Ovids Metamorphosen VI: Die Kunst, sich in der Kunst nicht zu verlieren

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Und wieder kommt es zum Wettkampf mit einer Gottheit – und natürlich ist der Ausgang wieder klar. Nicht ob die Götter siegen, sondern wie und was sich in ihrem Sieg zeigt, macht das Hörenswerte der dichterischen Sage aus. Ovid lässt das sechste Buch mit Athene beginnen,[1] der Göttin der Weisheit und der Künste, die sich durch eine Sterbliche herausgefordert sieht.

Athene

Athene kommt manchmal als eine eitle Göttin daher. Als „Kopfgeburt“ ist sie dafür besonders anfällig. Zeus hatte Metis, die Göttin der Klugheit, verschlungen, weil er befürchtete, dass ein Sohn der Metis mächtiger sein würde als er selbst. Er wollte sich mit Metis vereinigen und musste sie, um seiner Herrschaft willen, in sich aufnehmen. Aus dieser Verbindung erwuchs Athene, die sprang bereits in voller Rüstung aus dem Kopf des Zeus. Sie will nicht nur loben und tadeln, sie will selbst gelobt werden (laudare parum est; laudemur et ipsae numina nec sperni sine poena nostra sinamus).[2]

WIR LESEN OVID
Ovid – WikiCommons

Ovids Metamorphosen sind ein lesenswerter Klassiker. Wir lesen Stück für Stück die fünfzehn Bücher in kleinen überschaubaren Abschnitten. Können wir Philosophisches zur Zeit daraus lernen? Finden Sie’s raus und lesen Sie mit! Das geschah bisher.

Athene stösst sich an dem, was sie von der sterblichen Arachne hören muss. Sie wird wegen ihrer Kunst hochgelobt. Ovid betont, dass „nicht ihr Stand oder die Herkunft ihres Geschlechts“ sie berühmt macht – stammt sie doch aus „kleinen“ Verhältnissen –, ihre Berühmtheit verdankt sie ihrer Kunst[3]. Selbst Nymphen kommen von weit her, um ihre erstaunlichen Kunstwerke (opus admirabile) bestaunen. „Man hätte schließen müssen, Pallas selbst sei ihre Lehrmeisterin gewesen.“ Denn als Göttin der Künste ist sie zugleich Herrin der Spinn- und Webkunst. Im kunstvollen Spinnen und Weben wird ihr Wesen als Göttin der Weisheit und des Krieges ansichtig: ihr Kampf ist nicht das tumbe Drauf- und wilde Umsichschlagen (ihres Halbbruders Ares), sondern das kluge strategische Gespinst, in das sie den Gegner verwickelt.

Aber Arachne erkennt Athene nicht als ihre Lehrmeisterin an. Das Lob, dass in ihrer Kunst die Göttin aufscheine, empfindet sich als Kränkung. Sie selbst sei die Quelle ihrer Kunst und aus eigener Kraft brächte sie ihre Werke hervor. Athene mahnt sie in der Gestalt einer lebenserfahrenen Greisin zur Mäßigung: sie möge nach höchstem Ruhm unter Sterblichen streben, aber sich nicht mit Göttern messen. Das scheint plausibel. Aber gibt es in der Kunst Wettkampfklassen? Wir können darüber staunen, wie gut ein achtjähriger zeichnen kann. Für die Schönheit eines Bildes aber können wir keine Altersklassen anlegen. Arachne geht es um „ihre“ Kunst und in der strebt sie nach Perfektion.

Und so kommt es zum Wettkampf, der eigentlich gar keiner ist. Anders als beim vorausgegangen Wettkampf der Pieriden mit den Musen am Ende des fünften Buches, gibt es hier keinen Richter, der über den Ausgang des Wettkampfs entscheiden könnte. Arachne fürchtet den Vergleich nicht, behauptet aber auch nicht ihre Überlegenheit. Was ist größere Kunst, Bachs h-moll Messe oder Beethovens Missa Solemnis? Shakespeares Macbeth oder Goethes Faust? Schönheit lässt sich nicht steigern, sie ist vollkommen.

