Vom Drang beseelt

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Thales von Milet

Philosophie will hoch hinaus. Der Blick richtet sich nach oben. Das ist nicht ungefährlich. Thales (624/3 – ~548/44), so will es die Sage, schritt versonnen in den Himmel guckend seines Wegs und fiel in eine Brunnengrube – man könnte auch sagen, über die eigenen Füße. Eine trakische Magd soll darüber schadenfroh gelacht haben. Es geschehe ihm ganz Recht, so die Magd: Thales wolle den weiten Himmel erkunden, was aber vor seinen Füßen auf der Erde liege, dafür bleibe er blind.[1] Philosophie sei in ihrer lächerlichen Unbeholfenheit zu nichts nutze und bringe den, der sich ihr (allzu sehr) widmet sogar zu Fall. Philosophen sind arm dran – wenn sie nicht erben, was andere erworben haben, oder von Vermögenden zur „Unterhaltung“ an den Tisch gebeten werden. Thales aber, so berichtet Aristoteles,[2] soll dank seiner Sternbeobachtung, einen fruchtbaren Sommer vorausgesehen haben. Deshalb habe er, im Winter und zu günstigen Preisen, alle Ölpressen in seinen Besitz gebracht. Die reiche Ernte im Sommer und Herbst habe eine große Nachfrage nach Ölpressen ausgelöst und so sei Thales zu einem Vermögen gekommen. Philosophie – so die Selbstbeschwörung der Philosophen – bereichere nicht nur „seelisch“. Wer’s glaubt?! Ob es als besonders weisheitsliebend gelten darf, aus der Not seiner Mitbürger Kapital zu schlagen, mag überdies dahingestellt bleiben.

Aristoteles hatte freilich die Entstehung und Pflege der Philosophie ursprünglich selbst an die Bedingung geknüpft, wirtschaftlich unabhängig oder frei von Not und ohne die Beschwerlichkeiten des täglichen Lebens zu sein. Bedingung für Philosophie ist Muße. Sie hat die Form der Theoria, der Schau der schönen und göttlichen Dinge. Der Philosoph betrachtet den Himmel nicht, um günstige Erntebedingungen vorauszusagen oder vor verheerenden Unwettern zu warnen. Er betrachtet die Gestirne und ihre Ordnung um ihrer selbst willen. Wir bewegen uns in der antiken Welt, die (philosophisch) das gelungene Leben mit der Theoria verknüpft, der Schau der ewigen, göttlichen Ordnung der Welt. Der göttlichen Ordnung gewahr und gerecht zu werden, heißt glücklich leben.

In der christlichen Philosophie bedeutete das, sich von der sinnlichen Welt weg und auf die übersinnliche hinzuwenden. Gott offenbart sich in der Heiligen Schrift, von der aus auch die Welt und die eigene Existenz in ihr zu verstehen ist. Der antiken Akademie und dem Rückzug ins Philosophengärtlein, der sich von den Handlungszwängen der Welt zu schützen sucht, entspricht das christliche Kloster, in der sich der Gläubige auf den Willen Gottes besinnt. Die göttliche Ordnung ist eine heilsgeschichtliche. Die Welt und unser In-der-Welt-Sein versteht sich von ihrem Ende her. Das Wesen erfüllt sich jenseits des diesseitigen, diesigen Daseins.

Die neue Welt

Das ändert sich in der Neuzeit. Die Moderne behauptet einen Vorrang des Praktischen vor dem (bloß) Theoretischen: Theorie ist kein Selbstzweck, sie dient der Praxis und wird technisch. Es gilt der „Primat der praktischen Vernunft“.[3] Das Wesen der Dinge ist nicht ihre Bestimmung in der göttlichen Ordnung, sondern ihre Verwendbarkeit für menschliche Zwecke. Der menschliche Wille ersetzt den göttlichen. Ziel ist nicht die (jenseitige) visio Dei, die Gottesschau, sondern die Gestaltung der Welt nach eigenem Willen. Dem Menschen ist kein Wesensziel gegeben, er setzt sich seine Ziele selbst, autonom. Der Mensch begegnet der Natur, seiner und der Wesen in „seiner“ Welt, neu.

