnen so selbstverständlich war, es auch für uns ist, und die Implikationen dieser ursprünglichen Wahrheit freilegen.“[2] Also doch Wahrheit? Ja, nee …

Die „Alten“[3] glauben irgendwie an ihre Mythen und dann eigentlich wieder nicht. Sie halten, das was da erzählt wird für wahr, ohne doch die Wahrheitsfrage wirklich zu stellen. Und wenn sie sie gelegentlich stellen, dann scheuen sie nicht davor zurück, auch die mythischen Antworten in Frage zu stellen – also jedenfalls „irgendwie“.

Titus Livius und die Dorze

Hütten der Dorze

Paul Veyne beginnt seine historische Detektivarbeit mit einer ethnologischen Beobachtung: die Dorze, eine kleine ethnische Bevölkerungsgruppe Äthiopiens, gehören (in ihrer Mehrzahl) dem koptisch-orthodoxen Glauben an. Der Leopard, den sie gleichermaßen fürchten und verehren, halten sie für ein christliches Tier, das wie sie selbst die Fastentage einhält. Gleichwohl schützen sie ihre Kinder und ihr Vieh auch an Fastentagen vor dem Leoparden. Dass Leoparden die Fastenregeln einhalten und dennoch Vieh schlagen, ist für die Dorze kein beunruhigender Widerspruch. Was von „außen“ betrachtet, ungereimt erscheint, gehört für die Dorze unterschiedlichen Erzählebenen und Handlungsräumen an.

Paul Veyne will zeigen, dass das auch für den Mythos und die antike Geschichtsschreibung gilt: was berichtet wird, gilt als wahr ohne doch zweifelsfrei zu sein. Nach „der“ Wahrheit wird gar nicht gefragt und vor allem wird sie nicht begründet. Es wird erzählt, was erzählt wurde, und das Erzählte bildet das Selbstverständnis ab und richtet die Handlungen aus. Das ist für Paul Veyne nicht verwunderlich und kein Makel. „Die weitverbreitetste Art des Glaubens ist“, meint Paul Veyne zu allen Zeiten, „jene, die dem Glauben eines anderen Glauben schenkt.[4] Glauben schenkt man einem anderen, weil das, was er sagt, schon seit langem gesagt wird und es keine (offensichtlich) betrügerische Absicht verrät. „Die Wahrheit ist – weit davon entfernt, die einfachste Erfahrung zu sein – die historistische von allen.[5] Einen Zugang zur Wahrheit an sich gibt es nicht – und wird von den „Alten“ deshalb auch gar nicht gesucht. Ob es sich wirklich so verhält wie es berichtet wird, kann offenbleiben. Z.B. kennt die römische Geschichte seit der Gründungssage mit Romulus und Remus eine (nahtlose) Folge von Herrschaftsfiguren, die zur Vertreibung des letzten Königs, Lucius Tarquinius Superbus, und der Etablierung der Römischen Republik, über das Decemvirat bis zur Herrschaft Roms über die italienische Halbinsel und den Beginn der römischen Geschichtsschreibung führt.

titus Livius

Titus Livius (59-17 n.Chr) stellt sie in Ab urbe condita dar ohne auch nur den geringsten Grund für ihre Richtigkeit geben zu können. Wie hat er das alles wissen können? Ein antiker Geschichtsschreiber setzte keine Fußnoten unter die Seite.[6] Wir sind es gewohnt, die geschichtliche Tatsachen über Dokumente zu beglaubigen. Das ist das Erbe der sich ausbildenden juristischen und theologischen Disziplinen, bei denen im Rückgriff auf anerkannte Dokumente (Gesetzestexte oder Heilige Schriften) Behauptungen gestützt werden sollten.[7] Natürlich erhebt sich dann die Gefahr eines unendlichen Regresses – eine Behauptung wird durch ein Dokument gestützt, dessen „Gültigkeit“ sich wieder auf Behauptungen stützt, die ihrerseits durch historische „Fakten“ in Form von Dokumenten versichert werden … ad infinitum. Den antiken Autoren genügte die Glaubwürdigkeit der Überlieferung. Glaubwürdigkeit gibt die Zeit: Hätte ein Historiker auf Belege und Dokumente verwiesen, er hätte sich verdächtig gemacht. Paul Veyne kann noch aus dem 16. Jahrhundert Beispiele anführen, dass Autoren kritisiert wurden, wenn sie versuchten, Belege und Dokumente für das von ihnen Berichtete anzuführen. Wirkliche Glaubwürdigkeit gewinnt ein Text durch die Zeit, also durch die Rezeption der Leser. Ihr durch Verweise und Dokumente zuvorkommen zu wollen, verrät manipulative Absichten.