Natürlich schafft Athene ein vollkommenes Kunstwerk – was könnte sie als Göttin auch anderes hervorbringen. Athene zeigt sich selbst. Sie zeigt sich als strahlende Siegerin im Wettkampf mit Poseidon, einem der göttlichen Weltenherrscher, der sich mit seinen Brüdern Zeus und Hades die Herrschaft über die Welt teilt. Im Streit um die Stadt Athen zeigt sie sich dem mächtigen Poseidon überlegen. Seine Macht ist wie das Meer, das er beherrscht, ungeheuer und wechselhaft, ungeordnet und wild. Er zählt nicht zu den hellsten Götterköpfen. Um für sich die Schutzherrschaft über die Stadt zu gewinnen, bietet er den Athenern eine unversiegbare Quelle. Resolut und trotzig stampft er mit dem Dreizack auf den Fels, aus dem dann freilich salziges Meerwasser fließt. Athene dagegen schenkt den Athenern den Ölbaum, der ihnen nicht nur die Frucht und ihr Öl, sondern zugleich das Holz liefert. Auf ihrem Webstück zeigt sie ihren Sieg vor den versammelten olympischen Göttern und schmückt die Ecken mit vier mahnenden Darstellungen, die zeigen wie es Menschen ergeht, die sich mit Göttern messen wollen.

Aber auch Arachne zeigt vollendete Kunst: „Nicht einmal Pallas, nicht einmal der Neid selbst, könnte dieses Werk tadeln“ (non illud Pallas, non illud carpere Livor possit opus).[4] Und so stehen sich am Ende zwei makellose Werke gegenüber, die „nur“ ihre Sicht auf die Welt unterscheidet. Arachne zeichnet ein verächtliches Bild von den Göttern, sie zeigt sie als betrügende, sich verstellende und Unglück bringende Gestalten. Ovid spricht von einem „Sündenregister der Himmlischen“ (celestina crimina).

Die Verwandlung der Arachne (1861) von Gustave Doré (1832-1883)

Das kann Athene nicht hinnehmen. Die gotteslästerlichen Darstellungen lösen den gerechten Zorn (ira iusta) der Göttin aus. Es braucht keine Jury, die über die Kunstfertigkeit der Arbeiten entscheidet. Arachne richtet sich durch das, was sie zum Ausdruck bringt selbst. Athene zerreißt das „bunte Gewebe“ (rupit pictas, caelestia crimina, vestes) und schlägt Arachne mit dem „Weberschiffchen“ drei- viermal gegen die Stirn – wohl als fühlbaren Hinweis, sie möge aus ihrer Verblendung erwachen und sich auf ihr Tun und ihre menschliche Existenz besinnen. Aber Arachne will auf diesen Tadel nicht hören und schnürt „sich stolz mit einer Schlinge die Kehle zu“. Sie möchte lieber sterben als sich selbst durch die Göttin belehrt und bevormundet zu sehen. Und nun geschieht etwas unerwartetes: „Mitleidig (miserata)[5] stützte Pallas die Hängende und sprach: ‚Bleib zwar am Leben, aber hänge, Vermessene (inproba)! Dieselbe Strafe soll als Gesetz für dein Geschlecht … gelten‘“ und so wird sie in eine Spinne verwandelt „und übt ihre frühere Webkunst nun als Spinne aus“ (et antiquas exercet aranea telas).

Götter verdienen Lob und verlangen Unterwerfung. Lob freilich hat leicht etwas Anmaßendes. Wir suchen das Lob des Meisters, nicht das des Murksers.[6] Loben steht der Vorzüglichkeit des Meisters zu.[7] Die Göttin sucht nicht das Lob der Sterblichen. Das „Gotteslob“ ist demütige Anerkennung des Gottes. Nicht dass er diese Anerkennung bräuchte. Das Gotteslob dient nicht dem Gott, dem es gilt, sondern dem Lobpreisenden selbst. Es bringt die Selbsterkenntnis zum Ausdruck, selbst kein Gott zu sein und ist gelebtes nosce te ipsum, γνῶθι σεαυτόν.

Bleibt die preisende Anerkennung aus, dann stimmt etwas im Gefüge von Gott und der Welt nicht. Der Mensch vergeht sich. Zu seinem Wesen als vernünftiges Lebewesen gehört (animal rationale, ζῷον λόγον ἔχον), dass er im Bezug auf das Göttliche über sich hinaus geht, sich transzendiert und auf das Göttliche hört. Er ist ein Gottes-Höriger oder er ist „nur“ ein sprachloses Tier. Kunst ohne Transzendenz ist Natur.

Darin liegt etwas unabwendbar Tragisches: im Hören auf (das Göttliche), müssen wir uns auf das Gehörte verstehen. Wir sind herausgefordert und fordern heraus. Die Überlegenheit des Göttlichen zeigt sich nur in der schmerzlich erfahrenen Unterlegenheit der Sterblichen. Die Götter zeigen ihre Überlegenheit und dass dies von ihnen gefordert wird, ist der Grund ihrer „Strafe“.

