Bei Musil ist nichts zu holen

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In Kriegszeiten ist was zu holen. Auch die, die unter Krieg und Vertreibung zu leiden haben, können bei günstigen Umständen und ein bisschen „Kunstfertigkeit“ noch etwas gewinnen. Daniel Wilde muste Deutschland verlassen. Es verschlug den in der Nähe von Ochersleben geborenen in die USA, er wurde US-Bürger und Geschäftsmann. Auf den Handel mit Kunst spezialisiert. Mit dem neuen Pass besuchte er als Dan ˈwaɪɫd, wie er sich jetzt nannte, 1942 die von den Nazis nicht besetzten Gebiete Europas, Südfrankreich, Portugal, Spanien, Schweden und die Schweiz. Es gab dort viele Flüchtlinge mit leeren Taschen, aber einiges zu kaufen, Kunstwerke z.B., die zu Kunstschätzen zu werden versprachen. Ein Tipp führte ihn in einen Vorort von Genf. Dort sollte ein verarmter, sterbenskranker Künstler wohnen, ein Schriftsteller, mit einem vermeintlich großen Werk. „Er hatte sich vorgenommen, sich für den seltsamen Mann Zeit zu lassen, dessen Werk kaum aktuelle Leser hatte, obwohl sich der Titel seines Werks in der Welt wie ein Stichwort verbreitet hatte.“ Aber „er sah rasch, daß es hier nichts zu kaufen gab. Der störrische Mann, den die Folgen eines Schlaganfalls plagten […], befaßte sich mit Reinschriften früher verfasster Kapitel eines großen Romans, der nicht abgeschlossen war“ und niemals fertig werden sollte. Der Roman kreiste um den 1. Weltkrieg, genauer den Weg zu ihm. Dafür gab es „auf dem US-Markt“ kein Interesse. Ansonsten hätte man vielleicht Manuskripte kaufen können, die die Entstehungsgeschichte abbilden oder Briefe, die mit anderen Schriftstellern – der Autor war ja dereinst gut vernetzt – darüber ausgetauscht wurden. Aber da gab es absolut nichts, was man verwerten konnte. Dan „hätte dem kranken Alten gern geholfen. Es gab aber nichts in diesem Haus zu finden, außer dem Haus selbst, für das er einen Preis hätte machen können. Hinzu kam, daß Wilde den Eindruck hatte, daß der störrische Mann nichts verkaufen wollte.“ Nach dem 1906 veröffentlichten Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, der ihm einigen Erfolg und viel Anerkennung brachte, veröffentlichte der inzwischen exilierte Autor 1930 im Verlag des ihn lange Zeit umsorgenden Verlegers Ernst Rowohlt den ersten Teil von Der Mann ohne Eigenschaften an dessen Fortsetzung er bis zu seinem Tod arbeitete. Der Mann ohne Eigenschaften wurde zwar von der Kritik gelobt, aber vom zahlenden Publikum nicht groß beachtet. Er geriet in Vergessenheit. Aber auch nach seiner „Wiederentdeckung“ in den 50iger Jahren wurde das nicht wirklich anders: Der Mann ohne Eigenschaften galt als große Kunst, die zu groß ist, um wirklich gelesen zu werden. Man gab ihn zur entsorgenden Aufbewahrung ins unermesslich-verschlungene Archiv der Geistesgeschichte, das von staatlich dotierten Geisteswissenschaftlern verwaltet und gelegentlich mal neu sortiert wird. 

Was aus Dan Wilde wurde, weiß ich nicht. Vermutlich wurde er reich und hat vielleicht ein Museum für zeitgenössische Kunst gegründet? Der Autor, ach jetzt hätt’ ich fast vergessen seinen Namen zu nennen, Robert Musil natürlich, aber den kennen Sie ja eh aus dem Deutsch Unterricht, starb ein paar Wochen nach dem Besuch des Kunsthändlers am 15. April 1942. Es ist ihm erspart geblieben, sein ungelesenes Werk als Meisterwerk der Moderne geehrt zu finden. 

Die Geschichte ist nachzulesen als Ein Besuch bei Robert Musil im Jahre 1942 bei Alexander Kluge, Chronik der Gefühle, Bd. 1 (2000), S. 98ff. 

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