Die Verborgenheit der Gesundheit

Lesedauer 14 Minuten
Hans-Georg Gadamer, ca. 2000 also 100jährig

Hans-Georg Gadamer ist einer meiner Wegweiser. Umso erstaunlicher, dass ich auf die Sammlung von Aufsätzen, die vor 30 Jahren unter dem Titel Über die Verborgenheit der Gesundheit[1] erschien, erst jetzt aufmerksam wurde. Eine Lektüre hätte sich gerade in den letzten Jahren angeboten – und einiges zur Aufklärung über die Pandemie und ihre Bekämpfung beigetragen. Einiges von dem, was 1993 noch Befürchtungen waren, hat sich seit 2020 bewahrheitet.

Nah ist und schwer zu fassen…

Von der Gesundheit gilt, was für alles gilt, das uns selbstverständlich scheint: es ist schwer zu begreifen. Friedrich Hölderlin (1770-1843) meinte vom Göttlichen, von dem er uns immer schon umgeben glaubte „Nah ist / Und schwer zu fassen der Gott.[2] Das Selbstverständliche verbirgt sich uns, obwohl oder gerade weil, was wir es beim Verstehen von „Gott und der Welt“ immer schon voraussetzen. Es zeigt sich erst dann, wenn wir es nicht mehr „selbstverständlich“ voraussetzen (können) und es uns selbst fragwürdig wird.[3] Verwundert lösen wir uns dann aus seinen Fängen, und wenden uns besinnend auf das zurück, was unser Selbst- und Weltverständnis ausmacht. Was uns und unsere Kultur ausmacht, das erleben wir z.B. in der Begegnung mit anderen. So lernen wir in fremden Kulturen die eigene kennen – schätzen und relativieren. Die Ausfahrt erlaubt die innere Heimkehr.

Die Philosophie bemüht sich, das ausdrücklich zu machen, worauf wir uns in unserem Denken und Handeln verstehen.[4] Hans-Georg Gadamer (1900-2002), einer der einflussreichsten deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts, beleuchtet in seiner Sammlung von Arbeiten, die zwischen 1963 und 1990 entstanden, philosophisch das, was wir unter Gesundheit verstehen. Und er gibt einen aufschlussreichen Einblick in das, was moderne Medizin ausmacht: sie unterscheidet sich als medizinisches Wissen von anderen Wissensformen, verwandelt in der Form moderner Wissenschaft ihren Gegenstand und verliert dabei das, was unter Gesundheit zu verstehen ist, vollends aus dem Blick.

Hans-Georg Gadamer geht begriffsgeschichtlich vor und kontrastiert, das, was wir heute Medizin oder medizinische Wissenschaft nennen, mit ihren antiken Anfängen. Wir verstehen, was wir mit (moderner) Wissenschaft meinen, wenn wir verstehen, wovon sie sich (als vorwissenschaftlich) unterscheiden möchte.

Zurück zu Aristoteles und dem Anfang der Metaphysik

Aristoteles

Philosophie bemüht sich tatsächlich seit ihren Anfängen darum, wissenschaftliche Erkenntnis von anderen Wissensformen begrifflich zu unterscheiden. Ein locus classicus ist dafür der Anfang der Aristotelischen Metaphysik. Aristoteles (384-322) unterscheidet dort Wissenschaft (ἐπιστήμη, episteme) von sinnlicher Wahrnehmung (αἴσθησις, aisthesis,) und Erinnerung (μνήμη, Mneme), Erfahrung (ἐμπειρία, empeiria) und Kunst (τέχνη, techne). Wir wissen etwas, weil wir es wahrnehmen, aus Erinnerung oder Erfahrung. Wahrnehmung, Erinnerung und Erfahrung beziehen sich auf etwas bestimmtes. Die „Kunst“ (τέχνη) dagegen liegt darin, nicht nur zu wissen, dass dies und das sich so verhält, sondern zu wissen, dass und warum es sich im Allgemeinen so verhält. Die Wissenschaft (ἐπιστήμη) erhebt schließlich den Anspruch zu zeigen, dass es sich gar nicht anders verhalten kann.

