Die Würde des sterblichen Menschen
Ich bin nicht Christian Drosten. Und ich bin auch kein Epidemiologe, nicht mal Virologe. Ich habe kein Labor. Ich versuche in meinem „home office“, also dem, was aus meiner Wohnung wurde, über mich als inzwischen vereinzelten Menschen nachzudenken, dem eine unantastbare Würde zugesprochen wird, die jetzt virologisch geschützt werden soll. Was weiß der Virologe davon, also jetzt nicht Christian Drosten, den kenn ich ja gar nicht? Der Virologe ist Logiker des Virus, von schleimigem Gift. Das nämlich wäre vielleicht eine Übersetzung von dem, was die „Römer“ unter virus verstanden. Ich dachte zunächst, da steht ein Mann (lateinisch vir) dahinter, was dem Römer schnell als Ausdruck für den ganzen Menschen galt. Aber nicht um den Menschen kümmert sich der Virologe, er „besorgt“ den giftigen Schleim. Also jetzt nicht Christian Drosten, nur der Virologe in ihm.
Im Krieg
Als das Corona Virus Europa und Deutschland erreicht hatte, sah „man“ sich schnell im Krieg. Der Krieg hatte das Ziel Leben zu retten und dieses Ziel unter der Wahrung der menschlichen Würde und dem Grundrecht der Gleichbehandlung verfolgt werden. Die sogenannte Triage unter allen Umständen vermieden werden. Das fand ich gut. „Whatever it takes“ wie die Feldherren und Banker sagen. Wem würden wir im Krieg mehr vertrauen können als ihnen? Wir sind ja im Krieg! So fühlt sich’s auch an, wenn wir Fernsehgucken oder im Internet surfen. Wir sind im Krieg gegen das Virus. Also gut, dass es Virologen gibt. Dann können wir ihn gewinnen, diesen Krieg. Er wird wie alle anderen Kriege natürlich dazu geführt, um unser Leben zu retten und unsere Würde unantastbar zu halten.
Aber Kriege fordern Opfer, Soldaten und Zivilisten. Es werden Menschen zugrunde gehen. Sonst wär’s wohl kein Krieg. Es ist noch nicht ganz klar, was ich dabei bin: ein Opfer des Virus oder ein Opfer des Kampfs gegen ihn. Unbeschadet, das ist die Botschaft, werden wir ihn nicht überstehen. Das ist die schlechte Nachricht.
Die gute Nachricht ist, wir werden diesen Krieg gewinnen. In jedem Fall. Dieses Wissen verdanken wir den Viro- und den Epidemiologen. Die Frage ist also nur, wie hoch die Opfer sein werden – bei den Soldaten und bei den Zivilisten. Wir hoch werden die Todeszahlen sein und wie hoch die Kriegskosten? Was werden die Kriegsfolgen sein, die gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen?
Kriegsszenario
Um das abzuschätzen – und die richtige „Kriegsführung“ auswählen zu können – gilt es das Kriegsszenario richtig zu beschreiben. Dabei stelle ich die Verlässlichkeit der Überlegungen zunächst überhaupt nicht in Frage – ich nehme sie einfach auf wie sie mir durch Politik und Medien gegeben werden: In Deutschland leben 82 Mio. Menschen, die durch den COVID-19 Erreger infiziert werden können. Bei den meisten so wird angenommen, verläuft die Infektion ohne oder ohne schwerwiegende Erkrankung (geschätzt rund 80 %). Bei einem Bruchteil der schwerer Erkrankten ist ein Überleben nur durch eine Intensivbehandlung möglich, die allerdings einen so schwerwiegenden Eingriff darstellt, dass nur ein Bruchteil der Behandelten die aufwändige und äußerst qualvolle Behandlung überleben (ca. 5 %). Wir können dabei feststellen, dass die an COVID-19 schwer Erkrankten oder Verstorbenen beinahe alle schwere Vorerkrankungen aufweisen. COVID-19 ist also vor allem (oder beinahe ausschließlich) für Personen (lebens-)gefährlich, die wir einer mehr oder weniger umgrenzbaren Risikogruppe zurechnen werden können. Die Botschaft an alle war deshalb einerseits: die Wahrscheinlichkeit an COVID-19 schwerwiegend zu erkranken ist vergleichsweise klein – geschweige denn, daran zu sterben. Also: Keine Panik. Aber: COVID-19 ist für einige schwerwiegend und tödlich – und niemand kann sich sicher sein, ob er nicht zu dieser Minderheit gehört. Also: Bitte nicht unterschätzen. (Das waren auch ziemlich genau die Aussagen, die von Christian Drosten im Abstand von einigen Wochen zu hören waren.)
Aus diesen Bedingungen – und der Entwicklung der Infektionszahlen – wurde dann über mathematische Modelle hochgerechnet, wann die Belastungsgrenze unseres Gesundheitssystems erreicht ist und wir die „unbedingte“ Versorgung mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln nicht mehr gewährleisten können. Die Strategie hieß „flatten the curve“, also die Infektion so zu kontrollieren, dass nach den zugrunde gelegten mathematischen Modellen eine vollständige Versorgung nach den technisch besten Standards für alle sichergestellt wird. Zu diesem Zweck wurde schließlich der Lock-down beschlossen und damit die (zeitweilige) Aufhebung von Grundrechten. Zugleich wurde die Existenz von Hunderttausenden von Bürgern gefährdet (oder -vernichtet).
Kein Krieg – nur eine (politische) Katastrophe
Natürlich sind wir nicht im Krieg. Nach Ciceros wirkungsmächtiger Definition ist vom Krieg nur dort zu sprechen, wo die Verständigung durch Gewalt ersetzt wird. Kriege werden von staatlichen „Rechtssubjekten“ (organisiert) zur Durchsetzung von Rechten geführt, Das Virus hat keinen Verstand und keinen Willen, Wir können ihm den Krieg nicht „erklären“, nur uns in Kriegsstimmung bringen. Die Kriegsmetaphorik soll(te) (vermutlich) zu „außer-ordentlichen“ Maßnahmen motivieren, die für notwendig erachtet werden, aber die Normalität unserer Ordnung sprengen. So unpassend die Kriegsmetaphorik ist, so erlaubt sie zumindest, sich auf sein Grundrecht (GG 4) zu berufen und sich dem Krieg aus moralischen Gründen zu verweigern.
