Alle Geschichten haben einen Anfang. „Es war einmal“ ist nicht der schlechteste Beginn einer Geschichte. Wer nun bei „Es war einmal ein Müller, der hatte drei Söhne…“[1] fragt, „Warum?“ oder „Was hat er vorher gemacht und waren seine Großeltern auch Müller?“, der lässt sich nicht auf die Geschichte ein. Er weiß eben nicht – und kann es nicht wissen –, was erzählt werden soll, also z.B. über eine vermeintlich mickrige Erbschaft, die sich am Ende als ganz besondere erweist. Den Anfang einer Geschichte kann man nur durch ihr Ende verstehen: ja, so fing das alles an. Der Anfang schielt auf dieses „das“, von dem er Anfang ist.
Weltgeschichte
Wer Weltgeschichte schreiben will, der muss eine Vorstellung davon haben, was die Welt ausmacht, um sagen zu können, wie sie anfing. Sie ist ganz grob gesagt das, worin wir leben. Was wir jetzt wahrnehmen, das hat eine Geschichte und wir hoffen, uns und unsere Welt besser zu verstehen, wenn wir wissen, wie das alles so geworden ist.
Griechisch heißt das Kosmogonie, also Vorstellungen über die Entstehung des Kosmos. Kosmos ist nicht der unendliche, weitgehend leere und per se sinnfreie Weltraum. Kosmos (κόσμος) meint im Griechischen Ordnung, aber auch Schmuck und Glanz, nämlich eine sichtbare, entgegenscheinende, um nicht zu sagen strahlende Ordnung.[2] Das mag uns „Moderne“ zunächst überraschen. Wir sind geneigt das einem „mythologischen Weltbild“ zuzurechnen, in allem und der ganzen Welt eine sie bestimmende göttliche Ordnung sehen will. Aber auch dem modernen, physikalistisch-naturalistischen Weltbild ist das nicht ganz fern. Die Welt wird bestimmt durch die Naturgesetze, die sich – das wissen wir seit Newton – im Fall des Apfels vom Baum genauso ausdrücken wie in der Bewegung der Planeten und ganzer Galaxien.
Welt ist immer ein geordnetes Ganzes. Im Grimmsche Wörterbuch lesen wir:[3]
überall, wo der sprecher auf ein abgeschlossenes ganzes, auf universale fülle, welcher art auch immer, zielt, springt das wort welt als bezeichnung ein: für ‚einen in sich geschlossenen bezirk verschiedener art, der in seiner eigenständigkeit und eigengesetzlichkeit gleichsam ein all im kleinen darstellt‘ […], ‚die ganzheit eines geistigen (oder halbkonkreten) bereiches‘ […], ‚die gesamtheit der sinnlich und geistig erfaszbaren erscheinungen und sachverhalte‘ […], ‚allumfassende menge, fülle, hohes (kosmisches) masz‘ […], um nur die wichtigsten, von welt umfaszten bereiche anzudeuten. so spiegelt die geschichte des wortes welt gleichsam symbolhaft den gang der abendländisch-deutschen kulturwelt wider, die auf christlichantikem grunde ersteht, durch äuszere einflüsse und inneres wachstum sich zu immer gröszerer mannigfaltigkeit entwickelt.
Der moderne Weltraum ist allenfalls der Raum, in dem sich Welt auftut. Welt ist Kosmos, Ordnung, dessen Unordnung sich nur aus der Ordnung versteht, die man gegebenenfalls vermisst. Eine „Welt der Unordnung“ ist ein Unding, eine Nicht-Welt, die der Welt vorausliegt, „Chaos genannt, eine rohe und ungegliederte Masse / Nichts als träges Gewicht…“[4]
Chaotischer Streit
Die Welt entsteht aus dem Chaos.
