Es war – und ist vielleicht noch? – Thema im Sozialkunde-Unterricht, jedenfalls im Leistungskurs Geschichte/Sozialkunde, den ich absolvierte: das Milgram Experiment. Der Kontext war dabei klar: es ging um die Fragen, wie die Verbrechen des Nationalsozialismus (in einer „Kulturnation“) möglich waren und ob sich ähnliches wiederholen könnte?
Das Experiment
Die Versuchsanordnung war vergleichsweise einfach: den Teilnehmern wurde von einem (wissenschaftlichen) Versuchsleiter erläutert, das Experiment diene dazu, die Wirkung von Bestrafung auf den Lernerfolg zu untersuchen. Die Teilnehmer bestanden aus Schauspielern und zufälligen Probanden, den eigentlichen Versuchspersonen, denen in einer fingierten Zufallswahl unterschiedliche Rollen zugedacht wurden: die Probanden wurden „Lehrer“, während die „Schauspieler“ die „Schüler“ gaben. Die Schüler hatten eine Aufgabe zu erledigen (etwas zu lernen) und sollten bei Fehlern durch einen Stromschlag bestraft werden, der sich stetig bis zu einer tödlichen Stärke erhöhte. Aufkommende Zweifel der „Lehrer“, die durch die (simulierten) Schmerzensschreie der „Schüler“ verunsichert wurden, konterten die wissenschaftlichen Experimentleiter mit dem Hinweis auf das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse. Das Experiment wurde in verschiedenen Formen durchgeführt (Einfluss der Experimentleiter,[1] unterschiedlicher „Nähe“ von „Schülern“ und „Lehrern“)[2], kam aber immer zu dem beunruhigenden Ergebnis, dass eine deutliche Mehrzahl der „Lehrer“ bis zum bitteren Ende den Versuch fortsetzen.[3]
Nun wird die Wissenschaftlichkeit des Experiments inzwischen aus guten Gründen bezweifelt und als ethisch nicht vertretbar abgelehnt.[4] Und dennoch gibt das Experiment natürlich zu denken, weil es doch eigentlich unsere unterschwelligen Befürchtungen ganz gut ansichtig macht: wir können es uns ganz gut vorstellen, dass es sich so verhält und die Erfahrungen mit dem rücksichtlosen Vollzug „höherer Einsicht“ bis hin zu den Folterkellern und Konzentrationslagern ganz gut zu plausibilisieren vermag.
Für das Gemeinwohl
Beängstigend ist freilich auch, dass die Milgram-Experimente nicht nur einen „aufklärerischen“, anti-faschistischen und anti-totalitaristischen Hintergrund (zu) haben (scheinen). Es gibt wohl starke Hinweise darauf, dass das U.S.-Militär und die CIA großes Interesse an Milgrams Experimenten nahm[5].
„Psychologische Kriegsführung“ richtet sich nicht nur auf die Schwächung des Gegners; sie zielt auch auf die Stärkung der „Kampfbereitschaft“ und den „Gehorsam“ der eigenen Bevölkerung.[6] Große Teile der Bevölkerung scheinen bereit zu sein, auch Maßnahmen „durchzuziehen“, die sie „eigentlich“ ablehnen oder denen gegenüber sie große Vorbehalte haben, wenn „hinter“ ihnen ein „Wissenschaftler“ im weißen Labormantel steht, der sie auffordert im Namen „der Wissenschaft“, des „Gemeinwohls“ oder der „Humanität“ doch bitte mit dem „tödlichen“ Experiment fortzufahren. Das sollten wir wohl auch aus dem Leistungskurs Geschichte/Sozialkunde mitnehmen: wenn Euch Autoritäten in Uniform auffordern, etwas zu tun, was der Würde des Menschen und seinen Grundrechten widerstreitet, brecht ab, steht auf, erhebt Euch. Es müssen keine „braune“ Uniformen sein – schon damals waren es auch schwarze und weiße! Keine Autorität denen, die im Namen eines „Heils“ die Grundrechte brechen – das meine ich sollten wir lernen, oder?
Anti-Konformismus
Gut, wir sind heute in einer völlig anderen Lage, wir in den westlichen Demokratien. Wir haben gewichtige Helfer, die uns im Zweifelsfall zum Aufstehen raten. Die Medien – die vierte Gewalt im Staat. Deshalb sind sie so wichtig und sind grundrechtlich geschützt (Art 5 GG).