Ovid sieht sich wohl in der Nachfolge Arachnes. Im fünften Buch hat er den göttlichen Musen die Sprache gegeben – er hat für sie und nicht durch sie gesprochen. Mit der Erzählung des „Wettstreits“ zwischen Arachne und Athene gelingt ihm aber das Kunststück „wahrer“ Kunst. Durch die Erzählung der Bestrafung Arachnes entgeht er zugleich der Strafe. Jeder Künstler will (vollkommen) Schönes hervorbringen – und sich damit den Göttern gleichstellen. Der Dichter Ovid erzählt aber zugleich von der degenerierenden Verwandlung, die in der Selbstüberschätzung der Kunst droht. Auch das Schöne, das der Künstler schafft, ist nicht das Zentrum der Welt. Es ist nur vollkommen, wenn es über sich hinausweist.

Velázquez als trotziger Erbe Arachnes

Auch Velázquez weiß sich wohl als trotziger Erbe Archanes. Der Sage der Arachne ist auch eines der geheimnisvollen Bilder des späten Velázquez gewidmet. Wie in dem geheimnisumwehten Las Minnas geht es wohl um die Kunst und ihre Rolle im Leben.

Las Meninas (1656) von Diego Velázquez (1599-1660)

In Las Minnas geht alles um die Malkunst, das Wesen des Bilds, der Abbildung und vor allem der Repräsentation.[8] Der Maler – er überragt alle anderen Figuren – wird mit seiner Kunst, der Malerei, zum Ausdruck dessen, was die Wirklichkeit ausmacht, nämlich vergegenwärtigende Repräsentation. Das „Wirkliche“ jenseits des Bilds wird ins Bild hineingezogen und mit ihm verschmolzen. Irgendwo zwischen uns, den Betrachtern und dem Bild, stehen diejenigen, die ins Bild gebracht werden sollen, das Königspaar, das wir im Spiegelbild, das, selbst einem Kunstwerk gleichend selbst freilich keines ist. Es entspringt nicht der schöpfenden Hand des Künstlers, der dem Bild Bedeutung gibt und das Abgebildete bedeutsam repräsentiert. Die Malerei beansprucht nicht nur einen Platz unter den „freien Künsten“ (artes liberales), sondern sieht sich unter ihnen besonders ausgezeichnet. „Vorsicht Diego“, möchte man rufen, „denk an Arachne!“

Die Spinnerinnen oder Fabel der Arachne (1658) von Diego Velázquez (1599-1660)

Und das tut er. In den Spinnerinnen oder Der Sage der Arachne zeigt er uns eine Werkstatt, in der Wolle zu Fäden gesponnen werden. Und man sieht in einen Raum, der in hellem Licht erstrahlt und in dem Athene in voller Rüstung und mit erhobenem Arm triumphierend mahnt. Arachne steht vor ihrem Webstück, das durch die dargestellte Szene, dem Raub der Europa, auf die bei Ovid gegebene Beschreibung verweist.[9] Sie macht eine Geste des beschwichtigenden Einverständnis der Art des „Hier stehe ich und kann nicht anders“. Sie werden von drei Frauen umstanden, die in das Geschehen irgendwie eingebunden scheinen. Neben der Frau im gelben Kleid, die dicht bei Athene steht und das Geschehen aufmerksam verfolgt, erkennen wir ein Musikinstrument, wohl eine Viola da gamba, die ihr zugeordnet ist. So dürfen wir schließen, dass neben der „bildenden“ Kunst Arachnes (und Velázquez’) die Damen wohl für die artes liberales stehen, nämlich der der Musik, der Architektur und Bildhauerei.[10] Entscheidend ist freilich nicht, die dargestellten artes liberales genau zu bestimmen. Der Schlüssel zum Bild ist die junge Frau im rosafarbenen Kleid, die im hell erleuchteten hinteren Raum rechts außen steht. Sie blickt in Richtung Betrachter und auf das Geschehen in der Werkstatt. Dort sind im Mittelpunkt des Bildes drei Frauen mit Spinnarbeiten beschäftigt und werden von zwei jüngeren Frauen (rechts und links) unterstützt. Es sind die drei Schicksalsgöttinnen, die Moiren, die uns Sterblichen den Lebensfaden zuteilen: Klotho, die Spinnerin, Lachesis, die Zuteilerin und Atropos, die Unabwendbare, die den Lebensfaden abschneidet und dem Leben ein Ende gibt. Es ist ein trauriges Werk, das die drei zu vollbringen haben, in dem der Anfang auf unabwendbare Weise zum Ende bestimmt ist. Besonders eindrucksvoll Klotho – gleichsam eine Marienerscheinung –, die Frau mit Kopftuch am Spinnrad. Sie hält das Rad in Bewegung und lässt durch die Finger der linken Hand den Spinnfaden laufen. Sie wendet sich in einem Ausdruck fatalistischer Melancholie der jungen Frau zu, die sie vermutlich angesprochen hat, und die einen Vorhang zur Seite schiebt – gleich so als würde nun ein Stück auf dem Theater beginnen.[11] Ihr gegenüber wickelt Lachesis den gesponnenen Faden zu einer Lebenszeit auf. Wir sehen sie nur von hinten. Auf sie fällt das Licht aus dem Rückraum und rückt sie ins Helle. Das Leben steht im Lichte der Kunst – aber noch so viel göttliches Licht kann an seinem Ende nichts ändern. Zwischen den beiden kauert in der Mitte des Bildes Atropos, deren Gesicht im eigenen Schatten versinkt. Sie hat einen Holzwerkzeug in der Linken und scheint lose Wollstücke vom Boden aufzulesen.