Ehe das Meer und die Erde bestand und der Himmel, der alles
Deckt, da besaß die Natur im All nur ein einziges Antlitz,
Chaos genannt, eine rohe und ungegliederte Masse,
Nichts als träges Gewicht, und geballt am nämlichen Orte
Disharmonierende Samen nur lose vereinigter Dinge.[5]
Das „Chaos“ als anfänglicher „Grund“ kennen wir aus Hesiods Theogonie, also seiner Darstellung des Werdens der Götter. Auf diese Tradition beruft sich Ovid, wenn er davon spricht, dass dieser anfängliche Zustand „Chaos genannt“ wurde.[6] Auch die Götter waren – so wie wir sie kennen – noch nicht wirksam. Ovid spricht davon, dass „kein Titan noch die Welt erhellte“ und auch „keine Amphitrite“ die Erde umschloss. Gab es sie noch nicht – ist also die Kosmogonie auch eine Theogonie wie bei Hesiod? Oder wirkten sie nur noch nicht als das, was sie ausmacht?[7] Tatsächlich begegnen uns die Götter und ihre Entstehung in der Ovidschen Kosmogonie nicht. Es geht – wie sich zeigen wird – nicht um die Entstehung der Götter, sondern um die des Menschen und seiner Welt.[8] Die Theogonie wird zur Menschheitsgeschichte.
Streit der Elemente
Zwar war Erde daselbst vorhanden und Meer und auch Lufthauch,
Aber die Erde gewährte nicht Stand, das Wasser kein Schwimmen,
Lichtlos waren die Lüfte.[9]
Alles ging drunter und drüber, eben das reinste Chaos. Nichts konnte das sein und als das wirken, was das jeweilige Dinge wesentlich ausmacht. Die „jeweiligen“ Dinge hatten keine „Weile“, sie fielen formlos auseinander und lösten sich auf. Die Form gibt der Sache ihr Wesen (siehe die Überlegungen zu In nova). Und diese Formen waren nicht ausgeprägt, nicht „formuliert“:
Es schwankten die Formen der Dinge,
Eines hemmt das andere, in ein und dem nämlichen Körper
Kämpften das Kalte und Warme, es rangen das Trockene und Feuchte,
Weiches stritt mit dem Harten, was ohne Gewicht, mit dem Schweren.[10]
Alles schwankt und fließt ineinander. Michael von Albrecht übersetzt etwas entschlossener: keinem Ding blieb die eigene Gestalt. Alles lag im Streit. Und nun kommt eine demiurgische, schöpferische Kraft ins Spiel, die den Streit schlichtet, in dem sie die Dinge räumlich trennt, ihnen eine Form gibt und sie so „in friedlicher Eintracht“ („einträchtigem Frieden“) miteinander sein lässt. Sein lassen, heißt Form geben – und wir erinnern uns: „was aber bleibet, stiften die Dichter“. Ovid sagt, es sei „ein Gott, eine beßre Kraft der Natur“ (oder die „bessere Natur“, melior natura), die das vollbracht hat. Und „der Gott, wer immer es war“ (!), hat die „Materie geordnet“, Teile geformt „und die Teile zu wirklichen Gliedern gestaltet“. So entsteht die Erde, die uns trägt, das Meer, in dem wir „schwimmen“ und auf dem wir fahren können, und der Himmel, der uns (er)leuchtet.
Der „sorgliche Gott“
In diesen Zonen wird nun durch „den sorglichen Gott“ alles erschaffen, was die Welt des Menschen ausmacht und für das Leben des Menschen wichtig ist. Jede Zone wird durch „des Gottes Vorsorge“ (cura dei) belebt (Landtiere, Fische und Vögel). Die Vorsorge gilt dem Menschen, der nun als Abschluss der Kosmogonie auftritt:
Aber ein reineres Wesen, Gefäß eines höheren Geistes,
Über die andern zu herrschen befähigt, es fehlte noch immer.
Und es entstand der Mensch, sei’s (!), daß ihn aus göttlichen Samen
Jener Meister erschuf, der Gestalter der besseren Weltform,
Sei’s daß die Erde, die jugendfrische, erst kürzlich vom hohen
Äther geschieden, die Samen, die himmelsverwandten, bewahrte.