Die Formen des Wissens bauen aufeinander auf: „Aus der Erinnerung entsteht nämlich für den Menschen Erfahrung; denn viele Erinnerungen an denselben Gegenstand bewirken das Vermögen einer Erfahrung … Wissenschaft aber und Kunst gehen für die Menschen aus der Erfahrung hervor.“ Aus der Erfahrung gewinnen wir durch Überlegung (λογισμός) eine allgemeine Annahme. Aristoteles veranschaulicht das mit einem medizinischen Beispiel: „Denn die Annahme, daß (z.B.) dem Kallias, der an einer bestimmten Krankheit litt, dieses bestimmte Heilmittel half, und ebenso dem Sokrates und vielen Einzelnen, ist eine Sache der Erfahrung; daß es dagegen allen von solcher Beschaffenheit, die nach einem Artbegriff bestimmt, an dieser Krankheit litten, zuträglich war, …, diese Annahme gehört der Kunst an.[5]

Praktisches Wissen

Das „praktische“ Wissen der Kunst (τέχνη) unterscheidet sich dabei vom theoretischen Wissen der Wissenschaft (ἐπιστήμη). Theoretisches Wissen richtet sich auf das, was so und nicht anders ist. Praktisches Wissen zeigt sich dagegen im Hervorbringen von etwas, das so oder anders sein kann, aber so und nicht anders sein soll. Weil wir uns auf etwas verstehen und wissen, wie sich die Dinge im Allgemeinen verhalten, können wir unsere Absichten realisieren.

Mit Rücksicht auf die praktische Absicht scheint freilich „die Erfahrung der Wissenschaft und Kunst fast ähnlich zu sein:[6]Zum Zweck des Handelns [aber] steht die Erfahrung der Kunst nicht nach, vielmehr sehen wir, daß die Erfahrenen mehr das Richtige treffen als diejenigen, die ohne Erfahrung nur den [allgemeinen] Begriff besitzen. Die Ursache davon ist, daß die Erfahrung Erkenntnis des Einzelnen ist, die Kunst des Allgemeinen, die Handlungen und Hervorbringungen aber auf das Einzelne gehen.“ Und wieder erläutert Aristoteles diesen Punkt mit einem Beispiel der Heilkunst: „Denn nicht den Menschen überhaupt heilt der Arzt, …, sondern Kallias oder Sokrates oder irgendeinen anderen, von dem die Rede ist. Wenn nun jemand den Begriff besitzt ohne Erfahrung und das Allgemeine weiß, das darin enthaltene Einzelne aber nicht kennt, so wird er das rechte Heilverfahren oft verfehlen; denn Gegenstand des Heilens ist vielmehr der Einzelne.[7]

Da praktisches Wissen (τέχνη) nicht unter allen Umständen gültig ist und das, worauf es sich bezieht, so oder anders sein kann, kommt alles darauf an, es richtig anzuwenden. Die Regel ist nur für den richtigen Fall gültig. Etwas kann ein Fall der (allgemeinen) Regel sein – oder eben nicht. Für die richtige Anwendung der Regel kann es aber nicht wiederum eine Regel geben – das würde uns in einen unendlichen Regress führen. Sich an Regeln zu halten braucht Urteilskraft, die man durch Erfahrung erwirbt, die möglichst unter erfahrener Anleitung verständlich macht, wie die Regel aus der Erfahrung gewonnen wurde. Das know how des Handwerkers zeigt sich an seinem Vermögen, Werke zu schaffen (ἔργα), die den Erwartungen gerecht werden.

Eine ganz besondere Kunst

Beim praktischen Wissen der Medizin ist das freilich in drei Hinsichten anders: Für die „Heilkunst“ gibt es (1) „kein Werk, das durch Kunst hergestellt und künstlich ist […] Zum Wesen der Heilkunst gehört vielmehr, daß ihr Herstellenkönnen ein Wiederherstellenkönnen ist.[8] Das ärztliche Tun zielt auf ein Wiedererstarken des Organismus, der die Krankheit überwinden muss. Gegenstand des ärztlichen Handelns ist ein lebendes Wesen, das sich von der Umwelt abgrenzt und sich in ihr selbst erhält. Der Arzt kann die Lebenskräfte des Organismus stärken, aber nicht herstellen. Hans-Georg Gadamer vergleicht das mit dem Wiedererlangen eines Gleichgewichts. Die ärztliche Kunst ist eher mit der Tierpflege oder der Hege und Pflege eines Gartens zu vergleichen als mit der Herstellung von Werkstücken. Die Genesung ist keine Gesundmachung durch den Arzt.

