Athene hat nun genug von Perseus, ihrem „vom Golde geborenen Bruder“ (aurigena frater), der wohl auf ewig um Anerkennung ringt und sich die nur mit Hilfe des schrecklichen Medusenhaupts verschaffen kann, das alles Lebendige versteinert. Mit der Tötung der Medusa wird freilich noch etwas anderes freigesetzt – dem Haupt der Medusa entspringt nachdem es von Perseus – unter Hilfe Athenes – abgeschlagenen wurde Pegasus, ein geflügeltes Pferd, das für die Freiheit der Dichtung, ihren „geflügelten Worten“, steht. Bei Homer zeigt das häufig verwendete Epitheton der „geflügelten Worte“ (ἔπεα πτερόεντα)[1] an, dass der gelungenen Rede eine besondere Kraft innewohnt, die schneller, eingängiger und unvermittelter wirkt als Handlungen und schwerfällige Machtinstrumente. Sie sind luftig und schwerelos.
WIR LESEN OVID
Ovids Metamorphosen sind ein lesenswerter Klassiker. Wir lesen Stück für Stück die fünfzehn Bücher in kleinen überschaubaren Abschnitten. Können wir Philosophisches zur Zeit daraus lernen? Finden Sie’s raus und lesen Sie mit! Das geschah bisher.
Von diesem Pegasus wird nun erzählt, es habe mit einem Huf die Quelle Hippokrene geschlagen, aus der reines „heiliges Wasser“ (latex sacros) strömt. Es ist die Quelle der Dichtung, die hier im Hain der Musen entspringt. Hesiod beruft sich zu Beginn der Theogonie ausdrücklich auf die Helikonische Quelle: „Von Helikonischen Musen will ich mein Singen beginnen, / die an dem großen Berg, dem Helikon, wohnen, / die um die veilchenfarbene Quelle auf zierlichen Füßen / tanzen und rings um die heilige Stätte des Herrschers Kronion.“[2] Athene wendet sich ab von dem unbeholfenen Herrscher, dessen Herrschaft sich aufs schreckliche Medusenhaupt gründet, das alles Lebendige zum Erstarren bringt, hin zur heiligen Quelle der Dichtung. Bei Hesiod führt die Erquickung an der Quelle zunächst zu einem Lösen der (schweren) Glieder im Tanz. „Doch nach Anbruch der Nacht, gehüllt in dunstige Schleier / steigen sie [die Musen] nieder und lassen schöne Gesänge ertönen…“[3] Bei Ovid verlässt Athene das Geherrsche des Bruders „in eine Wolke gehüllt“ und schwebt so bei den Schwestern ein, denen sie sich in gewissem Sinne gleichgesinnt, nämlich jungfräulich, weiß.[4]
Alles ist hier anspielungsreich verwoben: Die Musen sind Töchter des Zeus – mit Memnosyne, der Göttin der Erinnerung – und also Schwestern Athenes, die wie sie jungfräulich bleiben. Perseus wiederum ist ein Sohn des Zeus – nämlich mit der Danae, die vom Goldregen Zeus „übermannt“ wurde – und also Bruder der Athene, die ihm, Zeus, als Kopfgeburt entsprang… Athene findet nun ein eigentümliches Interesse an der „Kopfgeburt“ Pegasus, der die musische Quelle entspringen lässt, die das Musische in die Welt trägt.
Athene lässt sich zur Quelle führen: „Lange steht diese staunend an den Wellen, die aus dem Hufschlag entsprangen, sieht sich ringsum die Haine mit ihrem altehrwürdigen Bäumen an, die Höhlen und die Kräuter, zwischen denen unzählige Blumen blühen, und sie preist die Töchter der Erinnerung [Memnosyne] glücklich, ob ihres Berufes und ihrer Wohnstätte.“[5] Athene, die bereits mit Rüstung aus dem Kopf des Zeus gesprungen ist, scheint nun vom musischen Dasein begeistert. Sie steht zwar für Vernunft und strategischem Sinn; ihre Weisheit ist aber eine der kämpferischen Ordnung, ihre Vernunft trägt Rüstung. Eine eindrucksvolle Darstellung in der Münchener Glyptotek zeigt sie mit hochgezogenem Helm in nachdenklichem, fast melancholischem Ausdruck – ihre Besonnenheit ist die einer Kampfpause, die die Lage sondiert und den Vernichtungsschlag vorbereitet. Nicht von ungefähr trägt sie auf der Brust die Aigis mit einer Darstellung des Medusenhaupts, das auch auf ihrem Schild abgebildet ist. Sie setzt wie ihr „kleiner“, sterblicher Bruder auf das Angst einflößende Erstarrung. Diese Athene steht nun im bewundernden Bann der musischen Harmonie.