Mich bewegt die Frage, war und ist das alles berechtigt, richtig und angemessen, was gegen die pandemische COVID-19 Erkrankung entschieden wurde? Wenn ich das ohne Labor und noch schlimmer ohne virologischen Sinn und Verstand beurteilen soll, dann muss ich es aus anderer Perspektive als der des „giftigen Schleims“ beurteilen. Einfach aus der des noch (!) gesunden Menschenverstandes, eines menschlichen Verstandes, der sich auf Menschliches richtet. Mir bleiben nur Nachdenken und „Gedankenexperimente“. Im ersten Schritt werde ich mich der Frage unter dem Gesichtspunkt nähern, wie man unter unsicheren Bedingungen zu vernünftigen Entscheidungen kommen kann, die eine angemessene Abwägung der gefährdeten Güter erlaubt. Eine solche Abwägung von Gütern, wie wir sie z.B. aus einem Risikomanagement kennen, hat bei unbedingten Werten (und Grundrechten) allerdings seine Grenzen. Eine Abwägung setzt sich dem Verdacht aus, menschliches Leben zu verrechnen. Wie der Würde und dem Grundrecht auf Schutz begegnet werden kann gelten dann die Überlegungen des zweiten Teils.
Besonnene Abwägung
Für die Abwägung von Gütern und die Beurteilung der Richtigkeit oder Angemessenheit von Handlungen brauchen wir ein Maß. Wie gut dieses Maß auch immer begründet ist, es lässt sich nur aus dem Grund unserer geteilten Lebenswelt nehmen, die griechisch Ethos (ἦθος) hieß, und aus der wir unsere ethischen Maßstäbe gewinnen. Begründung speisen sich aus eingelebten Hintergrundüberzeugungen, „guten Meinungen“ (ἔνδοξα) die wir teilen und nach denen wir leben (common sense). Wir begründen in Frage stehendes aus den Selbstverständlichkeiten, die unser Leben leiten.
Es ist die inzwischen vielzitierte Normalität unseres Lebens. Das ist kein statistischer Wert. Wenn in einer bestimmten Region die Mehrheit der dort lebenden Menschen unter Kopfschmerzen und Schlafstörungen leiden, dann ist das nicht „normal“ und wir suchen nach den Ursachen, die diese Symptome hervorrufen. Menschen sind nicht so, dass sie „normalerweise“ Kopfschmerzen haben – es liegt nicht in ihrer „Natur“.
Natürlich können wir uns über das, was die Natur von etwas ausmacht, täuschen. Was uns (heute) „normal“ scheint und unser Leben wie selbstverständlich prägt, sehen andere Kulturen anders und war Jahrhunderte lang keineswegs selbstverständlich. Lebenswelten sind geschichtlich und wandeln sich. Ein solcher „Kulturwandel“ ist z.B. das Ergebnis der 68iger Studentenbewegung oder des „grün-ökologischen“ Aufbruchs in den 80iger Jahren, die unsere Lebenswelt grundlegend verändert haben. Wir können das, was wir für „normal“ halten, „hinterfragen“. Das können wir begrenzt, indem wir anderes (bis auf Weiteres) unbefragt gelten lassen. Alles kann nicht hinterfragt werden ohne den Sinn von Fragen aufzuheben. Die Kritik der vermeintlichen Normalität speist sich aus geteilten Hintergrundüberzeugungen, sichert diese ab und schafft ein neues Verständnis unseres „normalen“ Lebens.
Bei der Frage, wie schwerwiegend die COVID-19 Epidemie ist, wird immer wieder einen Vergleich mit „normalen“ Influenza-Erregern angestellt. Wir können tatsächlich fragen, ob es richtig war, die „Grippetoten“ der Vorjahre einfach so hinzunehmen. Hätten wir vielleicht bereits 2018 vergleichbare Maßnahmen vornehmen sollen, um Risikopatienten vor der Krankheit zu schützen? Es ist eine politische Entscheidung, die Krankenhäuser so auszustatten, dass sie für alle Eventualitäten gerüstet sind. Diese Entscheidungen wurden in den europäischen Ländern unterschiedlich getroffen. Und diese Entscheidungen haben nun Konsequenzen. Wenn das Gesundheitssystem unter der Last einer Erkrankungswelle zusammenbricht, dann sterben Menschen. Für die Ausstattung des Gesundheitssystems gilt allerdings wie für den Rest des Lebens was Robert Spaemann so formuliert: „Niemand kann geben, ohne zu nehmen, ob es sich um Zeit, Kraft, Aufmerksamkeit oder materielle Güter handelt.“ Was dem Gesundheitswesen gegeben wird fließt nicht ins Bildungssystem oder die Altersversorgung. Der Umgang mit knappen Ressourcen regelt ihre Nutzung, kann sie aber nicht beliebig erweitern. Wenn wir politisch über die richtige Zuteilung von knappen Ressourcen streiten, dann entscheiden wir das mit Blick auf die „Normalität“ unseres Lebens und die diese Normalität prägende Verteilung von Gütern.
Stellen wir uns mit diesen Überlegungen folgendes Szenario vor: Zum Schutz der Gesundheit von Personen, die auf der anderen Seite einer Schlucht leben, werden Millionen von Menschen verpflichtet (und rechtlich gezwungen) über ein schmales, über den Abgrund gelegtes Brett zu balancieren, um Medikamente auf die andere Seite zu bringen (- die voraussichtlich nur für einen Bruchteil der Gefährdeten eine echte Hilfe ist). Es mag Menschen geben, deren Beruf (und Berufung) eine solche Hilfsleistung vorsieht und die z.B. entsprechend darauf vorbereitet und ausgebildet wurden. Vielleicht sind wir auch moralisch verpflichtet, es zu versuchen – ich glaube es eher nicht –, und vielleicht gibt es Menschen, die es freiwillig (und supererogativ) auf sich nehmen. Rechtlich verpflichten, scheint mir, dürften wir dazu niemand. Das ginge nur, wenn wir ihre „unantastbaren und unveräußerlichen“ Grundrechte aufheben.