Als ein Gründungsdokument dieses neuen Weltverhältnisses wird gemeinhin Petrarcas kleine Schrift zur Besteigung des Mont Ventoux betrachtet; sie soll, das jedenfalls schreibt Petrarca, noch in der Nacht der Besteigung entstanden sein, nämlich in der Nacht vom 26. auf den 27. April 1336. „Mit der Besteigung des Mont Ventoux beginnt“, so heißt es im Nachwort der von Steinmann herausgebebenen lateinisch-deutschen Ausgabe, „ein neues Natur- und Weltbewußtsein, eine Weltergriffenheit , ja eine Weltverfallenheit, die kühn sich löst von mittelalterlicher Weltverneinung …“. [4] Petrarca ist sich der Neuartigkeit und Ungewöhnlichkeit der Besteigung durchaus bewußt. In dem kleinen Werk, das als Brief an einen seiner Lehrer, nämlich Francesco Dionigi von Borgo San Sepolcro, formuliert ist, gibt er das klar zu verstehen. Die Besteigung eines Berges war nichts, was man um seiner selbst willen tat. Er kontrastiert sein eigenes Vorhaben mit der Besteigung des Haemus, einem Berg in Thessalien, durch Philipp von Makedonien. Der hatte – wie schon die Alpenüberquerung des Hannibal – einen militärischen Sinn.[5] Das Überqueren von Bergen oder das Durchwandern von Wäldern und Landschaften waren Mittel für andere Ziele. In ihnen suchte man nicht eine besondere Form des Naturerlebnisses.

Francesco Petrarca

Anders Petrarca. Der erste Satz der kleinen Schrift bringt das programmatisch auf den Punkt: „Den höchsten Berg dieser Gegend […] habe ich am heutigen Tag, allein vom Drang beseelt, diesen außergewöhnlich hohen Ort zu sehen, bestiegen (altissimum regionis huius montem […] hodierno die, sola videndi insegnem loci altitudinem cupitate ductus, ascendi).“ Im Lateinischen wird das noch etwas klarer: altissimum… ascendi, zum höchsten, das sich in seiner Umgebung zeigt (regionis huis), hinauf, das ist das Ziel. Sein Tun hat keinen weiteren, „höheren“ Grund als den „Drang“ (cupitas) den „außergewöhnlich hohen Ort zu sehen“. Ich will ist die Botschaft. Und das „ich will“ ist eigentlich ein „ich will aber (oder trotz-dem)!“ Ihm wird ja vom Aufstieg abgeraten: es ist ein Hirte, der ihm rät, von seinem Vorhaben abzulassen, weil er vor 50 Jahren aus „demselben Ungestüm jugendlichen Feuers“ den Gipfel selbst erstiegen und von „dort nichts zurückgebracht [habe] außer Reue und Mühsal“ (nihilque inde retulisse preter penitentiam et laborem). Aber wie das Verbot das Verlangen nur noch steigert (crescebat ex prohibitione cupitas), so bestärkt die Mahnung des Alten nur seinen Tatendrang. Aufs Hier und Jetzt kommt es an (hodierno die), alles andere wird sich finden.

Er geht schließlich mit dem Bruder los. Sie lassen die vertraute Welt zurück und beginnen, nur mit dem Nötigsten ausgerüstet, den Aufstieg. Der Bruder ist weniger ambitioniert, lässt sich aber von keiner Beschwerlichkeit schrecken und läuft „straight ahead“ den steilen Anstieg hinauf. Dagegen sucht Petrarca einen einfacheren, leichteren Weg. „Als er mich zurückrief und mir den richtigeren Weg bezeichnete, antwortete ich, ich hoffte, der Zugang auf der anderen Seite sei leichter, und ich schreckte nicht vor dem längeren Weg zurück, da ich weniger steil auf ihm vorwärts schreiten könne.“ Er nimmt Umwege in Kauf, um „leichter“ hinaufzukommen. Letztendlich scheitert er dabei und muss „einlenken“ und sich wieder dem wartenden Bruder anschließen. Aber kaum geraten sie erneut in steile Abschnitte, sucht er es sich wieder mit Umwegen leicht zu machen, scheitert dabei aber erneut. Das wiederholt sich dreimal! Dann erst erkennt er „im Gelächter des Bruders“, dass er den „lästigen Aufstieg“ nur aufschieben kann, „aber durch den menschlichen Geist die Wirklichkeit aber nicht aufgehoben“ wird.