Denn sie mischte des Iapetus Sohn [also Prometheus] mit dem Wasser des Regens,
Formte sie dann nach dem Bild der alles regierenden Götter.[11]
Das erinnert doch stark an eine andere Kosmogonie, nämlich die biblische Schöpfungsgeschichte. Auch dort schafft ein Gott, der freilich der eine Gott, der Gott, ist, „im Anfang“ „Himmel und Erde“ und bevölkerte dann die Erde mit allerlei Lebewesen. „Dann sprach Gott: Laßt uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich. Sie sollen herrschen… Gott schuf also den Menschen als sein Abbild.“[12]
In der biblischen wie in der Ovidischen Kosmogonie läuft alles auf den Menschen zu. Beide sehen den Menschen als Abbild Gottes (oder vielleicht besser des Göttlichen). Was in Genesis nur impliziert wird, das wird bei Ovid ausdrücklich: ohne den Menschen fehlt der Schöpfung etwas, nämlich ein „reineres Wesen“ oder wie Michael von Albrecht näher am Text übersetzt „es fehlte ein Lebewesen, heiliger als diese [die anderen Lebewesen], fähiger den hohen Geist aufzunehmen“. Dieses „heiligere Wesen“ soll über die anderen Lebewesen „herrschen“ (dominari) können.
Aufrecht geboren
Eine der Dinge, die an Ovids Darstellung überraschen, ist, wie unvermittelt der Mangel kaum ausgesprochen behoben wird: „der Mensch entstand“ (natus homo est). Wie wir uns das vorzustellen haben, darauf kommt es Ovid und der Genesis nicht so sehr an. Ovid gibt selbst zwei Möglichkeiten an[13]. Wichtig ist nur der „göttliche Samen“, der entweder vom Schöpfer selbst „gegeben“ (olala!) oder in der Erde noch von der chaotischen „Mischung“ mit dem Himmel fruchtbar zurückgeblieben war.[14] Dieser „göttliche Samen“ gibt ihm sein Wesen und seine Gestalt:
Während die anderen Wesen gebückt zur Erde sich neigen,
Ließ er den Menschen das Haupt hochtragen: er sollte den Himmel
Sehen und aufgerichtet den Blick nach den Sternen erheben.[15]
Damit ist eine der Bestimmungen des Menschen gegeben: er ist metaphysisch, er guckt über die Erde und seinen Umkreis in den (göttlichen) Himmel und erhebt seinen Blick!
Nun können wir fragen, ob wir das glauben. Werden wir der Ovidschen Darstellung gerecht, wenn wir fragen, ob es sich wirklich so abgespielt hat. Wohl kaum. Stattdessen sollten wir fragen, ob wir uns so verstehen? Ovid erzählt eine Geschichte als unsere Geschichte und wir müssen uns fragen, ob wir uns in ihr wiedererkennen. Verstehen wir uns als „heiligere Wesen“ als „fähiger“ (!) Geist in uns wirksam werden zu lassen. Von „heilig“ oder gar „heiliger“ wollen viele der Modernen nicht mehr viel wissen. Und der Geist scheint vielen bereits ausgetrieben. Sie halten sich lieber an die Tatsachen oder die Wissenschaft. Wenn sie nach oben zu den Sternen blicken, dann sehen sie Masse und Energieträger und auch mit dem Blick nach oben, zeigt er sich für Ovid dennoch „gebügt“ und nach vorne geneigt. Auch dem Ochsen und dem Wölfen ist, wenn sie sich entsprechend verrenken, der Blick nach oben möglich – wenn auch nicht in himmlische Höhen!
Kosmologische Dichtung
Zurück zur Kosmogonie. Ovid beschließt sie programmatisch als große, erste, alles weitere ausrichtende Metamorphose:[16]
Also war nun die Erde verwandelt: soeben noch formlos
Roh, ward sie jetzt geschmückt mit den Menschengestalten, den neuen.
In der Übersetzung von Michael von Albrecht heißt das:
So nahm die Erde, die eben noch roh und gestaltlos war, verwandelt die bisher unbekannten menschlichen Formen an.
Und in der alten Übertragung von Johann Heinrich Voß (1751-1826) wird das noch dramatischer formuliert
Also ward, die neulich so roh noch war und gestaltlos,
Umgeschaffen die Erde zum Wunderbilde des Menschen.
Kosmogonie ist die Erzählung von der Herausbildung der menschlichen Welt. Der demiurgische Schöpfer hat die menschliche Welt zum Ziel. Kosmogonie ist Formgebung. Bei Platon zeigt das Bild des Demiurgen die Bedeutung der Ideen: wie der Handwerker[17] braucht er eine Idee, eine Vorstellung, was gewirkt werden soll. Er gibt dem Stoff eine Form und macht das Werk damit zu dem, was es ist, und wird dabei von der Idee geleitet. Kosmogonie ist Kosmologie.