Der Vergleich hinkt ein wenig, denn er unterstellt, dass wir jeweils wüssten, auf welcher Seite der Schlucht wir uns befinden. Wir wissen natürlich nicht (sicher) – wenn wir nicht zu den Kleinkindern gehören – ob wir uns auf der einen oder der anderen Seite des Abgrunds befinden. Das Hinkende des Vergleichs ist aber in diesem Fall sogar hilfreich. Es nimmt der Frage, was wir „von der anderen Seite“ erwarten (dürfen), seine moralische Anrüchigkeit. Da wir potentiell auf beiden Seiten stehen, können wir für uns eine Güterabwägung vornehmen: z.B. unsere wirtschaftliche Existenz gegen unser gesundheitliches Risiko. Was würden wir wirtschaftlich, sozial und kulturell auf uns nehmen, um uns das höchst unsichere Heilmittel zu holen oder holen zu lassen. Wieviel von unserer Vorstellung von „gutem Leben“, unserer Selbstachtung und Würde, würden wir „opfern“, um uns das Überlebensmittel zu verschaffen?
Zunächst entscheiden wir für uns, über unser Leben, von denen andere nicht betroffen sind: Beschaffen wir uns in riskantem Balanceakt das Medikament oder vertrauen wir darauf, zu der Gruppe der nicht ernstlich Gefährdeten zu gehören? Eine entsprechende politische Entscheidung betrifft dagegen alle – ungeachtet, ob die Betroffenen für sich zu einer solchen Entscheidung kommen oder gekommen wären.
„Wir schaffen das!“
„Wir schaffen das!“ ja, natürlich. Irgendwie. Aber wie?!? Es „kostet“ (Lebens-)Zeit, selbstloses Engagement und die Umstellung der eigenen Lebensführung und nicht zuletzt Geld. Der notwendige Aufwand spricht nicht gegen das Vorhaben. Überhaupt nicht. Wir müssen nur wissen, was es für uns bedeutet! Erinnern wir uns an die Aufregung über das erste „Wir schaffen das!“ (im August 2015)? Damals ging es um die (zeitweilige) Aufnahme von ein paar Hunderttausend Flüchtlingen und ihre Integration in eine prosperierende Gesellschaft. Viele derer, die heute den „Wir schaffen das“-Lockdown befürworten, hatten sich damals „zurückhaltender“ gezeigt und auf eine Abwägung von Gütern und Rechten gedrängt. Wurde da jetzt „menschlich“ dazugelernt? Ich will denen, die damals für eine „Begrenzung“ eintraten, auch gar nicht Recht geben. Um Himmels Willen. Aber die Bewältigung der jetzigen „Kriegsschäden“ ist demgegenüber eine wahre Herkulesaufgabe.
Wussten wir, dass mit der Entscheidung der „Söders“ zugleich eine Einzugsermächtigung erteilt wird, über die die Kosten abgerechnet werden, deren gigantische Höhe wir nur erahnen? Das mag sich wieder dem Verdacht aussetzen, eine kleingeistige, selbstsüchtige und unmoralische Aufrechnung des Rechts auf Leben vorzunehmen. Stellen wir die Frage besser anders: wussten wir, welches Leid wir (!) uns und anderen durch die Entscheidung der „Söders“ zufügen? Können die Söders die Verantwortung für ihre Entscheidungen tatsächlich übernehmen? Vermutlich werden sie „Ja!“ sagen und damit meinen, dass sie sich vor der Öffentlichkeit und der Wählerschaft rechtfertigen können. Ich will das mal „rausreden“ nennen. Lassen wir uns für einen kleinen Moment wieder auf die „Kostensicht“ zurückfallen: Wer trägt die Kosten? Wir. Würden die „Söders“ ihre Häuser verkaufen und ihre Vermögen auflösen, um den gefährdeten Risikogruppen größtmöglichen Schutz zu bieten? Würden sie ihre Kinder „enterben“ und sie darauf verpflichten, einen Teil ihres Lebens für die Rückzahlung der Hilfsleistungen zu verwenden? Im Moment schlägt das niemand der vergleichsweise gut abgesicherten „Söders“ vor. Was sie tun, ist ihnen vermutlich irgendwie sicht-, aber meist nicht wirklich spürbar. Würden wir, lieber Leser, unsere „Vermögen“ der staatlichen Obhut übergeben und in eine Grundeinkommensversorgung wechseln, um den „Krieg“ gegen COVID-19 bedingungslos führen zu können? Wir würden damit nicht nur unsere finanzielle Situation ändern. Wir würden uns in Versorgungsabhängigkeit bringen, die uns zu Antragsstellern für die eigene Lebensführung macht.
Die Frage ist keineswegs so absurd oder gehässig, wie es den Anschein erwecken mag. Peter Singer, ein Ethiker der zu den 50 einflussreichsten lebenden Philosophen gezählt wird (!?), fordert von den Angehörigen der entwickelten Ländern, alles Vermögen und Einkommen, was über dem Existenzminimum hinausgeht, den Hungernden dieser Welt abzugeben. Wenn neben uns jemand stirbt, so lautet das Argument, dürfen wir nicht wegschauen und auf andere Verantwortliche verweisen. Ich glaube, dass das eine unhaltbare ethische Position ist. Sie zu diskutieren wäre ein „weites Feld“. Die zeigt jedenfalls den slippery slope auf dem wir gerade gehen.
Markus Söder antwortete jedenfalls auf die Frage, ob die getroffenen Maßnahmen unseren Wohlstand dauerhaft senken, ehrlich und unverblümt mit „Ja.“ Sinkender Wohlstand – das mag nicht so schlimm sein. Wir können dann freilich auch weniger Geld für die „Volksgesundheit“ ausgeben! („No country has ever improved the health of its population by making itself poorer.“) Was wir jetzt tun, ändert die gesellschaftliche, soziale und wirtschaftliche Wirklichkeit von 80 Mio. Menschen. Wir taten und tun das im Hau-Ruck-Verfahren und sind stolz darauf, dass Demokratien genauso schnell entscheiden können wie Diktaturen (toller Benchmark!). Aber würden wir die schnelle Entscheidung eines Suizidgefährdeten zum Sprung von der Brücke wirklich loben? Würden wir ihm nicht flehentlich raten, alles noch einmal zu überdenken und sein Leben nicht wegzuwerfen? Bei seinem Freitod wäre er freilich weitgehend „frei“ über sich zu entscheiden. Hier wird über uns entschieden.