Petrarca wird „sein“ Aufstieg“ zum Sinnbild des menschlichen Lebens. Er schwingt sich „auf den Flügeln des Geistes vom Körperlichen [der Ersteigung des Mont Ventoux] zum Unkörperlichen hinüber“ und geht mit sich ins Gericht: „Was du heute so oft bei der Besteigung dieses Berges erfahren hast, wisse, daß dies dir und vielen widerfährt, die das selige Leben zu gewinnen suchen […] In der Tat liegt das Leben, das man das selige (beatam) nennt, auf hohem Gipfel, und ein schmaler Pfad, so heißt es, führt zu ihm hin. Auch viele Hügel ragen dazwischen auf, und von Tugend zu Tugend muß man mit erhabenen Schritten wandeln; auf dem Gipfel ist das Ende aller Dinge und des Weges Ziel, auf das hin unsere Pilgerreise ausgerichtet ist.“ Er zeiht sich selbst, geglaubt zu haben, es sich einfacher machen zu können. „Gleichwohl mußt Du […] unter der Last der unselig aufgeschobenen Strapaze zum Gipfel des seligen Lebens selber emporsteigen“ oder aber man sinkt „in den Talkesseln [seiner] Sünden schlaff“ nieder und findet dort „Finsternis und Schatten des Todes“. Die Besteigung des Mont Ventoux wird Sinnbild der Pilgerreise des Lebens.

Schließlich erreichen sie den Gipfel – reichlich erschöpft und dank der Eskapaden Petrarcas sehr spät. Sie können nicht lange verweilen. Er blickt suchend nach allen Richtungen in die Weite. Sein Blick geht nach Südosten, nach Italien, in das er sich zurücksehnt. Dort war er aufgewachsen und dort hatte er studiert. Die Weite des Raums wird ihm zur Besinnung auf die eigene Lebensgeschichte und auf das, was er aus seinem Leben noch machen will. Der Blick gen Westen ist ein Blick zurück auf den eigenen „Aufstieg“, der ihn eigentlich zum Aufbruch mahnt. Versonnen greift er zu dem Buch, von dem er sich auch im Aufstieg nicht trennen wollte, und liest darin auf einer zufällig aufgeschlagenen Seite: „Und es gehen die Menschen hin, zu bewundern die Höhen der Berge und die gewaltigen Fluten des Meeres und das Fließen der breitesten Ströme und des Ozeans Umlauf und die  Kreisbahnen der Gestirne – und verlassen dabei sich selbst.“ Es ist eine Stelle aus dem zehnten Buch der Confessiones des Augustinus. „Ich war betäubt, ich gesteh es [und] schloß das Buch, zornig auf mich selbst, daß ich jetzt noch Irdisches bewunderte (terrestria mirarer), ich der ich schon längst selbst von Philosophen der Heiden hätte lernen müssen, daß nichts bewunderswert ist außer der Seele. Im Vergleich zu ihrer Größe ist nichts groß.

Petrarca ist enttäuscht. Vor allem von sich. Er hat sich, seine Seele, ans Irdische verloren. Gemeinhin wird in die Bewunderung des „Irdischen“, deren Petrarca sich schuldig glaubt, mit der neuen Naturerfahrung gleichgesetzt. Die Hinwendung zum Irdischen drücke sich in der Lust aus, die ihm nun das Erlebnis der Höhe der Berge, der Weite des Meeres, der Lieblichkeit der Landschaft und der Erhabenheit des Himmels verschaffe. Davon ist aber bei Petrarca gar nichts zu lesen. Im Gegenteil. „Zuerst stand ich, durch den ungewohnten Hauch der Luft und die ganz freie Rundsicht bewegt, einem Betäubten gleich da (stupenti similis steti).“ Er ist am Ziel, kann damit aber eigentlich gar nichts anfangen. Es gibt kein voran mehr, nur noch ein zurück. Kein hinauf mehr, nur noch ein hinunter. Er schaut zurück (respicio ) und das heißt immer nach unten. „Ich seufzte, ich gestehe es, nach italischer Luft, die mehr dem Geist als den Augen sich darbot, und ein unwiderstehliches, brennendes Verlangen erfaßte mich, sowohl Freund als Vaterland wiederzusehen.“ Das ist alles andere als der Ausdruck eines emphatischen und beglückenden Naturerlebnis, in dem sich eine neue ästhetische Naturerfahrung und der selbstvergessene Genuss der freien Natur kundtut. Auch wenn wir, entgegen dessen, was Petrarca selbst schreibt, in seinem Gipfelerlebnis einen neuartigen ästhetischem Genuss der freien Landschaft erkennen könnten, ist die Botschaft Petrarcas doch ziemlich klar: „schweigend dachte ich darüber nach, wie groß bei den Menschen der Mangel an Einsicht sei, so daß sie sich unter Vernachlässigung des edelsten Teils ihres Selbst in vielerlei Dinge verzetteln und außerhalb suchen, was drinnen zu finden gewesen wäre“. Nicht der Mont Ventoux, Augustinus liefert die entscheidende Einsicht. Auf dem Rückweg erscheint ihm – wie dem Hirten vor 50 Jahren – sein Verlangen zur Besteigung irrig und sinnlos. Er hat sich verstiegen. Keine Feier der neuen Erfahrung, sondern Rückbesinnung auf die alte Wahrheit ist die Botschaft Petrarcas.