Der Dichter zeigt nun die Weltschöpfung als einen Akt, der die menschliche Welt verständlich macht. Er macht sie als Nachschöpfung seinen Lesern präsent. Das, was Ziel der Schöpfung ist, ist freilich selbst ein Akt der menschlichen Handlung. Die menschliche Welt wird durch den Menschen geformt und wird z.B. durch Dichtung als solche ausgedrückt und verstanden. Ovid behauptet vermutlich nicht weniger als dass der Weltenbau selbst dichterisch ist: „was aber bleibet, stiften die Dichter“…
[1] Ein gruseliger Beginn – man ahnt schon, dass es mit den drei Söhnen im bösen Streit endet und fragt sich nur, woran es diesmal wieder lag… Nun diesmal ist’s gar nicht so schlimm. Wissen Sie welches Grimmsche Märchen so beginnt?
[2] Von κοσμέω leitet sich auch Kosmetik ab: Wer sich mit allerlei Mittelchen chic macht, der ordnet sein Aussehen zu einem ganz besonderen Glanz.
[3] Bd. 28, Sp. 1456 – zitiert nach der Online Ausgabe: https://woerterbuchnetz.de/?sigle=DWB.
[4] I, 7f.: quem dixere Chaos, rudis indigestaque moles / nec quicquam nisi pondus iners…
[5] I 5-9: Ante mare et terras et, quod tegit omnia, caelum / Unus erat tot naturae vultus in orbe / Quem dixere Chaos, rudis indigestaque moles / Nec quicquam nisi pondus iners congestaque eodem / Non bene iunctarum discordia semina rerum.
[6] Michael von Albrecht übersetzt quem dixere Chaos mit: „man nannte es Chaos“.
[7] „Kein Titan“ (nullus Titan), das klingt so, als wäre „Titan“ gar nicht als Eigenname, sondern wie der „deutsche Michel“ als Typenbezeichnung gebraucht.
[8] Ovids Kosmogonie wird das Ziel „getrieben“, die Entstehung des Menschen zu zeigen (dicere): zur Bedeutung des dicere siehe: https://www.rhetorik-forum-nuernberg.de/in-nova/.
[9] I 15-17: Utque erat et tellus illic et pontus et aer, / Sic erat instabilis tellus, innabilis unda / Lucis egens aer.
[10] I 17-20: nulli sua forma manebat, / Obstabatque aliis aliud, quia corpore in uno / Frigida pugnabant calidis, umentia siccis, / Mollia cum duris, sine pondere habentia pondus.
[11] I 75-83: Sanctius his animal mentisque capacius altae / Deerat adhuc et quod dominari in cetera posset: / Natus homo est, sive hunc divino semine fecit / Ille opifex rerum, mundi melioris origo, / Sive recens tellus seductaque nuper ab alto / Aethere cognati retinebat semina caeli. / Quam satus Iapeto mixtam pluvialibus undis / Finxit in effigiem moderantum cuncta deorum;
[12] Gen. 1, 26f.
[13] Auch die Genesis hebt bekanntlich zweimal zur Schaffung des Menschen an: nach Gen 1, 26f. greift sie sie in 2, 4-8 nochmal auf – dort wird zunächst die trockene, unfruchtbare Erde „befeuchtet“ (olala!) und dann daraus der Mensch geformt. Das erinnert doch stark an den Ovidischen Prometheus!
[14] Mit natus homo est spielt Ovid tatsächlich an die natürliche Geburt des Menschen an: Menschen werden von einer Mutter geboren und haben einen Vater…
[15] I 84-86: Pronaque cum spectent animalia cetera terram / Os homini sublime dedit calumque videre / Iussit et erectos ad sidera tollere vultus.
[16] I 87f. Sic, modo quae fuerat rudis et sine imagine, tellus / Induit ignotas hominum conversa figuras
[17] Das nämlich bezeichnet demiurgos (δημιουργός) bevor er in Folge des Timaios zum Weltbaumeister wird.