Nun ist der Vergleich mit dem Suizid zugegeben überspitzt – denn diese Gesellschaft wird den „Krieg“ ja überleben und ein Ende der Welt ist bei den größten COVID-19 Pessimisten noch nicht in Sicht. An der Überzeichnung zeigt sich freilich das Prinzipielle: Bei der Zu- und Verteilung elementarer (Über-)Lebensmitteln (seien es äußere, leibliche oder seelische) würden wir zu vor-sichtiger Besonnenheit und sorgfältiger Abwägung raten. Ist das geschehen? Wohl kaum? Und es wird auch von niemanden ernsthaft bestritten, dass die getroffenen Entscheidungen unter großem Druck und mit höchst unsicheren Zahlen getroffen wurden. Wir loben uns vielmehr, trotz Unsicherheit der Daten einschneidende Entscheidungen getroffen zu haben, deren Folgen wir z.Z. nur so weit „übersehen“, dass sie sehr sehr gravierend sein werden. Dass wir alle nichts sicher wissen und jeden Tag dazu lernen, wird als genereller Disclaimer für die Verantwortung ins Feld geführt: „Seid uns nicht böse, denn wir wissen nicht, was wir tun“!
Die grundlegenden Daten waren und sind nach wie vor höchst unsicher:
- die Anzahl der Infizierten ist unsicher („Durchseuchung“),
- es ist unsicher, wer an COVID-19 oder mit SARS-CoV2 gestorben ist, und
- wir wissen nicht, welchen (exponentiellen) Verlauf die Infektion genommen hat (die Zahl der Infizierten steigt mit der Ausweitung der Tests und bleibt in Verbindung mit (1) höchst unsicher).
Die Anzahl der benötigten ICUs (Intesive Care Units) lässt sich aus all dem nicht bestimmen. Gerade das sollte aber gesichert und norditalienische Verhältnisse vermieden werden.
Ich kann die Frage, welche Zahlen die richtigen oder wenigstens verlässlichsten sind, nicht entscheiden und will mich in die Diskussion darüber gar nicht einmischen. Schuster bleib bei deinem Leisten. Was mich verstört ist freilich der Umstand, dass alle Einwände umgehend als unwissenschaftlich abgetan werden. Erinnern wir uns an die Bekanntgabe der ersten Zwischenergebnisse, die sich aus der „Heinsberg“-Studie abzeichneten. Sie wurden prompt als unwissenschaftlich, methodisch fragwürdig und unseriös (ab-)qualifiziert. Die Studie wurde freilich nicht von spinnerten Verschwörungstheoretikern, sondern von anerkannten Meistern ihres Faches durchgeführt und lieferte Erkenntnisse, die sehr viel gesicherter waren als die, die dem Shut-down und den auferlegten Maßnahmen zugrunde lagen und liegen.
Als in Hamburg entgegen der eindringlichen Warnung des Robert-Koch-Instituts (RKI) Verstorbene obduziert wurden, die als „Corona-Tote“ galten, wurden die Ergebnisse umgehend als nicht repräsentativ abgetan. Niemand behauptet auf Basis von (zunächst) 50 obduzierter „Corona-Toten“ letzte Sicherheiten zu bekommen. Aber es lassen sich starke Indizien zur Bewertung der Krankheit gewinnen: Die Obduktionen zeigten, dass die Infektion mit dem Corona-Virus vor allem bei alten und/oder schwer vorbelasteten Menschen „zum tödlichen Verlauf [führt]– keine Frage. Aber das würden andere Virusinfektionen auch tun.“ (Klaus Püschel). Die inzwischen durchgeführten Obduktionen scheinen die Hamburger Ergebnisse zu bestätigen, werden aber mit dem Hinweis bei Seite geschoben, COVID-19 sei eine schwere, alle Gefäße betreffende Krankheit über deren Verlauf und (langfristigen) Schädigungen man eben noch zu wenig wisse. (John Lee formuliert dagegen etwas sarkastisch: „The most common symptoms are not fever, cough, headache and respiratory symptoms; they are no symptoms at all… To say this is not being uncaring: it is simply a fact of life that older people are more likely to die in any event, and especially more likely to die from new types of infection..“) Unverständlich bleibt allerdings, warum das RKI die Obduktionen nicht sofort angewiesen und stattdessen dringend davon „abgeraten“ hat. Das ist inzwischen– wie so vieles – zum Glück korrigiert.
Grundsätzlich dürften sich aus den Zahlen, die immer noch (höchst) umstritten sind, die dramatischen, Existenz gefährdenden und Grundrechte aufhebenden Maßnahmen nur schlecht herleiten lassen. Aber es gab die dramatischen Bilder aus Norditalien und New York. Diese Bilder waren handlungsleitend und gegen sie konnte die Unsicherheit der Zahlen und des verständigen Wissens nichts ausrichten. In Deutschland und in vielen anderen europäischen Ländern gab es nichts von dem, was die Bilder aus Norditalien, Spanien oder New York gezeigt haben. Keine Leichenberge und kein zusammenbrechendes Gesundheitswesen. Die „ferngesehenen“ Bilder waren vermutlich handlungsleitend. Wie irreführend das sein kann, zeigt folgende Überlegung: nehmen wir an, dass „Farbige“ auf den Corona-Virus (genetisch) anders reagieren als “Weiße“, dann lassen sich Maßnahmen, die in New York erfolgreich sein mögen, nicht auf Deutschland übertragen. Ohne die Gründe für die dramatische Situation in New York, Norditalien oder Spanien zu kennen, ist es sehr riskant, sie ohne Weiteres auf Deutschland zu übertragen – vor allem dann, wenn damit gravierende Schäden verursacht werden.
Verheerendes Risikomanagement
Ausschlaggebend wurde das Argument, dass wir mit Blick auf die Bilder trotz der unbestritten ungesicherten Datenlage „sicherheitshalber“ vom worst case Szenario ausgehen sollten. Das aber ist keineswegs vernünftig. Da hilft ein Blick ins Risikomanagement weiter.
