„Ein Buch, das Theorien enthält, ist wie ein Gegenstand, an dem noch das Preisschild hängt.“[1] Frei nach Proust schmücken meine Texte rote Aufkleber, die gegenüber den Gestehungskosten einen Sonderpreis versprechen. Diese Kennzeichnung wird rechtlich durch den Stempelaufdruck „Mängelexemplar“ abgesichert. Das finde ich angemessen. Nicht wegen der Theorielastigkeit, die ich mir gerne zu Gute halten und zur Schau stellen würde. Ich halte die Sonderkonditionen eher mit Blick auf diejenigen für mehr als gerechtfertigt, die wirklich etwas zur stauenden Ansicht geben und bedeutungsvolle Aussichten eröffnen. Theorie, θεωρία, das ist die unverstellte Schau auf das, was die Welt, in der wir leben, ausmacht und uns entscheidend bestimmt. Im Theater des Lebens nehmen wir uns zurück, lassen unsere Rollen ruh’n und werden zum Zuschauer des Welt-Schauspiels, von dem wir nicht sagen können, ob es mehr einer Komödie oder einer Tragödie gleicht. Die großen Theoretiker bringen die Welt zur Aufführung. Zu ihnen darf man die großen der Philosophie, aber wohl auch Proust selbst rechnen. Wir nehmen dank ihrer dann die Dinge so wahr, wie sie sind. Wir lassen alles sein, lassen uns leiten und schauen zu. Prousts Verdikt gilt überhaupt nur für solche „Mängelexemplare“, die auf Theorien verweisen, die etwas zeigen, was sie selbst nicht zeigen können und meist nicht einmal eigenständig wahrnehmen. Es lohnt deshalb mehr, die Heideggers und Gadamers, Habermas, Wielands und Spaemanns zu lesen als runtergesetzte „Mängelexemplare“ – von den großen der Philosophiegeschichte mal ganz zu schweigen.
Es ist vielleicht ein Vorteil des Alters, dass mit ihm die Gefahr abnimmt, sich „theoretisch“ zu überschätzen. Man erkennt mit den Jahren die eigene, von Proust beklagte „theoretische“ Armut, doch mehr über Theorien zu schreiben als die Welt „theoretisch“ zu erschließen. Man tut gut daran, sich zurückzunehmen und stattdessen zu versuchen, für die „Aufführungen“ der „wahren“ Theoretiker ein paar verständige Zuschauer zu gewinnen. Das ist doch auch was, oder? Eben ein „Mängelexemplar“, das seinen Mangel offen ausweist. Ja, wird mir entgegengehalten, schon. Aber dann müsstest Du auch so schreiben! Und das klingt bei Dir doch aber nicht selten ganz anders … Ehrlich? Das ist ja toll. Gut, dass das Preisschild und der Nachlass gut sichtbar sind, dann kann ich noch ein paar „theoretische“ Sachen machen und zum Beispiel mal irgendwann ganz hemmungslos für Proust werben.
[1] Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. VII: Die wiedergefundene Zeit, 1957, S. 307.