Doch die Schwestern relativieren. Göttinnen wie Athene, scheinen sie sich doch vor etwas zu ängstigen: „Du sagst die Wahrheit, lobst mit Recht unsere Künste und diesen Ort, und wir haben wirklich ein liebliches Los – wenn wir nur in Sicherheit lebten!“ Sie erschrecken vor der Grausamkeit der staatlichen Macht. Natürlich müssen sie sich als Göttinnen vor den Sterblichen nicht fürchten. Aber sie erschrecken vor dem „Frevelmut“: ihre „jungfräulichen Herzen“ sind erschüttert, weil sie noch immer den grausamen Pyreneus vor Augen haben. Pyreneus herrscht – „zu Unrecht“ – in Thrakien. Er bittet ihnen sich an, sie in seinem Haus zu beherbergen – „bei schlechtem Wetter“, wie Ovid augenzwinkernd sagt und seine Ironie für die atmosphärischen Unannehmlichkeiten, denen sich die Lieblichen in der Welt der Sterblichen ausgesetzt sehen, noch dadurch unterstreicht, dass er das von einer der Musen ausdrücklich bestätigen lässt: „es regnete in der Tat“ und das ist für die holden Götterjungfrauen aus dem lieblichen Musen-Hain natürlich schon eine Zumutung. Sie nehmen die Gastfreundschaft an und werden gründlich enttäuscht. Pyreneus – obwohl er sie als Göttinnen erkannt hatte – sperrt sie ein und versucht ihnen „Gewalt anzutun“. Das ist natürlich dumm, aber eben auch typisch menschlich, eine Hybris, die den Menschen eigen ist – oder sagen wir bestimmten. Natürlich entkommen sie „auf Flügeln“. Doch Pyreneus kommt nicht zur Einsicht, er verfolgt sie und springt schließlich ihnen von hoch oben auf der Burg nach: „Rasend wirft er sich von der höchsten Turmspitze hinab und fällt auf sein Antlitz; zerschmettert sind die Knochen des Gesichtes, sterbend zappelt er am Boden, den das Blut des Ruchlosen färbt.“ Die detaillierte Beschreibung, die Ovid der Muse in den Mund legt, bringt etwas an ihnen zum Vorschein, was wir von einer „schönen Seele“ nicht gerade erwarten: nicht nur Entsetzen wird da zum Ausdruck gebracht, sondern auch Wut und Verachtung.
Natürlich haben die Göttinnen keine Angst etwa um ihr Dasein und ihre bleibende Wirksamkeit. Es ist das Entsetzen der „zarten Musen“ vor dem Anderen ihrer selbst, der gewaltsamen Inbesitznahme. Das Andere des musischen Daseins – die politische Wirklichkeit der Sterblichen, ihre Ignoranz und Unempfänglichkeit, ihr verzweifelter Versuch das Musische, das wohlgestaltete und -klingende Schöne dem eigenen Begehren unterwerfen zu wollen – das alles ist für „schöne Seelen“ unverständlich und erschreckend.