Das liegt auch (2) daran, dass wir Gesundheit nicht objektivieren können. Es gibt zwar einen gewissen „methodischen Primat der Krankheit“:[9]Die Krankheit ist es, was sich aufdrängt, als das Störende, das Gefährliche, mit dem es fertigzuwerden gilt.[10] Gesundheit aber lässt sich nicht einfach als Abwesenheit von Krankheit oder gar Schmerz verstehen. Sachlich ist die Vorstellung eines „Heil-Seins [vorrangig], die Selbstverständlichkeit des Lebendigseins“, eben des „Wohlseins“, in dem sich der lebendige, sich erlebende und fühlende Organismus befindet. Man kann sich krank fühlen und nach einer Krankheit auch wieder gesund. Aber „gesund“ bezeichnet eine Form des Da-Seins. Gesund zu leben heißt nicht lang oder schmerzfrei zu leben. Es heißt so zu leben, dass dem Leben ein ihm eigener Sinn gegeben werden kann.

Greift man die Metapher des Gleichgewichts auf, dann ist Gesundheit ein Gleichgewicht, das wie Schwere- oder in Gadamers Formulierung „Gewichtslosigkeit“ wirkt:[11] Gesundsein ist ein Zustand, in dem wir sind, wenn wir uns gerade nicht um unser Gesundsein sorgen, sondern „unbehindert offen und bereit für alles“ sein können.[12] Dem Gesunden bleibt die Gesundheit verborgen, weil er sich auf das ausrichtet, worum es ihm in seinem Leben geht.

Im Fall der Humanmedizin handelt es sich (3) um ein animal rationale, ein Lebewesen, das Sprache und Vernunft hat (ζῷον λόγον ἔχον, zoon logon echon) und mit anderen Personen (ethisch-sozial) zusammenlebt (ζῷον πολιτικόν, zoon politikon, animal sociale). Personen leben in Gemeinschaft mit anderen und verstehen sich, ihr Leben und ihr „Wohlsein“ in diesem Zusammenleben. Bei Personen versteht sich Gesundheit aus deren Selbstverständnis und der „erlebten“ Freiheit, ihr Leben (ethisch-sozial) führen zu können.

Die Mathematik des gesunden Lebens

Die von der antiken Philosophie hervorgehobenen Wesenszüge des medizinischen Wissens – der Patient als geistig soziales Lebewesen, dessen Wohlsein sich der Objektivierung entzieht – werden durch die moderne Medizin konterkariert. Das hat seinen Grund in einer grundlegend anderen Vorstellung von dem, was Kunst (τέχνη) und Wissenschaft (ἐπιστήμη) ausmacht. Etwas zugespitzt formuliert ist die moderne medizinische Wissenschaft der Versuch, Kunst durch Wissenschaft zu ersetzen.

Die aristotelische Ordnung der Wissensformen leitete sich aus der lebensweltlichen (Selbst-)Erfahrung ab: alles Wissen hebt mit Erfahrung an. Für den Erwerb und die Anwendung praktischen Wissens ist Erfahrung notwendig. Praktisches Wissen bezieht sich auf spezifische Handlungsfelder und bewährt sich in der Anwendung. Die Ausübung macht den Meister.