Risiken beschreiben mögliche Schäden, also Zustände, die eintreten können und die wir als Schädigung erfahren. Das schädigende Übel wird dabei zwar häufig finanziell bewertet, grundsätzlich sind aber auch nicht-monetäre Güter betroffen (in der klassischen Dreiteilung der Güter in äußere, leibliche und seelische wie wir sie seit der antiken Philosophie kennen). Wir haben bei der Reise in bestimmte Länder z.B. ein gewisses Risiko an Malaria oder Hepatitis zu erkranken und jede (vorschnelle) Liebeserklärung setzt sich dem Risiko aus, einen gegebenenfalls blamablen „Korb“ zu bekommen. Schäden (und Übel) und die Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens können mehr oder weniger groß sein. Danach bemisst sich das Risiko.
Risiken sind freilich per se nichts Schlechtes. Risiken „gibt’s“ immer. Sie sind zwangsläufig mit dem Leben und Handeln verbunden. Sie können uns egal sein – und sind es meist auch, wir können sie lieben (no risk, no fun) zum Beispiel beim Klettern oder im Glücksspiel und wir können versuchen, sie zu begrenzen. Risiken lassen sich tatsächlich durch Maßnahmen begrenzen. Die Maßnahmen richten sich danach aus, ob wir die Eintrittswahrscheinlichkeit verringern oder die Schadenshöhe reduzieren können. Ein typisches Beispiel für die Begrenzung von Risiken ist eine Brandversicherung für das Eigenheim. Je nach Versicherungswert, also dem zu Grunde gelegten Schaden, berechnet sich Versicherungsprämie. Die Wahrscheinlichkeit, dass überhaupt ein Brand entsteht und sich ausbreitet, können wir durch Maßnahmen des Brandschutzes reduzieren.
Ein gutes Risikomanagement identifiziert Risiken und bewertet sie auf Maßnahmen, die getroffen werden können. Maßnahmen „kosten“ immer etwas: Zeit, Aufmerksamkeit, Energie oder Geld. Sinnvoll sind sie nur, wenn sie die Eintrittswahrscheinlichkeit oder die Schadenshöhe tatsächlich senken und nicht selbst zu einem höheren Schaden (ein größeres Übel) darstellen oder hervorrufen als das, was sie begrenzen wollen.
„Worst case-Szenarien“ können dabei sinnvoll sein – vor allem als erste Annäherung. Sie müssen aber spezifisch sein und durch andere Risiken ergänzt werden. Insbesondere müssen die Folgen bewertet werden, die es hat, den worst case abzuwenden. Sich an worst case Szenarien orientieren heißt in der Regel, die größtmöglichen „Kosten“ bei der Abwehr möglicher Schäden in Kauf zu nehmen. Es ist also keineswegs „naheliegend“, besonders fürsorglich oder wohlwollend, mal lieber vom Schlimmsten auszugehen. Ganz abgesehen, dass wir dann kaum mehr handeln könnten – denn das Schlimmste ist nicht zu übersehen –, vor allem können wir ein Risiko nur „managen“, wenn wir ein anderes eingehen. Wer vom worst case Szenario ausgeht, handelt alles andere als gut, nicht richtig und schon gar nicht angemessen.
Die Kunst eines Risikomanagers besteht nicht darin, das größtmögliche Risiko zu finden: das wäre immer der Weltuntergang! Der Fokus auf ein Risiko ist eben selbst ein Risiko. Ein Risiko nicht einzugehen, bringt meist zwangsläufig ein anderes hervor. Gesucht werden vertretbare Maßnahmen gegenüber „ernstzunehmenden“ Risiken.
Die Bewertung von Maßnahmen richtet sich nicht nur auf den Aufwand, sondern natürlich vor allem auf ihre Wirksamkeit. Die Maßnahme muss ihre tatsächliche Wirksamkeit zeigen, nämlich wie erfolgreich sie für den Schutz des gefährdeten „Guts“ wirklich ist. Die Maßnahme darf dabei keine verheerenden Nebenfolgen zeitigen, die das „Gut“ selbst aufheben: ein Museum, das für Besucher geschlossen wird, um es gegen Diebstahl zu schützen, ist z.B. vielleicht nicht die beste Idee.
Diese Frage stellt sich auch für die Epidemie-Bekämpfung, z.B. bei der Frage, ob bestimmte schwerwiegende Maßnahmen überhaupt greifen oder – grundsätzlicher – überhaupt notwendig sind. Das ist aber Sache der Viro- und Epidemiologen. Wie das bei der unsicheren Datenlage bei den Maßnahmen gegen COVID-19 erfolgen kann, ist (für den Laien) nicht immer plausibel. Die Ausgangsbeschränkungen des Shut-down sollten z.B. die Reproduktionszahl verkleinern. Nun zeigt sich freilich, dass die Reproduktionszahl bereits vor den Maßnahmen abnahm. Das würde bedeuten, dass der gewünschte Effekt nicht durch die einschneidende, Grundrechte „einschränkende“ Maßnahme verursacht wurde. Es wird nun argumentiert, dass die verpflichtende Ausgangssperre durch die freiwillige Zurückhaltung der Bevölkerung vorweggenommen wurde. Das bestätigt aber nur, dass die kostspielige Verordnung nicht not-wendig war.
Die „technische“ Effektivität viro- und epidemiologische Maßnahmen kann und will ich nicht beurteilen. Ob „technisch“ sinnvolle Maßnahmen rechtlich und moralisch erlaubt oder gar geboten sind, dazu kann der Viro- und Epidemiologe freilich als jemand, der „verständig“ über giftigen Schleim“ und seine Verbreitung zu reden vermag, nichts sagen. Die Angemessenheit der Maßnahmen ermisst sich vom „Maß“, dem sich die „Maßnahmen“ bedienen. Das Maß des Menschen ist vielleicht nicht der Mensch – vor allem aber nicht der „Zellverband“, die Masse von Biomaterial als die ihn der Virologe ja zwangsläufig beschreiben muss. Das ist keine Schelte der Virologen und auch schon recht keine für Christian Drosten, denn gerade er hat ja meines Wissens seine Ratschläge meist mit dem Disclaimer versehen, dass das andere entscheiden und verantworten müssten. Ich kann deshalb nur hoffen, dass Herr Drosten sich nicht wie 2008/2009 getäuscht hat. Damals mussten wir, wenn ich mich richtig erinnere, die vorausgesagte verheerende Epidemie nicht bekämpfen, sie blieb nämlich aus; stattdessen und mussten die teuren Impfmedikamente, die wir auf virologischen Rat gehortet hatten, teuer entsorgt werden.