Der Blick der jungen Frau aus dem „Kunstraum“ zurück auf uns und die Schicksalshaftigkeit des Lebens relativiert die Bedeutung der Kunst und gibt ihr dennoch erst ihren tiefen Sinn. Über sich hinaus zu gehen ist vor allem für die wichtig, die es zwangsläufig müssen. Die Sterblichkeit des Lebens gibt uns den Auftrag, es mit aller Kunst zu führen.

Demnächst

Nicht nur die Kunst überschätzt sich im Hervorbringen von Neuem. Niobe ist allzu stolz auf ihre Kinder, was denen und ihr nicht gut bekommt.

 

[1] Und damit der zweiten Pentade. Auf der Suche nach einer Struktur des Gesamtwerks unterscheidet man die fünfzehn Bücher in drei Pentaden, Fünfergruppen. Ovid selbst hat in der Tristia von „dreimal fünf Buchrollen“ gesprochen (ter quinque volumina, cf. 1.1.117 und 3.14.19). Die Verwandlungen der ersten Pentade ist eher an den Göttermythen, die der zweiten an den Heroen, während eher die dritte der „historischen“ Zeit ab dem Trojanischen Krieg zugeschriebenen widergibt.

[2] VI 3f.

[3] VI 7f.: non illa loco neque origine gentis / clara, sed arte fuit.

[4] VI 129f.

[5] miserata leitet sich von miserari her: etwas beklagen. Athene beklagt die Uneinsichtigkeit für das, was den Menschen ausmacht.

[6] Durch den Falschen gelobt zu werden, kommt fast einem Tadel gleich. Wir antworten darauf unwillig und trotzig: „Ach, Du hast doch keine Ahnung!“.

[7] Jedes Kompliment schmeichelt immer auch dem, der es gibt. Komplimente beruhen von akzeptierten, nicht selten hierarchischen Umgangsformen: Der Chef gibt der Sekretärin welche, nicht umgekehrt. Unvermittelte Komplimente stoßen uns auf und wir scheuen deshalb auch zurück, Komplimente einfach so zu geben. Nicht selten bringt es unterschwellig zum Ausdruck, dass man doch sehr überrascht ist, den anderen in so guter Form zu sehen. Dort, wo man selbst ein Lob oder erwartet, ist man enttäuscht, wenn die erwartete Anerkennung ausbleibt. Wer die Frage, „Na, wie war ich?“ stellt, der hat’s dann wohl auch nötig.

[8] Siehe dazu die richtungsweisende Interpretation von Michel Foucault in seiner Ordnung der Dinge, Eine Archäologie der Humanwissenschaften, 1974, 1. Kap., S. 31ff.

[9] Velázquez referiert hier auf Tizians Raub der Europa (1562), das damals noch in Madrid war und das er kannte und bewunderte.

[10] Eine eindeutige Zuordnung ist wohl nicht zu erkennen. Es reicht meines Erachtens mit dem Musikinstrument überhaupt den Hinweis auf die Künste bekommen zu haben.

[11] Diese Melancholie kennzeichnet auch Maria, die weiß, das ihr Kind sich selbst zum Opfer bestimmt und am Kreuz endet.

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