Aber nicht der Gegenstand der Betrachtung, dem sich seine Seele zuwendet, sondern der Sinnzusammenhang dieser Zuwendung, ist das Motiv seiner Selbstkritik. Augustinus macht im zehnten Buch den „Unterschied zwischen dem Gebrauch der Sinne zur Lust und dem zur Neugier (curiositas): die Lust geht auf das Schöne aus (voluptas pulchra sectatur), das Wohlklingende, Duftende, Schmackhafte, lindig zu Befühlende, die Neugier aber, probierenshalber (temptandi causa), auch aufs Gegenteil davon, nicht um Widerwärtiges auf sich zu nehmen, sondern aus dem Gelüst, zu erfahren und kennen zu lernen.“ Die Neugier ist eine Gier auf immer Neues. Sie konzentriert den Menschen nicht auf das Schöne (und Gute), bei Augustinus die göttliche Schöpfung, das er wahrnehmen und genießen kann. Sie ist ein „krankhaftes Verlangen“ (morbus cupiditātis) etwas zu tun, das „für nichts gut ist“ und uns nicht guttut, so z.B. die gebannte Betrachtung von Grauenvollem, ohne durch ein (höheres) Gut geleitet zu sein, etwa um es verstehend zukünftig verhindern zu können. Die Neugier treibt Menschen z.B. dazu, so Augustinus, sich zerfetzte Leichen anzusehen: dann „laufen sie hin, um sich zu entsetzen, zu erbleichen. Sie fürchten sogar, davon zu träumen, – grad als hätte im Wachen einer sie gezwungen hinzusehen“. Nicht die Zuwendung zu irdischen Dingen ist von Übel, sondern das Sich-Verlieren in ihnen. Die Neugierde begegnet der Welt nicht ad salutem und ausgerichtet an einer gelingenden Lebensführung. Das Sehen und Wissen löst sich vom guten Leben ab und verselbständigt sich. Die Dinge begegnen nicht bedeutsam und werden zu mehr oder weniger großen Reizen für die Betätigung der Sinnesvermögen. Es ist die Hybris des Empfindens, die das aus den Bahnen geratene Leben beherrscht.

Das alles ist alles andere als der Genuss einer neuartige Naturerfahrung. Es ist vielmehr ihre Kritik. Die „Revolution der Denkungsart“, die man in der Renaissance-Erfahrung Petrarcas zu sehen glaubt, wird nicht gefeiert, vor ihr wird gewarnt. Hier bekennt einer, dass er auf gefährlichen Abwegen unterwegs war, die ihn vom menschlichen Glück wegführten. Es macht sich Ernüchterung breit.

Der Mythos vom „heiligen Berg“

Mont Ventoux

Ich hab’ den Mont Ventoux zweimal „erklommen“. Natürlich mit dem Rad. Wegen des Mythos. Oben hieß es dann geschafft. Hatten sich die Anstrengungen gelohnt? Na ja, wegen des Mythos halt.

Es geht dabei nicht um den Ausblick oder die Naturerfahrung des gelegentlich tatsächlich mächtig windigen Gipfels. In diesen Genuss könnte man ja auch per Auto oder Omnibus kommen. Die Erfahrung ist die des Aufstiegs und damit in gewissem Sinne auch die Erfahrung der eigenen Natur. Es gilt Hindernisse zu überwinden, sich an den Anstrengungen des Aufstiegs zu beweisen. Offenbar sind es genau diese Anstrengungen, die den Mythos ausmachen.