Nun gibt es da aber ein anderes Experiment, das sogar in engem Zusammenhang mit dem von Milgram steht, nämlich das von Solomon Asch. Solomon Asch war Doktorvater von Stanley Milgram und entwickelte das sogenannte Konformitätsexperiment. Es beruht wie bei Milgrams Experiment auf einem Fake, nämlich der Täuschung der eigentlichen Probanden: dem Probanden wurde gesagt, dass er zusammen mit anderen zufällig ausgewählten Personen an einem Wahrnehmungsexperiment teilnimmt. Dabei wurde den Teilnehmern eine Karte mit einer Linie gezeigt und eine zweite mit drei Referenzlinien. Die Teilnehmer sollten der Reihe nach sagen, welche der Referenzlinien der Linie auf der ersten Karte entspräche. Der Antwort des Probanden gingen immer die Antworten der anderen Teilnehmer voraus, die freilich „Schauspieler“ waren und bewusst eine vorher vereinbarte falsche Antwort gaben. Resultat: Nur etwa ein Viertel der Probanden hat die offensichtlich richtige Antwort gegeben, [7] während die überwältigende Mehrheit sich der „Mehrheitsmeinung“ anschloss, einige ziemlich bereitwillig andere zögerlich und sichtbar irritiert.[8]
Alles nichts Neues – und ziemlich mediennah
Das ist alles nichts Neues und wir kennen das auch aus anderen (sozial-)psychologischen Beobachtungen (Framing z.B. oder Priming).[9] Immer neu sind nur die Situationen, in denen man sich an die beiden Experimente erinnert fühlen kann.
Mit Blick auf Aschs Experiment kommt es also darauf an, dass die „Öffentlichkeit“ möglichst vielstimmig in Erscheinung tritt, um eine echte Auseinandersetzung über die richtige „Wahrnehmung“ sicherzustellen. Das „Böse“ an Solomon Aschs Experiment ist ja die „vereinbarte“ Einhelligkeit der „Meinung“, die dem Probanden entgegentritt. Der Proband scheut die abweichende Meinung, weil er nicht aus der Rolle fallen will. Was aber, wenn von vornherein klar gemacht wird, dass eine abweichende Meinung gar nicht als „Meinung“ gelten darf, sondern als „Lüge“, böswillige „Desinformation“ und Betrug erachtet wird. Wer der Einhelligkeit „der“ medial verkündeten Wissenschaft z.B. nicht folgt, der ist entweder ein „XY-idiot“ oder ein Verschwörer, der einer verbrecherischen Agenda folgt.
„Leugnest Du etwa…“
Bereits wer „leugnet“, dass es „die“ Wissenschaft in der dargestellten Einstimmigkeit nicht gibt – es macht allerdings das Wesen der Wissenschaft aus, dass sie mehrstimmig ist – wird zum Anti-Humanisten, muss wohl „rechtsradikal“, antisemitisch, chauvinistisch, zumindest aber ziemlich „verschwurbelt“ oder Verschwörungstheoretiker sein. Das ist ein so alter rhetorischer Trick, dass man es nicht für möglich hält, dass er immer noch von „Qualitätsmedien“ benutzt wird: Jemanden vorzuwerfen, etwas zu leugnen, impliziert die Wahrheit der vermeintlich geleugneten Aussage. Der „Lügner“ bestätigt durch seine Verteidigung die Unterstellung: „Leugnest Du (tatsächlich), dass Du mich mit Margit betrügst?“ Auf die geschlossene Frage fällt es dem Angeklagten schwer zu antworten: mit „ja“ bestätigt er die Lüge und mit „nein“ räumt er sie ebenfalls ein.