Das Können der Kunst braucht man, wo sich etwas nicht von selbst einstellt und der Fehler naheliegt. Wissenschaft dagegen zielt auf etwas, das immer und für alles gilt – ob wir wollen oder nicht. Hier kommt nichts auf uns an. Das Modell dafür ist seit der Antike die Mathematik. Die moderne Naturwissenschaft sucht nach Gesetzen, die immer gelten und sich mathematisch ausdrücken lassen. Immanuel Kant (1724-1804) hat die moderne Wissenschaftsidee deshalb so formuliert: „eigentliche Wissenschaft“ ist nur diejenige, „deren Gewißheit apodiktisch ist“. Das setzt Mathematik voraus. Und so gilt, „daß in jeder besonderen Naturlehre [wie z.B. der Medizin] nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist“.[13] Wissen im eigentlichen, wissenschaftlichen Sinne haben wir nur soweit „als Mathematik in [ihm] angewandt“ wird.[14]

Sie ersetzt Kunst durch Konstruktion. Gesetze der Natur gewinnt man nicht durch ihre noch so aufmerksame Betrachtung. Aristoteles schloss aus der Alltagserfahrung, dass eine auf einer Fläche angestoßene Kugel irgendwann ausrollt, dass der „natürliche Zustand eines Körpers die Ruhe ist“. Galileo Galilei (1564-1642) freilich gab zu bedenken, wenn „Gegenkräfte“ ausgeschlossen würden, die die Kugel abbremsen, der Körper seine Bewegung endlos beibehalten könnte.[15] Dazu musste er freilich von den lebensweltlichen Bedingungen absehen, innerhalb der sich Kugeln bewegen, und die idealisierte Annahme einer reibungslosen Bewegung machen. Um diese Annahme zu bestätigen (oder zu widerlegen), müssen diese Bedingungen im Experiment „künstlich“ hergestellt werden.

Wissenschaft des freien Falls

Beispielhaft zeigt sich das am freien Fall: „Bis zu Galileis Zeit wurde angenommen, dass schwere Körper schneller fallen als leichte und dass die Fallgeschwindigkeit proportional zum Gewicht des Körpers ist. Dies ist aber falsch![16] betont mit Stolz auf die wissenschaftliche Erkenntnisleistung ein Physik-Lehrbuch, das sich auf den Schultern des Erneuerers Galileis sitzen sieht. „Galileis Analyse machte Gebrauch von seiner neuen und kreativen Methode, sich vorzustellen, was in idealisierten (vereinfachten) Fällen passieren würde. Für den freien Fall vertrat er die These, dass alle Körper ohne Luft- oder anderen Widerstand mit derselben konstanten Beschleunigung fallen würden.

Revolution der Denkungsart

Immanuel Kant

Es bedarf einer „Revolution der Denkungsart“, die den „Gang einer Wissenschaft“ vom „bloßen Herumtappen“ unterscheidet: Die moderne Naturwissenschaft zeigt, so Kant, „daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, daß sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse; denn sonst hängen zufällige, nach keinem vorher entworfenen Plane gemachte Beobachtung gar nicht in einem notwendigen Gesetze zusammen, welches doch die Vernunft sucht und bedarf. Die Vernunft muß mit ihren Prinzipien, nach denen allein übereinkommende Erscheinungen für Gesetze gelten können, in einer Hand, und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der andern, an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen lässt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt. Und so hat sogar Physik die so vorteilhafte Revolution ihrer Denkart lediglich dem Einfall zu verdanken, demjenigen, was die Vernunft selbst in die Natur hineinlegt, gemäß, dasjenige in ihr zu suchen (nicht ihr anzudichten), was sie von dieser lernen muss, und wovon sie für sich selbst nichts wissen würde. Hierdurch ist die Naturwissenschaft allererst in den sicheren Gang einer Wissenschaft gebracht worden, da sie so viele Jahrhunderte durch nichts weiter als bloßes Herumtappen gewesen war.[17]

Das Herumtappen der Kunst wird durch Wissenschaft ersetzt, deren Gesetze keine gekonnte Anwendung mehr bedürfen, weil sie immer gelten. Damit stellt sich das Anwendungsproblem der „alten“ Heilkunst aber auf neue und nicht mehr beherrschbare Weise. Das Experiment als das zentrale Werkzeug der modernen Naturwissenschaft isoliert Phänomene „künstlich“, um die Ursache-Wirkung-Zusammenhänge messbar und mathematisch beschreibbar zu machen. Die Isolierung von Wirkzusammenhängen, die mathematisch beschrieben werden können, löst das lebendige Ganze des Organismus auf. Der lebendige Organismus wird zur Maschine, deren Funktionieren objektiv beschrieben wird und deren einzelne Funktionen experimentell als messbare Geschehnisse reproduziert werden.