Natürlich schwingt hier ein kleiner Selbstbetrug mit. Petrarca wollte es sich durch mancherlei Umwege so leicht wie möglich machen, aber dennoch den Berg bezwungen haben. Die Hobby-Radler, denen es vor allem aufs Ankommen ankommt, wollen sich selbst im Lichte des Mythos sehen, der diesen Anstieg umgibt. Der alles entscheidende Unterschied zu den wahren Helden des „heiligen Bergs“ des Radsports ist freilich der Rennmodus. Wenn sich Freizeitfahrer ohne Blick auf die Uhr den Giganten der Provence hochquälen, dann werden sie damit nicht zu Giganten des Radsports. Zum Helden wird man nur, wenn man ihn im Wettkampfmodus gegen andere Helden erstürmt. Und doch ist der Vergleich, den der radsportbegeisterte Amateur mit seinen bewunderten Radsporthelden zieht, nicht ganz daneben. Es gibt eine strukturelle Ähnlichkeit, die das Erklimmen des Mont Ventoux z.B. vom „vormodernen“ Welt- und Selbstverständnis unterscheidet.

Für den „vormodernen“ Menschen musste es einen guten Grund geben, sein Lebensumfeld, Haus und Hof (oikos) und die sozial-politische Gemeinschaft (polis), zu verlassen. Der Aufbruch musste das Leben besser machen. Petrarca vergleicht die Mühen seines Aufstiegs selbst mit einer Pilgerreise, in dem es dem Pilger um die eigene Seligkeit geht, die aller Mühen wert sind. Das unterscheidet ihn vom modernen Naturforscher, der vielmehr dem Rennfahrer gleicht, der sich den Berg hochquält, um sich mit anderen zu messen und sich zu beweisen. Nicht das Ziel als solches, sondern die „Bewältigung“ des Weges ist der vorrangige Zweck des Aufstiegs. Die Erfahrungen der modernen Himmelstürmer sind von gänzlich anderer Art als die der antiken Himmelsgucker und Sterndeuter. Ihnen ging um die beglückende Schau göttlicher Ordnung, jenen nur um Selbstbestätigung.

So unterscheidet sich auch die moderne Pilgerreise von der, die Gläubige seit Jahrhunderten unternahmen. Man nahm Anstrengungen auf sich, um zum Ziel zu kommen, von dem man sich vieles erwartete. Wer im 12./13. Jahrhundert eine Pilgerreise unternahm, war meist lange und sehr beschwerlich unterwegs. Aber er glaubte, dass er am Ziel reichlich für seine Mühen belohnt würde. Die Pilgerreise war Teil seiner Heilsgeschichte, nicht die Erprobung seiner Belastbarkeit. Für den modernen Jakobspilger geht es um die (sportliche) Anstrengung, die Selbstfindung und -überwindung. Ihnen gibt der Weg etwas, nicht das Ziel. Nur die wenigsten glauben an das Heiligtum, das das Ziel ihrer Pilgerreise ist. Welcher moderne Jakobsweg-Läufer glaubt an die Heilswirkung der Berührung der Jakobusstatue oder unternimmt es gar, sie ehrfürchtig zu küssen? Der „wahre“ Pilger sucht die Begegnung mit dem Heiligen, an dem er sein Leben auszurichten sucht. Gleiches gilt noch heute für die Haddsch, dem Gebot, jeder (erwachsene) Mensch, ob Mann oder Frau, hat nach Möglichkeit eine Pilgerreise nach Mekka anzutreten. [6] Nicht die Reise selbst reinigt, sondern die Prozession vor Ort, dem Gang von Mekka nach Arafat, mit der Bitte um Vergebung, der Steinigung des Teufels und der Rückkehr nach Mekka mit siebenmaligem Umschreiten der Kaaba.

Das Ziel des Lebens

Petrarca macht die Erfahrung dieses Unterschieds. Er strebt modern zu einem herausfordernden Ziel und muss erkennen, dass ihn das nicht glücklich machen kann. Wir wissen nicht, ob das, was Petrarca beschreibt, tatsächlich stattgefunden hat, aber er schildert die Erfahrung einer Wendemarke, die ihn motiviert „zurückzugehen“. Petrarca betont, dass er den Brief an seinen Lehrer noch in der Nacht des Abstiegs „in hastiger Eile“ verfasst hat. Dagegen sind einige Zweifel vorgebracht worden. Insbesondere die durchdachte Komposition des Briefs lässt daran zweifeln, dass das Werk „aus dem Stegreif“ geschrieben wurde (raptim et ex tempore). Die zufällig aufgeschlagene und am Ende wegweisende Stelle aus dem Confessiones des Augustinus greift ausdrücklich eine vergleichbare Erfahrung von Augustinus selbst und dem Heiligen Antonius auf, die (durch göttliche Vorsehung) beim Aufschlagen der Bibel auf Stellen gestoßen sind, die ihrem Leben eine neue Bahn gaben.

