Die antiken Götter sind vor allem eines: wirksam. Vor Nebenwirkungen wird nicht gewarnt. Sie sind ihnen egal. Wenn der Nordwind über die Ebene fegt, dann kann man sich nur wegducken. Der manchmal eisige Wind aus dem Norden mag einem nicht gefallen, aber er weht im Streit mit seinen Brüdern über uns hinweg und zwingt uns, sich ihm zu fügen. Man kann sich natürlich wünschen, dass er nur ein laues Lüftchen wäre, aber dann wär’s eben nicht mehr Boreas. Das Leben ist kein Wunschkonzert – auch für Boreas nicht.
Er ist, was er ist, und das ist er, nicht ohne seine Brüder, Euros, Notos und Zephyros, mit denen er im ständigen Streit liegt. Boreas ringt mit den Brüdern und damit um sich. Nur in Auseinandersetzung mit ihnen kommt er zu sich und zeigt in diesem Kampf der Kräfte sein wahres Wesen.
WIR LESEN OVID
Ovids Metamorphosen sind ein lesenswerter Klassiker. Wir lesen Stück für Stück die fünfzehn Bücher in kleinen überschaubaren Abschnitten. Können wir Philosophisches zur Zeit daraus lernen? Finden Sie’s raus und lesen Sie mit! Das geschah bisher.
Der Nordwind hat seine Zeit, in der er die anderen überragt. Aber das währt nur eine kurze Spanne. Kaum hat sich einer der Brüder durchgesetzt und zeigt seine wesenseigene Kraft, gewinnt wieder ein anderer die Oberhand. Der aus dem Westen kommende, kühle, aber feuchte Zephyros setzt Boreas als „Frühlingsbote“ und „Reifer der Samen“ mächtig zu, muss aber bald schon dem schwül heißen Notos weichen, der die Früchte reifen lässt und dann spätsommerliche Gewitter heranführt. Und schließlich werden unter dem Einfluss des östlichen Bruders die kühl herbstlichen, früchteschüttelnden Stürme heranführt und Nebel ziehen übers Land. Alle sind in beständigem Ringen. Auch der Frühsommer kennt frostige Winde und im April, „der nicht weiß, was er will“ geht eh’ alles sprichwörtlich durcheinander.
Vom Südwind hatte Ovid im ersten Buch berichtet. Juppiter hatte ihn dort zu Hilfe gerufen, um die Sintflut über die Länder zu bringen: Dazu musste er zunächst „den Nordsturm und alle Winde, die heraufgezogene Wolken vertreiben,“ in „den aeolischen Höhlen“ verschließen, um dann den Südwind ungestört loslassen zu können.
„Der Südwind fliegt auf feuchten Schwingen heraus, das furchterregende Gesicht mit pechschwarzer Finsternis bedeckt. Der Bart ist schwer von Regen, vom grauen Haar fließt Wasser, an der Stirn ruhen Nebelschwaden, von Tau triefen die Federn und das Gewand. Kaum hat er mit der Hand die weit und breit am Himmel hängenden Wolken gepreßt, platzen sie mit Getöse; dann gießt es vom Himmel in Strömen.“[1]
Boreas ist dagegen kalt und trocken. Mild kann er wo wenig sein wie feurig und überfließend, er würde dann von einem seiner Brüder verdrängt.
Als Boreas nun die schöne Orithyia sieht, verliebt er sich in sie und will sie zur Frau nehmen. Also versucht er beim Vater Erechtheus, dem König von Athen, um sie zu werben. Erechtheus ist der Erbe seines Vaters Pandion, der dem Unglück der Töchter den Weg bahnte, obwohl ihm Böses zu ahnen schien: er hatte zunächst seine Tochter Procne dem Schurken Tereus zur Frau gegeben hatte, weil dieser ihm gute Kriegsdienste leistete, und ihm dann noch seine Tochter Philomela anvertraut. Erechtheus zögert deshalb, dem stürmischen Verehrer, der wie Tereus aus dem Norden kommt, die Tochter zur Frau zu geben.
Gerechtigkeit oder Macht, Schmeicheleien oder Gewalt?
Von Ovid wird augenzwinkernd angemerkt, dass man nicht wisse, ob die Stärke des Erechtheus mehr in Gerechtigkeit oder in Waffen gründe – wie das wohl für die meisten „dubiosen“ Herrscher und z.B. auch für Octavian gilt; den Zweifel formuliert Ovid wieder herrlich, indem er der Gerechtigkeit gleich den Zweifel beiseitestellt: iustia dubium validisne potentior armis.[2] Zweifel sind an der Gerechtigkeit der politischen Herrschaft immer angebracht vor allem wenn es für sie ums Ganze geht und es für sie keine roten (naturrechtlichen) Linien mehr gibt.
Boreas hat mit Schmeicheleien und freundlichem Bitten keinen Erfolg. Wie sollte er auch? Das „ist nicht sein Ding“. Er muss einsehen, dass er mit Verstellung keinen Erfolg hat (und haben kann), denn seine Wesensart ist der „Zorn“ (horridus ira): „Ja, es geschieht mir recht!“, gesteht er sich ein, „Warum habe ich meine Waffen beiseite gelassen: Wildheit, Gewalt, Zorn und stolze Drohungen? Habe mich aufs Bitten verleg, das mir schlecht zu Gesichte steht? Zu mir passt Gewalt (apta mihi vis est): Mit Gewalt verjage ich die finsteren Wolken, mit Gewalt peitsche ich das Meer auf, entwurzele knorrige Eichen, lasse Schnee verharschen und Hagel auf die Erde prasseln. Und habe ich einmal unter freiem Himmel – denn das ist mein Tummelplatz – meine Brüder getroffen, ringe ich mit solcher Anstrengung, daß der Äther in unserer Mitte von unseren Zusammenstößen dröhnt und daß aus dem Innern der gepreßten Wolken Blitze hervorspringen.“ Er hätte Erechtheus nicht lange bitten, sondern ihn einfach zum Schwiegervater machen sollen (socerque / non orandus erat mihi, sed faciendus Erechtheus).[3]
So entführt er „liebend die zu Tode erschrockene Orithyia“ und macht sie zur Mutter von Zwillingen, die der Mutter erst völlig gleichen, dann aber im Jünglingsalter „nach Vogelart“ Federn um die Hüften bekommen und sich damit den Wesen angleichen, die sich in den Lüften tummeln. Der Verwandlung der Söhne geht die bekehrende Besinnung, der Gesinnungswandel des Vaters, voraus.
Nichts Besonderes – und nichts Philosophisches
Für Ovid ist das Schicksal Orithyias am Ende des sechsten Buches nur eine mehr oder weniger elegante Gelegenheit, auf den nächsten Sagenkreis des siebten Buches überzuleiten, nämlich die Argonauten und ihrer Jagd auf das goldene Vlies. Sie wird uns zu Medea führen, die uns in einem großartigen inneren Monolog noch einmal die unbarmherzige Gewalt göttlicher Kräfte vor Augen stellen wird. Wir werden dort einen Sturmwind ganz anderer Art erleben, gleichsam einen inneren, der dem Menschen von Natur mitgegeben zu sein scheint, ihn immer wieder hin und her reißt und vor allem zu entsetzlichen Taten verführt.
Ovid erzählt vom Wirken des Gottes und dem hilflosen Ausgeliefertsein des Menschen ohne jede (moralische) Empörung wie von einer Selbstverständlichkeit.[4] Das Wirken der Götter wird unaufgeregt festgestellt.
Die Philosophen haben schon früh begonnen, das göttliche Wirken „moralisch“ zu beurteilen. Platon z.B. ließ seinen Sokrates immer wieder dafür streiten, dass die Götter „gut“ seien und ihnen nichts „Schlechtes“ zugeschrieben werden dürfte. Das stimmt in gewisser Weise und geht doch an ihrem göttlichen Wesen vorbei. Anders als das menschliche Leben ist ihres nicht gefährdet. Das menschliche Leben kann gelingen oder scheitern. „Dinge“ sind mehr oder weniger gut für uns – und so die Gründe, die uns zu etwas zu- oder abraten. Die Philosophie strebt nach dem Guten, Wahren und Schönen, weil wir es noch nicht haben, und sucht nach guten Gründen, das eine zu tun und das andere zu lassen. Für die Götter gibt es keine „guten Gründe“, keine logoi, an denen sie ihr Wirken ausrichten könnten. Es gibt für sie nicht etwas, das gut für sie wäre und ohne das sie ihr „Leben“ verwirkten. Sie sind der Grund ihres eigenen Wirkens. Ihr Wesen bestimmt ihre Wirkung. Und darin sind sie auch uns ein Maßstab: zu handeln wie die Götter hieße für uns mit guten Gründen unserem Wesen gerecht werden. Aber das ist Philosophie und nicht die Sache Ovids.
[1] Cf. I 264ff.
[2] VI 678.
[3] VI 700f.
[4] Wir würden heute wohl das Opfer beklagen und es natürlich in Orithyia sehen. Das ist freilich nicht das römische Verständnis: Boreas wirbt für sich nicht bei Orihtyia, sondern beim Vater um sie. Ihm gelten seine Schmeicheleien, die schließlich durch Gewalt ersetzt wird. Der Vater wird beraubt, denn Orithyia hätte sich dem Diktum des Vaters eh’ fügen müssen …