„Wissenschaft von der Krankheit“

Damit löst sich der Begriff des Gesunden vollständig auf. Der Wirkungszusammenhang ist ein konstruierter, nämlich einer, der sich im messbaren und nachvollziehbaren Experiment als allgemein gesetzmäßig ergeben hat.[18] Nicht die auf einem ethisch-sozialen Selbstverständnis gründenden Leiberfahrung eines leidenden Subjekts, sondern die messbaren Umstände der Körpermechanik sind Gegenstand einer „medizinischen Wissenschaft“. „Wenn man die medizinische Wissenschaft definieren will, so kann man sie am ehesten als die Wissenschaft von der Krankheit definieren.[19] Aber auch das trifft die Sache nicht richtig. „Krankheit ist primär nicht jener feststellbare Befund, den die medizinische Wissenschaft als Krankheit deklariert, sondern ist eine Erfahrung des Leidenden, mit der er, wie mit jeder anderen Störung, fertig zu werden sucht.[20] Wir sagen, wenn wir krank werden, dass uns etwas fehlt, nämlich „eine Art Wohlgefühl“, das wir Gesundheit nennen und in dem wir „unternehmensfreudig, erkenntnisoffen und selbstvergessen sind und selbst Strapazen und Anstrengungen kaum spüren“.[21]

Wir können „Krankheit nicht von all den Symptomen aus bestimmen […], von denen aus die Normwerte irgendeiner Durchschnittsbemessung sagen, was gesund ist. Die nicht meßbaren Randbedingungen sind so zahlreich, daß die meßbaren darüber ihre Kraft einbüßen.[22] So etwas wie „ein Krankheitsgefühl“ ist unverzichtbar. Philosophisch, nicht medizinisch und nicht politisch, wie wir spätestens seit 2020 wissen.

Dagegen werden in der „medizinischen Wissenschaft“ Störungen als messbare Abweichung von Normgrößen ausgewiesen. Blutdruck- oder Cholesterin-Werte sind dafür eher harmlose Beispiele. Sie entziehen sich der Selbstwahrnehmung und verweisen auf die wissenschaftliche Expertise der Gesundheitsexperten, die sich auf die Instrumente ihrer zwangsläufig isolierten Messungen stützt. Medizin wird zur Apparate-Medizin, der Arzt zum Verkünder, der durch die Apparate produzierten Messergebnisse. Die Maschinen entscheiden, dass wir krank sind, weil die Experten sich darauf verlassen, dass die Apparate das Richtige anzeigen.[23]

Vorsicht: Experte

Damit wird die Wissenschaft eine gefährliche Kraft, weil sie sich von denen, für die sie wirken soll, nicht mehr beurteilen lässt. Sie „stellt eine unangreifbare Instanz dar. Wenn niemand anders als der Fachmann über den Fachmann zu urteilen vermag und selbst ein eintretender Mißerfolg oder Fehler allein von Fachleuten beurteilt werden kann …, so ist damit ein solcher Bereich in gewissem Sinne autonom geworden. Die Berufung auf die Wissenschaft ist unwiderleglich.[24] Hans-Georg Gadamer sah darin (im Anschluss an Eliot Freidson) „das autoritäre Gehabe des Experten“ durchscheinen, „der sich vor der Einrede des Laien abschirmt“.[25] Das widerstreitet dem „Ideal einer freien Gesellschaft“, in der der Bürger Anspruch hat, „nicht durch die Autorität des Experten entmündigt zu werden“. Follow the Science wird zur bedrohlichen Beschwörung.