Der Wunsch als Vater des Gedankens
Die politische Macht versucht die Dichtung in ihre Gewalt zu bringen und ihr Gewalt anzutun. Wir erkennen in Pyreneus Augustus Octavian, dem der Dichter einen tiefen Fall vorhersagt und ihn hilflos mit „zerschmetternden Knochen“ und „sterbend zappelnd am Boden“ liegen sieht. Bei dieser zunächst merkwürdig anmutenden Geschichte, die sich nur bei Ovid findet, ist wohl der Wunsch der Vater des Gedankens. Der dichterische Geist beschwört sich selbst, der politischen Macht zu obsiegen. Pyreneus Hybris war, gegen Göttinnen anzukämpfen – er, so versichert uns die Ovid-Muse, wusste mit wem er es zu tun hatte (cognerat enim) und tat es dennoch. Augustus Octavian und all die anderen politischen Erben können sich da nicht so sicher sein – wenn sie denn überhaupt noch an die Musen glauben. Die wahre Dichtung wird – vielleicht – die politische Herrschaft überdauern, so wie es Ovid seinem eigenen Werk im Epilog zuspricht:
Und jetzt hab’ ich vollendet ein Werk, das nicht Jupiters Zornwut,
Feuer und Schwert, die zehrende Zeit nicht zu tilgen vermögen.
Mag er erscheinen, der Tag, wann er will, der nur meines Leibes
Herr ist, die Frist meines schwankenden Lebens zu enden: unsterblich
schwingt der edlere Teil meines Wesens sich über die hohen
Sterne empor, und unzerstörbar dauert mein Name;
Und wo die Römer bezwungene Länder beherrschen, die Völker
Werden mich lesen: ich bleibe, wenn irgend die Ahnung der Sänger
Wahrheit besitzt, im Ruhm für ewige Zeiten lebendig.[6]
Selbst Juppiter kann gegen die Macht der Musen nichts ausrichten: „wenn irgend die Ahnung der Sänger / Wahrheit besitzt“. Allein, spricht aus jedem Mund dessen, der sich Dichter nennt, musische Wahrheit?
In der herrschenden Meinung lebt Pyreneus
Mancher politische Herrscher mag wie Athene sehnsüchtig in den Musen-Hain gucken, am Ende siegt meist doch die Politisierung des Musischen. Intellektuelle bieten sich den Octavians – kaiserlicher, tyrannischer oder republikanischer Prägung – gerne an. Sie muss man meist nicht einsperren oder ihnen Gewalt antun. Dank ihrer ist – wie Marx es treffend formulierte – die herrschende Meinung die Meinung der Herrschenden.[7] Seit es Medien der Öffentlichkeit (Zeitungen und Zeitschriften, Funk- und Fernsehen u.ä.) gibt, immer war es die überwältigende Mehrheit der „Intellektuellen“, die der Meinung der Herrschenden zur herrschenden Meinung machten. Das war beim Großen Friedrich nicht anders als bei der österreichischen Kaiserin, im bonapartistischen Frankreich wie bei der restauratorischen Allianz: die öffentliche Meinung war durch die Pyreneusse und Octavians geprägt. Das, worin sich die Ovidschen Musen eingesperrt glaubten, das war schon – in intimer Nähe zur Herrschaft – ein ganz erträglicher Unterschlupf.
Die Generation des jeweils nächsten Regimes blickte dann kopfschüttelnd auf die propagandistische Verirrung ihrer Kollegen zurück, um sich als Journalisten und Wissenschaftler, Ärzte und Richter aufs Neue in den Dienst der guten Sache zu stellen, die die politische Landschaft gerade beherrschte. Dem Kaiserreich folgte kopfschüttelnd Weimar – fast alle der Wissenschaftlicher und Literaten der großen Bildungsnation Deutschland waren stramm national und das hieß in „Treue zum Kaiser“ gewesen. Und das wurde nun anders. Zeitweilig. Nach verlorenem Krieg war man zunächst revolutionär, modern und demokratisch – okay nicht alle, aber man diskutierte, demonstrierte und schrieb und schrieb und schrieb. Der Wind drehte und das Fähnchen der Feuilletons, der schreibenden Zunft und der Wissenschaft natürlich auch. Wissenschaft wurde nationalsozialistisch – nicht zuletzt die Medizin – und natürlich auch die Jurisprudenz, also das herrschende Recht. Und wer schrieb über das alles? Es waren die Gleichen, die sich nun eines „Besseren“ besonnen und verdutzt auf ihre antideutsche Propaganda der letzten Jahre zurückschauten. Man schrieb jetzt schlauerweise mit brauner Tinte. Denn Pyreneus und Octavian wollten es so – und das fand man schon ganz in Ordnung. Also viele, sehr viele, die nicht gerade aus der Helikonischen Quelle getrunken hatten. Aber dann, dann verlor man schon wieder. Man konnte nicht glauben wie das alles möglich war – wie konnten sie nur für diese Nazi Octavians so schreiben, forschen und richten?! Nur weil ihnen das „schwarze Meer“ des Todes angedroht wurde? Das sollte sich nicht wiederholen. Niemals. Man hielt sich an die, die ins Exil gehetzt wurden und zwar von denen, die sich nun als deren Erben verstanden. Pyreneus lag zerschmettert am Boden, die Musen hatten gesiegt. Also im Westen. Denn im Osten da schienen die neuen Octavians neue willige Helfer zu haben. So sah man das im Westen. Im Osten sah man’s andersrum.