Petrarca schildert jedenfalls, wie die Ziele der neuen Welt ins Leere laufen und der alten Aufgabe einer glücklichen Lebensführung widerstreiten. Die Metaphorik der Pilgerreise des Lebens und der Anstrengung den „Gipfel des seligen Lebens“ zu erklimmen ist irreführend. Das gute (selige) Leben ist kein Ziel wie das Ersteigen eines Berges. Unser Leben zu führen, fordert uns heraus. Das gute Leben besteht freilich nicht im Erreichen eines Ziels, es ist selbst das „Ziel“. Uns geht es im Leben um uns selbst, ums gute Leben. Würde die Metaphorik des „Gipfels des seligen Lebens“ greifen, dann müsste Petrarca lebenslang in diesen windigen Höhen verbringen. Der freilich notwendige Abstieg ins wirkliche Leben zeigt, dass der Vergleich in die Irre führt. Wer sein Leben dem Erreichen eines Ziels unterstellt, fällt in ein Loch, wenn er es erreicht. Das Leben hat kein anderes Ziel als es gut zu führen. Ein Leben, das einem Ziel nachrennt, erschöpft sich darin, es zu erreichen. Auf dem Gipfel führen alle Wege nur nach unten.

Es gibt ein irritierendes Dokument dieser „Zielverirrung“, nämlich die Pressekonferenz nach dem 41. Grand Prix Sieg von Michael Schumacher, die das eindrücklich zeigt. Michael Schumacher hatte ein großes Idol, dem er nacheiferte: Ayrton Senna. Senna gewann 41. Grand Prix Titel und zog am 10.09. 2000 mit seinem Idol gleich. Er hatte damit alles erreicht, was er sich vorgenommen hatte. In der Pressekonferenz wird er zunächst danach gefragt, was es für ihn bedeute, vor heimischem Publikum gewonnen zu haben, nämlich als Ferrari Fahrer im italienischen Monza. Darauf antwortet Schumacher noch ziemlich gefasst. Aber dann wird ausdrücklich der Vergleich mit Ayrton Senna gezogen und Michael Schumacher bricht in einen quälenden Weinkrampf aus. Er muss nach dem 41. Sieg weiterleben und -fahren. Neue, aufs Neue herausfordernde Ziele braucht der moderne Mann, an denen er sich beweisen kann. Wer alle Achttausender bestiegen hat, der muss die Antarktis durchqueren. Und immer so weiter …. bis das Leben ein ungutes Ende nimmt.

Pressekonferenz nach dem 41. Grand Prix Sieg von Michael Schumacher am 10.09.2000 in Monza

Glück (εὐδαιμονία, eudaimonia, beatitudo) ist ein hohes Gut, traditionell gilt es als das höchste Gut (summum bonum), aber es ist kein Ziel wie das Erreichen eines Gipfels oder der Gewinn von 41 Grand Prix Titeln. Wir müssen das Leben und seine Güter anders verstehen und da hilft es, sich mit Petrarca zurückzubesinnen.

 

Exkurs: Warum heißt der Mont Ventoux eigentlich so?

Hmm, keine Ahnung? Vielleicht wegen der luftigen Höhe? Have a look!

[1] So die Version in Platons Theaitetos 174a.

[2] Politica 1259a

[3] So Kant in der Kritik der praktischen Vernunft (1788), A 216ff.

[4] Francesco Petrarca, Die Besteigung des Mont Ventoux, lat.-dt, (1995), S. 40.

[5] Petrarca verweist auf Livius, bei dem über das Motiv von Philipp spekuliert wird. Man sucht nach Gründen, weil niemand davon ausging, dass er es einfach so gemacht hat.

[6]Und die Menschen sind Gott gegenüber verpflichtet, die Wallfahrt nach dem Haus zu machen – soweit sie dazu eine Möglichkeit finden.“ (Sure 3, Vers 97)

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