Darin liegt eine unangemessene Selbstermächtigung des Experten, die über seine Expertise hinausgeht: „Die praktischen Folgen seines Wissens unterstehen eben nicht selber wieder seiner wissenschaftlichen Kompetenz.[26]

Ärzte reparieren keine Maschinen. Sie behandeln geistige Lebewesen, die ihr Leben aus einem Verständnis ihrer selbst und der Welt führen. Aristoteles hatte es als ein Kennzeichen des „Gebildeten“ gesehen, „in jedem Gebiet nur so viel Präzision zu verlangen, als es die Natur des Gegenstandes zulässt“.[27] Der Mathematiker sollte nicht von rhetorischer Kunst abhängig sein und der Redekünstler darf nicht mathematisch vorgehen, wenn er es bleiben will. Wir müssen uns auf den „Grad von Bestimmtheit“ besinnen, „der dem gegebenen Stoffe entspricht“. Wer das, was sich der Wissenschaft und ihrem mathematischen Modell entzieht, in die Form der Wissenschaft zu bringen sucht, ist nicht nur „ver-rückt“, er vergeht sich an seinem Gegenstand, dem er doch in der denkbar besten Form abbilden wollte. Er schneidet ihn im Prokrustes-Bett der Wissenschaft so zurecht, dass er ins Modell-Bett passt und nimmt ihm seine Würde.

 

[1] Hans-Georg Gadamer, Über die Verborgenheit der Gesundheit, 1993.

[2] So der Anfang des Gedichts Patmos (in der ersten Fassung). Man mag es gar nicht glauben, dass Hölderlin darauf in der zweiten Fassung verzichtet hat.

[3] Der Anfang der Philosophie liegt in der staunenden Verwunderung über das, was uns selbstverständlich scheint.

[4] Eine klassische, immer wieder zitierte Stelle, die das beschreibt, findet sich bei Augustinus: „Denn was ist Zeit? Wer könnte das leicht und kurz erklären? Wer vermöchte es auch nur gedanklich zu begreifen, um sich dann im Wort darüber auszusprechen? Gleichwohl, was ginge uns beim Reden vertrauter und geläufiger vom Munde als Zeit?

Beim Aussprechen des Wortes verstehen wir auch, was es meint, und verstehen es gleichso, wenn wir es einen andern aussprechen hören. Was ist also ‚Zeit‘? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht.“ (Confessiones XI, 14, 17: Quid est enim tempus? Quis hoc facile breuiterque explicauerit? Quis hoc ad uerbum de illo proferendum uel cogitatione comprehenderit? Quid autem familiarius et notius in loquendo commemoramus quam tempus? Et intellegimus utique cum id loquimur, intellegimus etiam cum alio loquente id audimus.

Quid est ergo tempus? Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare uelim, nescio.)

[5] Met I 1, 981a: γίγνεται δ᾽ ἐκ τῆς μνήμης ἐμπειρία τοῖς ἀνθρώποις: αἱ γὰρ πολλαὶ μνῆμαι τοῦ αὐτοῦ πράγματος μιᾶς ἐμπειρίας δύναμιν ἀποτελοῦσιν … ἀποβαίνει δ᾽ ἐπιστήμη καὶ τέχνη διὰ τῆς ἐμπειρίας τοῖς ἀνθρώποις δὲ τέχνη ὅταν ἐκ πολλῶν τῆς ἐμπειρίας ἐννοημάτων μία καθόλου γένηται περὶ τῶν ὁμοίων ὑπόληψις. τὸ μὲν γὰρ ἔχειν ὑπόληψιν ὅτι Καλλίᾳ κάμνοντι τηνδὶ τὴν νόσον τοδὶ συνήνεγκε καὶ Σωκράτει καὶ καθ᾽ ἕκαστον οὕτω πολλοῖς, ἐμπειρίας ἐστίν: τὸ δ᾽ ὅτι πᾶσι τοῖς τοιοῖσδε κατ᾽ εἶδος ἓν ἀφορισθεῖσι, κάμνουσι τηνδὶ τὴν νόσον, συνήνεγκεν … τέχνης.