Immer gab es einige wenige, die die Musen wirklich geküsst hatten. Im Osten und im Westen, im Kaiserreich – vorher und danach. Immer gab es plötzlich eine Mehrheit, die sich in der Nachfolge dieser Wenigen sah. Wenn man heute für den Krieg hetzt, dann tut man das nicht so wie damals der Mainstream bei Vietnam, man tut es aufgeklärt und als Musengeküsste. Die Mehrheit kann sich schließlich nicht irren.
Hybris ist tödlich
Das alles klingt nicht sehr erbaulich. Ovid lässt die Musen– die göttlichen (!) – ihr unsicheres Schicksal: „wenn wir nur in Sicherheit lebten! Doch – soviel darf sich der Frevelmut erlauben – noch immer erschreckt alles und jedes unsere jungfräulichen Herzen, der grausame Pyreneus steht uns vor Augen“.[8] Ovid, ans schwarze Meer verbannt und aus der Welt gedrängt, beklagt sein Elend und will sich dennoch als Sieger sehen, weil kein sterblicher Pyreneus/Octavian den unsterblichen Musen Gewalt antun kann – Hybris ist tödlich. Und doch wissen wir mit Ovid und all den anderen, dass dieser Sieg schmerzvoll sein kann und nur deshalb so erzählt werden muss, weil er sich doch selten ereignet. Wir müssen viel viel Ovid lesen, damit wir wirklich an die Wahrheit dieser Geschichte glauben und Hoffnung für die politische Welt draus ziehen dürfen.
[1] Z.B. in der Ilias rund 46 und in der Odyssee 58 mal. Die erste Stelle in Ilias I 201ff.: „Und Achilleus erschrak und wandte sich: plötzlich erkannt’ er / Pallas Athenes Gestalt; so furchtbar strahlte ihr Auge. / Da erhob er die Stimme und sprach die geflügelten Worte: / Tochter des wetterleuchtenden Zeus, was bis du gekommen? Etwas den Frevel zu schauen, des Atreussohns Agamemnon? / Wahrlich ich sage dir jetzt, und sicherlich wird es vollendet: / Sein unbändiger Stolz wird einst noch das Leben ihm kosten.“
[2] Hesiod, Theogonie 1ff.
[3] A.a.O., 9f.
[4] Es ist ein wunderbarer Satz
[5] V 264ff.: Quae mirata diu factas pedis ictibus undas, / silvarum lucos circumspicit antiquarum / antraque et innumeris distinctas floribus herbas / felicesque vocat pariter studioque locoque / Mnemonidas.
[6] XV 871ff.: Iamque opus exegi, quod nec Iovis ira nec ignis / nec poterit ferrum nec edax abolere vetustas. / Cum volet, illa dies, quae nil nisi corporis huius / ius habet, incerti spatium mihi finiat aevi: / parte tamen meliore mei super alta perennis / astra ferar, nomenque erit indelebile nostrum, / quaque patet domitis Romana potentia terris, / ore legar populi, perque omnia saecula fama, / siquid habent veri vatum praesagia, vivam.
[7] „Die herrschenden Gedanken sind weiter Nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die als Gedanken gefaßten herrschenden materiellen Verhältnisse; also der Verhältnisse, die eben die eine Klasse zur herrschenden machen, also die Gedanken ihrer Herrschaft.“ (K. Marx, Fr. Engels, Die deutsche Ideologie, Kritik der neuesten deutschen Philosophie, MEW 3, S. 46)
[8] V 272ff.: