Geplante Obsoleszenz

Lesedauer 4 Minuten

Das Jean Paulsche Schulmeisterlein Wutz, ob aus Geiz oder aus Armut, „schrieb“ sich die Bücher selber, die es von anderen lesen wollte.[1] Das ist etwas mühsam, aber hat auch seine Vorteile. Man denkt richtig mit oder besser voraus. Machen Sie doch einfach mal den Selbstversuch. Z.B. „Kritik der praktischen Vernunft“ – gut da wissen Sie jetzt vielleicht schon einiges, aber … wenn’s Sie die kantische noch nicht gelesen haben, dann könnte es eine inspirierende eigene werden.

Aber kommen wir zur Sache, was schreiben sie unter dem Titel „Materialermüdung“? Schon der Titel lässt die Phantasie erblühen. Vor allem dann, wenn es sich nicht um ein Lehrbuch der Werkstoffwissenschaften, sondern um einen Roman handeln soll. Bei Dietrich Brüggemanns 2022 erschienen Roman[2] ist es eine Geschichte um Liebe und Freundschaft. Oh je, sagen Sie. Ja, man muss Schlimmes befürchten.

Dietrich Brüggemann

Bei Brüggemann tauchen wir in das Berliner Milieu ein. Drei Freunde, die was mit Medien machen: Jacob, der Musiker, der sich in einem Teilzeit-Job bei einer hippen Musik-Software-Agentur verdingt, seine Freundin Maya, die in einem Theater-Kollektiv vom freien Theater träumt und Moses, der für einen befreundeten Immobilienmakler die Geschäftsobjekte adressatengerecht medial aufbereitet. Sie stolpern durch ihr Leben, verlieben sich neu, geraten in Verwirrung und halten sich an ihrer alten Freundschaft fest. Jacob sucht dafür den Sound und Maya eine dramatisierbare Idee. Eine, im Berliner Theater-Universum etwas abgenutzte, die aber immer noch „funktioniert“, wäre „irgendwas“ mit Flüchtlingen, also Geflüchteten. Und wie wärs mit etwas zur „Wegwerfgesellschaft“ oder eben zur „Planned Obsolescence“? Das ist die von den Herstellern ausdrücklich gewollte und herbeigeführte begrenzte Haltbarkeit ihrer Produkte, um so neue Kaufanreize zu schaffen. Z.B. einigten sich die Elektrokonzerne im sogenannten Phoebuskartell – Achtung, belegte Verschwörungstheorie – darauf, die Lebensdauer der Glühbirnen auf maximal 1.000 Stunden zu begrenzen. Das könnte nun auch zur Idee fürs Theater taugen:

„‚Geplante Obsoleszenz‘, begann sie, hatte dabei keinerlei Ahnung was sie als nächstes sagen würde, und dann sagte sie: ‚Alles, was wir kaufen, geht kaputt. Oder wir müssen es wegwerfen, obwohl es noch funktioniert, weil es nicht mehr mit der neuen Software kompatibel ist. Unsere Möbel sind aus Pappe, unsere Geräte sind aus Plastik, die Kabel lösen sich nach anderthalb Jahren auf und die Sofas brechen in der Mitte durch.‘ ‚Das haben wir so ähnlich schon mal versucht – ‘, unterbrach Natalie [die Theater-Agentin, bei der das Kollektiv um einen „Auftrag“ wirbt] sie, doch Maya unterbrach sie wieder und rief: ‚Ich bin noch nicht fertig! Das ist nur die eine Hälfte. Die andere Hälfte ist die Frage, ob die geplante Obsoleszenz wirklich geplant ist oder ob das selber wieder nur eine Verschwörungstheorie ist und in Wahrheit niemand einen Plan hat. Unser Stück spielt in einer WG. Da wohnen vier Leute, die stellvertretend für die vier Himmelsrichtungen der Gesellschaft stehen – einer arbeitet in der Politik, einer in der Wirtschaft, einer in den Medien und einer in der Kultur. Eines Tages geht der Milchschäumer in der Küche kaputt. Es ist der siebte Milchschäumer in drei Jahren. Daraufhin beschließt einer unserer Mitbewohner, der Sache auf den Grund zu gehen, und entwickelt eine Verschwörungstheorie, in der die gesamte Weltwirtschaft auf geplanter Obsoleszenz beruht. Ein Auto könnte eigentlich hundert Jahre halten und ein Handy fünfzig, solange man nicht mit dem Auto drüberfährt. Er überzeugt eine seiner Mitbewohnerinnen davon. Die anderen halten die Idee für bescheuert. Aber der Typ ist nicht mehr zu stoppen. Und währenddessen geht dauernd alles kaputt. Die Beziehungen der Leute gehen kaputt, die Wohnung selber geht kaputt, der Theaterabend geht auch kaputt, das Licht geht aus und die Schauspieler vergessen ihren Text. Und am Ende steht die Frage: Ist die Menschheit nicht selber obsolet? Haben wir unser Verfallsdatum erreicht und gehen jetzt kaputt? Und wenn, dann jetzt gleich zum Schlussapplaus, oder geht erstmal jeder nach Hause und geht dann alleine kaputt?

Schöne Idee, oder? Wie schreibt ihr Schulmeisterlein Wutz die Geschichte weiter? Wie’s bei Dietrich Brüggemann weitergeht darf ich natürlich nicht verraten, nichts über die Flucht aus dem materialermüdeten Berlin und nichts über das Sich-Finden in Geschichten, auch der großen Schöpfungsgeschichte. Oder doch so viel darf ich verraten: die Geschichte ist spannend und witzig, ein Schatz an immer neuen kleinen und großen Einsichten, solche, die das Beziehungsleben betrifft, und solche, die die Welt unseres nicht nur berlinernden Alltags und die große Weltlage im Ganzen betrifft. Dieser Roman zur Materialermüdung leidet mit seinen knapp 500 Seiten nicht darunter und hat keine ungeplante Obsoleszenz. 

Venus und Mars (1485) von Sandro Botticelli

Maya hatte mit Jacob belebenden Sex. Sie nimmt ihr Notizbuch und notiert ihre Theateridee. Jacob dagegen … – Sie erinnern sich an Botticellis Venus und Mars?! –, „Jacob lag immer noch auf dem Bett und schlief. Sie wollte ihn wachrütteln und rufen Wach auf! Die Welt ist in grundlegender Unordnung! Wir dürfen nicht schlafen, bevor wir nicht alles in Ordnung gebracht haben! Und dann stellte sie sich vor, wie Jacob sie schlaftrunken anschauen und sagen würde: Fang doch schon mal an. Oder er würde sagen: Schlaf gehört auch zu den Sachen, die in Ordnung gebracht werden müssen. Jacob war nicht existentiell wachrüttelbar.“ Die Materialermüdung rüttelt uns vielleicht nicht „existentiell“ wach. Brüggemann zeigt mit ihm aber, wie wichtig (solche) Geschichte für unsere Existenz und gegen die Materialermüdung sind. Also: Leseempfehlung.

[1] Jean Paul, Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal (1793), Sämtliche Werke, Abt. I, Bd. 1, S. 422ff. 
[2] Dietrich Brüggemann, Materialermüdung, 2022.

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