Geschichtsschreiber gleichen darin, meint Paul Veyne, Journalisten: wir beurteilen den Wert des Berichteten „nach internen Kriterien; es reicht uns, ihn zu lesen[8] Einen guten Journalisten machen drei Dinge aus: das Geschick beim Zusammentragen von Information (1), die Kompetenz, die gesammelten Informationen richtig zu verstehen und einzuordnen (2) und (3) die Unparteilichkeit bei ihrer Bewertung.[9] Und so wurde die erzählte Geschichte von der Gründung Roms von allen späteren römischen Historikern übernommen, obwohl für sie nichts als das Hörensagen vorgebracht werden konnte. Auch Cicero (106-43 v.Chr.) hielt daran fest und konnte doch – ganz im Geiste der Dorze – über manche Ungereimtheiten spötteln.

Ein schönes und lehrreiches Beispiel ist auch die Geschichte Coriolans.[10] Coriolan, selbst römischer Feldherr, wendet sich aus Stolz gegen „sein“ Rom und bringt es beinahe zu Fall. Dass es diesen Gnaeus Marcius Coriolan als historische Figur wirklich gegeben hat ist eher unwahrscheinlich. Und doch wurde er historisch wirksam. In Krisenzeiten wurde immer wieder auf seine „Geschichte“ hingewiesen: Coriolan blieb eine drohende Gefahr bzw. eine politische Option.

Von den Töchtern des Okeanos

Okeanos und Tethys

Was für die Geschichtsschreibung gilt, gilt noch stärker für den Mythos. Nehmen wir Hesiods (vor 700 v.Chr.) Theogonie. Sie ist einer der zentralen Gründungsakte der griechischen Götterwelt. Aber woher wusste er all die Göttergeschichten und warum glaubte man ihm? Nehmen wir den Bericht über die Nachkommen des Titanen Okeanos. Nachdem Hesiod alle 26 wirbelnden Flüsse namentlich aufgezählt hat, die aus der Verbindung zwischen Okeanos und Tethys hervorgingen, nennt er die 41 Töchter des Titanen von Okeanos:

Petho und Admete, Ianthe, weiter Elektra, Doris und Prymno sowie Urania, die göttergleich schöne, ferner Hippo, Klymene, Rodeia und auch Kallirhoe, Klythia dann und Zuxo, Pasithoe und auch Idyia, ferner Plexaura und Galaxaura und reizend Dione und Melobosis und Thoe und schön an Gestalt Poldyora, reizend an Wuchs Kerkeis und Pluto mit glänzendem Auge und Perseis und Ianeira, Akaste und Xanthe, auch Petraia, die liebliche, ferne Menestho, Europe, Metis, Eurynome dann, Telesto im gelben Gewande, Asia und Chryseis, voll reizende Anmut Kalypso, auch Eudora und Tyche, Amphirho und Okyrhoe, schließlich die Styx, an Würde die erste unter den Schwestern.[11]

Wir Modernen fragen uns nicht nur, warum es keine 42 sind und wie er sich die Namen alle merken und zuordnen konnte – selbst für den Titanen Okeanos dürfte es schwierig gewesen sein, da den Überblick zu behalten. Hesiod aber weiß Bescheid. Ähnlich steht es bei Genealogien von Herrscherhäusern, die Herodot (490-430 v.Chr.), Polybios (200-120 v.Chr.), Pausanias (115-180) und wie gesehen Titus-Livius anführen. Paul Veyne kommentiert das so: „Der Mythograph rekonstruiert, oder besser, er fabuliert eine lückenlose königliche Geschlechterfolge, die sich über die gesamte mythische Vorzeit erstreckt; er empfindet, nachdem er sie erfunden hat, die Befriedigung eines vollständigen Wissens. Woher nimmt er alle diese Eigennamen, an denen er auf allen Stufen seiner Genealogie festhält?[12] Manchmal aus Allegorien oder den Namen von Bergen, Städten oder Flüssen, der Gegend, die mit einer königlichen Person verknüpft sind.

Paul Veyne bezieht sich insbesondere auf Herodot und Pausanias, die hellenistischen „Historiker“ und Titus Livius. So bekennt Herodot ausdrücklich, dass er nicht alles, worüber seine Historien berichten, selbst glaubhaft findet: „Was mich, betrifft, so ist es meine Pflicht, das wiederzugeben, was man mir gesagt hat. Freilich brauche ich nicht alles zu glauben. Und was ich hier geäußert habe, gilt für mein ganzes Geschichtswerk.[13]

Ovid wäre eine nicht weniger gute Quelle gewesen. Auch verweist gelegentlich auf durchaus berechtigte Zweifel, die dem Leser über das Berichtete kommen mögen. Die Verwandlung von geworfenen Steinen zu neuen Menschen, die Ovid in der Deukalion und Pyrrha Szene berichtet, kommentiert er: „wer wollte es glauben, wenn nicht das Alter der Sage es verbürgte[17].