[6] Met I, 1, 981a: καὶ δοκεῖ σχεδὸν ἐπιστήμῃ καὶ τέχνῃ ὅμοιον εἶναι καὶ ἐμπειρία

[7] Met I 1, 981a: πρὸς μὲν οὖν τὸ πράττειν ἐμπειρία τέχνης οὐδὲν δοκεῖ διαφέρειν, ἀλλὰ καὶ μᾶλλον ἐπιτυγχάνουσιν οἱ ἔμπειροι τῶν ἄνευ τῆς ἐμπειρίας  λόγον ἐχόντων αἴτιον δ᾽ ὅτι ἡ μὲν ἐμπειρία τῶν καθ᾽ ἕκαστόν ἐστι γνῶσις ἡ δὲ τέχνη τῶν καθόλου, αἱ δὲ πράξεις καὶ αἱ  γενέσεις πᾶσαι περὶ τὸ καθ᾽ ἕκαστόν εἰσιν: οὐ γὰρ ἄνθρωπον ὑγιάζει ὁ ἰατρεύων ἀλλ᾽ ἢ κατὰ συμβεβηκός, ἀλλὰ Καλλίαν ἢ Σωκράτην ἢ τῶν ἄλλων τινὰ τῶν οὕτω λεγομένων ᾧ συμβέβηκεν ἀνθρώπῳ εἶναι: ἐὰν οὖν ἄνευ τῆς ἐμπειρίας ἔχῃ τις τὸν λόγον, καὶ τὸ καθόλου μὲν γνωρίζῃ τὸ δ᾽ ἐν τούτῳ καθ᾽ ἕκαστον ἀγνοῇ, πολλάκις διαμαρτήσεται τῆς θεραπείας: θεραπευτὸν γὰρ τὸ καθ᾽ ἕκαστον

[8] A.a.O., S. 51.

[9] A.a.O., S. 99.

[10] A.a.O., S. 135.

[11] A.a.O., S. 145.

[12] A.a.O., S. 99.

[13] I. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786), Vorrede A V u. A VIIIf.

[14] I. Kant, a.a.O., A IX.

[15] Was erklärt wird, unterscheidet sich radikal: Für Aristoteles ist alle „irdische“ Kraft „endlich“, sie versiegt; nur die himmlischen, göttlichen Kräfte begrenzen sich in ihrer Unerschöpflichkeit gegenseitig. Das zur Ruhe kommen ist das Ende jeder (irdischer) Bewegung. Für Galilei ist die Kraft grenzenlos, wenn sie nicht durch eine andere Kraft begrenzt wird.

[16] Douglas C. Giancoli, Physik, Lehr- und Übungsbuch, 2010, S. 43.

[17] I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur 2. Aufl.

[18] Das alles ist Resultat einer aufwendigen Isolierung: es sind Kunstgrößen, die am lebendigen Ganzen zwar unterschieden werden können, sich aber von sich aus nicht zu einem lebendigen Ganzen verbinden. Auch das Fallgesetz soll für einen „festen Ort auf der Erde“ gelten, der sich freilich „ohne Luftwiderstand“ dort gar nicht findet und erst mit einigem Aufwand erzeugt werden muss. Und auch die „konstante Beschleunigung“ in der „alle Körper“ dann fallen sollen, ist keineswegs „wirklich“ dieselbe: 9,81 m/s2 ist „lediglich“ eine „Normalform“, die je nach Position der Messung (z.B. durch den Einfluss der Erdrotation) abweicht. Was für die Fallbeschleunigung von Körpern vernachlässigbar sein mag, das wird bei Gesundheitsfragen existentiell.

[19] A.a.O., S. 135.

[20] A.a.O., S. 77.

[21] A.a.O., S. 143f..

[22] A.a.O., S. 198.

[23] Besonders fragwürdig wird es, wenn die Normwerte in Abhängigkeit von Behandlungsmethoden und damit von der Pharma-Industrie festgelegt werden. Absenkung von Normwerten erfordert dann den früheren oder stärkeren Einsatz von Medikamenten.

[24] A.a.O., S. 33f.

[25] A.a.O., S. 34. Der eirenische Hans-Georg Gadamer relativiert zwar die Position von Freidson als eine Perspektive, die „einen Maßstab von objektiver Wissenschaft ins Extrem steigert“, hält dieses Extrem aber für eine echte Gefahr. Wir wissen nach 2020 wie richtig er damit lag.

[26] A.a.O., S. 40.

[27] Nikomachische Ethik I 1, 1094b.