Moralische Grenzen
Risiken gibt es immer viele – und aus vielen Perspektiven. Die Konzentration auf eine Perspektive macht blind gegen die Vielheit der gefährdeten Güter, die gegeneinander abgewogen werden müssen. Das ist besonders gefährlich, wenn die Minimierung des Risikos für einen „bedingten Wert“ auf Kosten von etwas geht, das unbedingten Wert hat und niemals einem „Nutzenkalkül“ unterzogen werden darf wie z.B. das Recht auf (selbstbestimmtes) Leben. Die Konzentration auf viro- und epidemiologische Fragen vernebelt hier unseren Blick. Z.B. wissen wir bei den ICUs, dass im Mittel nur etwa 5% der Behandelten sie überleben – und das mit meist bleibenden Schäden oder schwerwiegenden und langwierigen Behinderungen. Damit ist nichts gegen eine Behandlung in ICUs gesagt. Nur darf und sollte man annehmen, dass eine Reihe von Patienten eine künstliche Beatmung mittels einer Intubation unter künstlichem Koma nicht zustimmen würden. Aber natürlich wissen wir das nicht und können damit auch nicht „rechnen“. Wir gehen stattdessen davon aus, dass in jedem Fall die technologisch „fortschrittlichste“ Behandlungsmethode geboten und bereitzustellen ist.
Ganz ähnlich sieht es beim Schutz der „Alten“ und Pflegebedürftigen aus. In einigen Ländern wurden sie komplett isoliert. Was ist das für ein Leben, dass sich einzig auf die Vermeidung des Todes bezieht? Unsere (sterbenden) Alten am Leben zu halten und ihnen jede Möglichkeit zu nehmen, es gelingend zu leben und das heißt auch in freier Selbstbestimmung mit den ihren Angehörigen zu Ende zu bringen, kann ich nicht als fürsorglichen Schutz der Grundrechte feiern.
Natürlich steht es jedem frei, die Unsicherheit für sein Verhalten zu bewerten und daraus risikominimierende Maßnahmen abzuleiten – wie teuer die auch immer kommen. Entsprechende politische Entscheidungen sind dagegen kritisch, vor allem wenn – wie hier – Grundrechte betroffen sind.
Im Falle der Bekämpfung von COVID-19 sollte eine Aufrechnung des Lebens von Risikopatienten gegen den „größten Nutzen der größten Zahl“ vermieden werden. Zur Sicherung meines „Anwesens“ darf das Recht auf Selbstbestimmung meines Nachbarn nicht beschnitten werden. Seine Selbstbestimmung verbietet mir bestimmte Handlungen, gibt mir aber keine vor – seine Selbstbestimmung ist kein Außer-Kraft-Setzen von meiner. Es gibt eine wesentliche Asymmetrie: Ich darf den Nachbarn nicht an der Ausübung seiner Grundrechte hindern, ich muss ihn freilich nicht dabei unterstützen oder sie befördern. Selbst mein Nachbar – von den anderen 80 Mio. Mitbürgern zu schweigen – ist mir ziemlich egal und seine „Lebensziele“ muss ich weder gut finden noch kennen.. Z.B habe ich sein Recht auf körperliche Unversehrtheit unbedingt anzuerkennen, ich muss sein gesundheitliches Wohlbefinden aber nur unter sehr eingeschränkten Bedingungen fördern (bei Unfällen etc).
Tausende schwererkrankte Menschen sind auf Spenderorgane angewiesen. Spenderorgane sind knapp und mit dieser Knappheit muss vernünftig umgegangen werden. Das ist einer Triage vergleichbar. Wir können versuchen, die Knappheit der Ressourcen zu „verknappen“, z.B. indem wir für die Organspende werben oder gegebenenfalls (!?) eine Umkehr des Freigabeweges vereinbaren (z.B. eines Organspende-Ausweis, der erklärt, dass wir einer Organentnahme nicht zustimmen). Wir dürfen aber nicht einfach auf eine Organspende verpflichten oder gar – und das ist angesichts der politischen Reaktion auf COVID-19 Erkrankungen der bessere Vergleich – Organspenden einfach vornehmen. Die meisten haben zwei Nieren und können auf eine verzichten, die anderen nutzt. Und die „Spender“ würden weder in ihrer wirtschaftlichen Existenz vernichtet und noch in ihrem sozialen Leben und ihren elementaren Freiheiten beschränkt. Und doch gibt es kein Recht, auf die „Spende“ zu verpflichten.
Menschen mit schwerem Organversagen sterben. Wir können dagegen viel tun. Der Umstand aber, dass nicht alle, die ein Spenderorgan brauchen, eines bekommen, ist nichts „Unmoralisches“, so lange wir vernünftige, rechtlich und ethisch begründbare Regeln der Zuteilung einhalten – die natürlich umstritten sind. Der Umstand, dass Organe lebensbedrohlich versagen, verpflichtet niemanden zur Organspende, moralisch nicht und vor allem nicht rechtlich.
Anders liegt die Sache bei einer freiwilligen, wohl überlegten Spende für einen geliebten Menschen, in der Familie, bei engen Freunden und Angehörigen. Hier spüren wir eine (moralische) Verpflichtung, die sich aus der Nähe mit den „Unsrigen“ ergibt, sie zu uns gehören und in gewissem Sinne ein Teil von uns selbst sind. Das gilt für beliebige Andere nicht. Würden wir einem Spender vorwerfen, was fürs eigene Kind getan wird, nicht auch für Arbeitskollegen oder Nachbarn zu erwägen, die es gegebenenfalls auch dringend bräuchten. Nein. Die zweite Niere ist nicht Gemeingut. Und der menschliche Körper keine Ressource. Dass wir an Nierenversagen sterben können, ist eine Eigenschaft des menschlichen Lebens, aus der wir keine Ansprüche auf eine entsprechende Hilfsleistung fordern dürfen und können.