Das gelebte Labor
Versetzen wir uns – nur mal so als Gedankenspielerei – in eine Welt, in der beide „Experimente“ verbunden wären: wir könnten z.B. den Konformitätsdruck durch gezielte Strafen erhöhen. Alles, was der Einhelligkeit widerspräche, würde ausgeblendet. Ergebnisse von namhaften anderen „sogenannten Experten“ würden als „unwissenschaftlich“ oder alterswirr abgetan.[10] Andere Lösungsvorschläge würden als „katastrophal“ und „menschenverachtend“ deklariert.[11] Wissenschaft wäre nur, was der mediale Experimentator, nennen wir ihn Chris D. Charity, versichert: „Es ist absolut notwendig…“, geradezu „alternativlos“ … In einer solch unheimlichen und beängstigenden Experimentalsituation, würden wir vermutlich die Stromschläge noch leichter, bereitwillig und bedenkenlos verstärken – komme was da wolle (what ever it takes). Und wenn Chris D. Charity als gestrenger Laborleiter uns mit seiner sympathischen Ausstrahlung und den studentischen Wuschelhaaren die Schreckensszenarien ausmalen könnte, die sich ergäben, wenn wir „die Zügel locker“ ließen, dann wäre wohl alles möglich, was wir uns nie hätten vorstellen können.
Demokratischer Rechtsstaat vs Milgram & Asch
Aber das Szenario ist ja ziemlich unrealistisch. Wir können aus den Experimenten von Milgram und Asch ja lernen – und es nie so weit kommen lassen. Das zu verhindern, dazu sollte es nicht mal eines Leistungskurses bedürfen. Bürgerliches Engagement und das Bekenntnis zum grundgesetzlich garantierten demokratischen Rechtsstaat müssten eigentlich genügen, oder nicht?
[1] Von der Aufforderung „Bitte fahren Sie fort“ wurde bis zu „Es ist absolut notwendig, dass Sie weitermachen“ variert.
[2] Der Experimentaufbau reichte von „akustischer Nähe“ von „Lehrern“ und „Schülern“ bis zu „Berührungsnähe“ und unterschiedlichen „Feedback“-Stärken.
[3] Den „Lehrern“ wurde auf die Wirkung ihrer Bestrafungen auf einer Skala auf dem Stromstoßgenerator grob angezeigt. Sie wussten also um die tödliche Dosis, die sie verabreichten.
[4] Man kritisiert durchaus zurecht die methodischen Schwächen (Selektive Auswahl über Bereitschaft zum Test, Schauspieler-Effekte etc). Viele der Versuchspersonen litten im übrigen über Jahre an den Erfahrungen, die sie in diesem Experiment machen mussten.
[5] Es gibt wohl starke Indizien für eine direkte Finanzierung durchs Militär. Das wurde freilich immer wieder ausdrücklich zurückgewiesen. Für meinen Punkt ist das nicht entscheidend.
[6] Das ist tatsächlich inzwischen ein gewichtiger Teil der Psy-Op. Wir können in diversen Think-Tank Papieren ja z.B. nachlesen, wie die Bevölkerung im Krisenfall „sensibilisiert“ werden kann/soll/muss, damit eine schlagkräftige Antwort der Exekutive ohne den lähmenden Prozess der „legislativen“ und öffentlichen Meinungsbildung möglich ist. Es soll ja wohl auch im Innenministerium der Bundesrepublik Deutschland … aber lassen wir das.
[7] Die „Aufgabe“ war so einfach und übersichtlich, dass in Kontrollgruppen alle Probanden zum richtigen Wahrnehmungsurteil kamen.
[8] Das Experiment ist freilich auch nicht ohne Kritik geblieben: die „Verstellung“ lässt sich kritisieren und die Zustimmung durch den Gruppenzwang kann sich schlicht aus Desinteresse erklären.
[9] Viele davon sind im Übrigen gar nicht sooo furchtbar neu. Die Psychologie will ja eine Lehre von der Psyche sein und hat ihre ruhmreiche Geschichte als Teil der Philosophie. Vor allem in ihrem praktischen Teil und in der Rhetorik wurde vieles von dem, was jetzt in naturwissenschaftlich „inspirierten“ Experimenten „entdeckt“ wird, wurde von den „Alten“ in Philosophie, Kunst und Literatur phänomenreich und lebensnah beschrieben.
[10] Man denke da z.B. an John Ioannidis et.al. oder daran, dass Hendrik Streek von einem „Kollegen“, der sich in seinem Alleinstellungsanspruch wohl angegriffen fühlte, als schlimmer Desinformant bezeichnet wird.
[11] Schweden z.B. müsste sich längst im Chaos aufgelöst haben und auch Brasilien et.al.