In nova formt er die alten Geschichten und bringt sie zu neuer Glaubwürdigkeit. Die philologische Kommentierung der Metamorphosen z.B. kann tausende von versteckten Referenzen ausmachen, die Ovid hätte geben können. Aber damit hätte er nichts gewonnen. Es ist vielmehr die künstlerische Form, die dem alten Stoff neue Bedeutung geben.

Die Einbildungskraft des Mythos

Was ist der Mythos? Er ist vor allem, so Paul Veyne, das Werk „produktiver Einbildungskraft“. Sie vermag es ein eigenes künstlerisches Reich zu schaffen, das nicht danach bewertet wird, wie gut es anderes abbildet. Das „Bild“, das die Einbildungskraft schafft, ist kein „Abbild“ eines Original, das es ohne ihr Schaffen gäbe. Sie schafft neue Welten, in denen wir uns eine Zeitlang heimisch fühlen. „Die Literatur ist eine fliegender Teppich, der uns von einer Wahrheit zur anderen trägt.[14] Die Wahrheiten freilich, die man dabei überfliegt, sei’s „die der Ilias“ oder „die Einsteins“ sind „Töchter der Einbildungskraft und nicht des natürlichen Lichts der Vernunft“. [15] Der Unterschied zwischen Realität und Fiktion ist unser Umgang mit dem Erzählten, und „der einzige feine Unterschied liegt darin, dass wir später nicht mehr daran glauben“, was vorher als real galt.[16] Das muss nicht das Schicksal aller Schöpfungen der Einbildungskraft sein. Manche haben schier unendliche Lebenskraft. Ovid sah für sich und seine Schöpfung jedenfalls ewigen Ruhm voraus:

Und jetzt hab’ ich vollendet ein Werk, das nicht Jupiters Zornwut,
Feuer und Schwert, die zehrende Zeit nicht zu tilgen vermögen.
Mag er erscheinen, der Tag, wann er will, der nur meines Leibes
Herr ist, die Frist meines schwankenden Lebens zu enden: unsterblich
schwingt der edlere Teil meines Wesens sich über die hohen
Sterne empor, und unzerstörbar dauert mein Name;
Und wo die Römer bezwungene Länder beherrschen, die Völker
Werden mich lesen: ich bleibe, wenn irgend die Ahnung der Sänger
Wahrheit besitzt, im Ruhm für ewige Zeiten lebendig.[18]

[1] Paul Veyne, Glaubten die Griechen an ihre Mythen?, Ein Versuch über die konstitutive Einbildungskraft, 1987, S. 142.

[2] Paul Veyne, a.a.O., S. 154.

[3] Wenn Paul Veyne im Titel von den „Griechen“ spricht, meint er die Griechen der Antike und eigentlich auch nicht nur die Griechen. Viele seiner Beispiele beziehen sich auf die römische Antike. „Glaubten Menschen der Antike an ihre Mythen“ wäre aber ein weit weniger schöner Titel gewesen und auch weniger sprechend.

[4] Paul Veyne, a.a.O., S. 41.

[5] Paul Veyne, a.a.O., S. 9.

[6] Paul Veyne, a.a.O., S. 15.

[7] Bei juristischen Texten setzt das sozial-geschichtlich den für ein bestimmtes Territorium erhobenen und weitgehend anerkannten Gesetzgebungsanspruch voraus, der über die die direkten Weisungen des jeweiligen Herrschers hinausgeht.

[8] Paul Veyne, a.a.O., S. 21.

[9] Paul Veyne, a.a.O., S. 25.

[10] Das Beispiel verdanke ich einem Hinweis CDHs, der mich auf die mythische Funktion des Coriolans hingewiesen hat, die dann von Shakespeare bis Brecht (und Grass) immer wieder ganz unterschiedlich geltend gemacht wurde.

[11] Hesiod, Theogonie 337ff.

[12] Paul Veyne, a.a.O., S. 38.

[13] Herodot VII, 152, 3.

[14] Paul Veyne, a.a.O., S. 34.

[15] Paul Veyne, a.a.O., S. 35.

[16] Paul Veyne, a.a.O., S. 34.

[17] Ovid, Metamorphosen I, 400: quis hoc credat, nisi sit pro teste vetustas?

[18] Ovid, Metamorphosen XV 871,

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