Wir sprechen von Hilfe vor allem dann, wenn wir zu ihr nicht verpflichtet sind, sich unsere Handlung also nicht aus einer rechtlichen Verpflichtung ableitet. Ich bitte meinen Nachbarn um Hilfe, weil ich weiß, dass ich kein Recht habe, sein Tun einzufordern. Für Hilfe bedanken wir uns, weil sie auf freiwilliger Zuwendung beruht, während Rechte auf etwas verpflichten. Aber auch die gern gewährte Hilfe hat ihre „Normalitätsgrenzen“: Wenn wir im Bahnhof einem Fremden gern helfen, den gesuchten Zug zu finden und ihn hilfsbereit vielleicht zum Bahnsteig begleiten, ginge es doch wohl etwas zu weit, wenn er uns bitten würde, ihn zu seinem Ziel zu begleiten und bei einer wichtigen geschäftlichen Angelegenheit zu unterstützen aus der sich dann weitere Hilfsgesuche an uns ergeben (Beaufsichtigung seiner Kinder, Unterkunft, Investitionshilfe für sein geschäftliches Vorhaben etc.) Wir würden das wohl unverhältnismäßig nennen.
Nur in bestimmten eng gesteckten Grenzen sind wir zur „Hilfeleistung“ verpflichtet (StGB §323c): und dabei kann eigentlich nicht von „Hilfe“ gesprochen werden, sondern nur von Handlungen, die unabhängig von der Einstellung der Handelnden zu vollziehen sind. Wir bedanken uns dann z.B. nur, wenn sie besonders engagiert oder in erkennbarer Hilfsabsicht ausgeführt werden.
Die Verpflichtung zur Hilfe ergibt sich nur, wo dies „erforderlich“, „den Umständen nach zuzumuten“ und „insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr (!) und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist“.
Die Hilfsverpflichtung darf insbesondere nicht die Aufhebung von Grundrechten voraussetzen oder hervorbringen! Die Grundrechte zu schützen kann nicht auf Kosten der Grundrechte gehen – oder umgekehrt ihre Aufhebung mit dem Schutz der Grundrechte begründet werden. Nicht das Recht zu haben etwas zu tun, was die Grundrechte anderer verletzt, bedeutet nicht, alles tun zu müssen, um sie zu schützen oder zu befördern.
Whatever it takes
Die Gesundheit eines Menschen zu retten, darf nicht den Tod eines anderen herbeiführen – das versteht sich von selbst. Um unbedingte Werte zu wahren ist nicht unbedingt alles erlaubt. Der Zweck heiligt die Mittel nicht! Über das Leben eines Menschen darf durch andere nicht verfügt werden (unmittelbare Notwehr ausgenommen); das bedeutet aber nicht, dass alles getan werden muss, um es zu erhalten.
„Whatever it takes“, nämlich „alles in unserer Macht Stehende zu tun“, um ein (politisches) Ziel zu erreichen. ist eine falsche technische Verengung. Nicht alles, was technisch möglich ist, sollten wir oder gar muss „man“ tun. Bei intensivmedizinischer Betreuung reden wir – technologisch betrachtet – meist über „high end“ Ausstattung für „außergewöhnliche Umstände“ und das unterstellt zugleich, dass sie nur begrenzt zur Verfügung gestellt werden kann und nicht den „Normalfall“ beschreibt. Je höher der Aufwand desto begrenzter die Ressourcen – wirtschaftlich und sozial, unter finanzieller und menschlicher Perspektive. Stellen wir uns als nächste Stufe der COVID-19 Behandlung die dauerhafte künstliche Beatmung vor (in Bauchlage ans Bett gefesselt), bei der das künstliche Koma wöchentlich für ein paar Stunden aufgehoben werden kann. Wollten wir so überleben? Der Frage, ob etwas erlaubt oder machbar ist, sollte die Frage vorausgehen, ob wir es überhaupt wirklich wollen (sollen). „Darf man hier besoffen ohne Helm einhändig Motorradfahren?“ – „Ja, vielleicht. Aber sollten wir’s tun?“
Die Frage, „Wie wir leben wollen?“ beantwortet sich nicht technisch. So richtig es ist, nicht alles aus wirtschaftlicher Perspektive zu, betrachten, so falsch ist es, scheint mir, sich nur von medizinischen oder gar virologischen Betrachtungen leiten zu lassen. Der Mensch ist Person und als solcher kein Zellverband, der virologisch geschützt werden müsste, „koste es, was es wolle“.
Allein die Vorstellung, ein Land von 82 Mio. Menschen „herunterfahren“ zu wollen, hat etwas Gigantomanisches, etwas paradox Absurdes. Wir reden aber von ganz Europa im Ausnahmezustand, mit Ausgangssperren und Kontaktverboten, Grenzschließungen und nationaler Abschottung. Glauben wir wirklich, dass das auf (längere) Dauer vernünftig und durchsetzbar ist – zum Beispiel bis das Impfmittel zur Verfügung steht?
Nehmen wir an, die Infektionszahlen steigen wieder stark an und die befürchtete zweite Welle erreicht Europa: wie lange wollen wir uns „Stilllegen“? Bis chronisch Erkrankte an medizinischer Unterversorgung in „spürbarer“ Zahl leiden oder sterben, das Licht ausgeht (oder das Internet) oder bis die ersten verhungern? In England drohen die Gewerkschaften der Regierung damit, so lange nicht mehr zur Arbeit zurückzukehren, bis die Regierung das Virus „besiegt“ hat und „sichere Arbeitsbedingungen“ gewährleisten kann (Observer vom 10.5.2020). Gute Idee. „Versorgt“ werden sie dann wie von selbst?– und gegebenenfalls auftretende Versorgungslücken müsste die „Regierung“ natürlich irgendwie schließen? Poor „Labour“, „Unison“ „Unite“.
Leben mit der Krankheit
Es ist zweifelsohne richtig, menschliches Leben (absoluter Wert mit Würde) nicht gegen wirtschaftliche Güter (relativem Wert für selbstbestimmte Personen) abzuwägen. Der Schutz des menschlichen Lebens ist moralisch geboten und rechtlich verbrieft. Eine technische Verengung des Blicks aufs biologische Überleben aber ist falsch. Auch der Schutz tierischen Lebens und aller leidenden Kreatur ist geboten. Und beim Schutz des tierischen Lebens erkennen wir vielleicht sogar noch besser, was diesen Schutz begründet und ausrichtet. Das Recht auf Schutz entspringt der Natur des Lebewesens, nämlich sein Leben unter natürlichen Umständen in bestimmter Weise leben zu können – nämlich so wie es seiner Natur entspricht. Bei Tieren sprechen wir von artgerechtem Leben. Zwischen dem reproduktiven Stoffwechsel des bloßen Lebens (ζῆν) und guten Leben zu unterscheiden (εὖ ζῆν in einem βíος), das ist der Grund jeder ethischen Überlegung. Ein Hund kann künstlich ernährt, an einen Behandlungstisch gefesselt und mit Schmerzmitteln „beruhigt“ überleben; er führt dabei wohl ein grausiges Hundeleben. Bei Tieren bestimmen wir – hoffentlich nach bestem Wissen und Gewissen – welches (Über-)Leben ihm zumutbar ist und bewegen uns da bei Nutz- und Haustieren aus eigenen Interessen nicht selten auf einem gefährlichen Terrain. Bei Menschen bestimmen die Menschen selbst, was für sie ein lebenswertes Leben ausmacht.
Natürlich steht es niemanden zu, das Lebensideal anderer zu bestimmen. Wer sein Leben unter der Maxime führen will, so lange wie möglich zu überleben, dem steht das natürlich frei. Allerdings darf er damit nur bedingt Einfluss auf die Lebensführung anderer nehmen. Und diese Maxime versteht sich nicht von selbst. Es ist die Würde freier Wesen, sich in ihrer Freiheit anzuerkennen und konfligierende Sichten über das, was es heißt, „gut zu leben“, würdevoll auszutragen – und das ist nichts anderes als die Anerkennung der eigenen Endlichkeit in einer Welt, die nun mal so ist wie sie ist.
Der Mensch ist ein politisches Wesen, ein Wesen, das in Gemeinschaft lebt und dessen Wesen, dadurch bestimmt ist. Darin gründen die Grundrechte, die wir respektieren müssen. Dabei gilt Schonung vor Beförderung oder Steigerung: Meine Handlung darf die Grundrechte anderer nicht beeinträchtigen. Aber beeinträchtigte Grundrechte anderer (z.B. durch andere oder die beklagenswerten Umstände des Lebens) verpflichten mich nicht „alles Mögliche“ zu tun, insbesondere nicht, wenn ich damit meine Grundrechte aufheben würden.
Menschliches Handeln ist wesentlich begrenzt. Verantwortung bezieht sich auf diese Grenzen. Wir können nicht alles sehen – ohne das Wesentliche, das (per de-finitionem) in der Begrenzung liegt, zu über-blicken. Wer alles sehen will, sieht von sich weg. Das gefährdet die ethische Beurteilung.
Das christliche Liebesgebot z.B., den Nächsten wie sich selbst zu lieben, setzt Nähe und Vertrautheit voraus: Nähe zum Nächsten und dem Sich-Erleben in der menschlich-sozialen Praxis mit ihm. Um dem Nächsten wohl zu wollen und zu tun, braucht es die Erfahrung des gemeinsamen Wohls, der wirklichen Begegnung.
Liebe braucht personale Nähe. Den Nächsten, in der Nähe Erfahrenen, ist nicht ein abstrakter Punkt in einem mathematischen Modell, einer mathematischen Simulation. Unser Leben ist keine Simulation. Es ist echt und es ist sterblich. Denken „heißt“ aus der wirklichen Begegnung denken. Gleiches gilt vom Handeln. Der technische Nutzenkalkül kennt keine Grenzen. Die Würde schon. Würde lebt von unserer Endlichkeit. Sie begegnet mir. Wo sie mir nicht begegnet – in Zahlen und Technologien – kann sie auch nicht gewürdigt werden und verschwindet im technologischen Kalkül. Was uns nicht alles schadet. Wofür? Das gute Leben, das Mehr an Leben, entgeht dem Virologen per Konzentration auf seine Aufgabe, das schiere Leben zu untersuchen. „Diese Auffassung läßt“ wie es Robert Spaemann schön formuliert, „keinen Platz für das, was für alle bisherige Ethik charakteristisch war und was die Griechen als αἰδώς, als Scheu oder Scham bezeichneten, also ein Gefühl dafür, dass dem Menschen bei der Verfolgung seiner Ziele Grenzen gesetzt sind.“
Menschen sind keine reinen „Geistwesen“. Wir haben einen Leib, sind sinnlich leibhaftige Wesen. Genau deshalb ist der Schutz der Gesundheit so wichtig. Wir schützen unsere leibliche Gesundheit, um leibhaftig zu leben. Menschliches Leben ist soziales Leben und menschliche Begegnungen sind berührend. Menschliche Begegnung und Berührung unter Strafe zu stellen ist – vorsichtig gesagt – irritierend und irritierend ist vor allem, dass sich so wenige von diesem Verbot irritiert zeigen. Mit der epidemiologischen Technik des „social distancing“ dürfen wir uns nicht ins unmenschliche Dasein schützen. Wenn wir auf „social distancing“ politisch-rechtlich verpflichten geben wir zugleich vor, was unser Dasein ausmachen soll – nämlich das schiere Überleben.
Wir sind soziale Wesen im leiblichen miteinander. Was uns ausmacht erkennen wir nur in der leiblichen Begegnung mit anderen. Menschliches Leben kennt Nähe und Ferne. Und wir können nicht alles ent-fernen, und das Nähste fern-sehen. Das Nähste berührt und lebt von Berührung. Daher rührt unser moralischer Sinn. „Social distancing“ dagegen entmoralisiert.
Wir können die Krankheit nicht ausrotten: diese Virus-Erkrankung nicht und auch nicht all die anderen todbringenden. Wir müssen mit ihnen leben – so gut es geht. Und gut heißt nicht zuletzt akzeptieren, dass es sie gibt und unser Leben nicht erst dann (wieder) anfängt, wenn sie besiegt sind (durch ein Medikament oder durch ein Impfmittel).
Das Leben selbst ist nicht heilig. Es wird durch anderes geheiligt. Schutz des Lebens ist kein Lebensziel. Das Leben ist zwangsläufig endlich und deshalb, müssen wir es würdevoll und vernünftig führen. Letzte Gründe kann es bei all dem nicht geben. Eben das „begründet“ die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen und seine Würde, sein Leben als sterbliches zu führen. „Wir schaffen das“ „whatever it takes“ ist eine Ermächtigung, die wir unseren politischen Vertretern nicht geben sollten.
Die Links dieser Seite wurden zuletzt am 13.05.2020 überprüft.
© 2020 Heinrich Leitner | Bildnachweise