Wissen, was man meint

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Was eignet sich am besten für eine Komödie? Ein ernster Stoff, der weil man ihn falsch anpackt und z.B. allzu ernst nimmt, komisch wird. Nichts besser als ein Tölpel, der die wichtigen Dinge des Lebens mit Übereifer so angeht, dass sie ihm immer entgehen. Die Prinzipien, die er reitet, bringen ihn zum lächerlichen Fall. Was allen klar ist, das wird ihm zum Problem, weil er es besonders genau und konzentriert machen möchte. Darin liegt auch das Tragische, das jeder echten Komödie innewohnt. In der Komödie endet das freilich nicht böse, sondern mit der lachenden Einsicht, es anders, nämlich richtig und weniger besessen zu machen.

Vom Mythos zum Logos

Platon hat solche Komödien geschrieben. Platon, der Philosoph, zu dessen Werk die Philosophiegeschichte nur mehr Fußnoten lieferte? Ja, genau der. Von ihm stammt z.B. der Dialog Euthyphron, also das Gespräch, das Sokrates mit dem titelgebenden Euthyphron führt, von dem wir nicht wissen, ob es ihn wirklich gegeben hat. [1]  Und die Sache, die er darin verhandelt, ist für die Kultur- und Geistesgeschichte von kaum zu überschätzender Bedeutung. Es geht um das Verhältnis von Glauben und Wissen, Mythos und Vernunft, Religion und Wissenschaft. Philosophie, als deren „eigentlicher“ Begründer Platon verstanden werden kann,[2] versteht sich in kritischer Abgrenzung zum Mythos. „Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates“ führt Vom Mythos zum Logos, so der programmatische Titel eines Werks des Altphilologen Wilhelm Nestles. Sie findet in Platon ihren richtungsweisenden Ausdruck.[3]

Der Dialog Euthyphron liefert ein für die „Selbstentfaltung“ von Vernunft und Wissenschaft entscheidendes, ja revolutionäres Argument. Er wird zu den Frühdialogen Platons gerechnet und endet „offen“ und ohne abschließendes Ergebnis. Er zeigt dabei die Charakteristika der sogenannten aporetischen Dialoge Platons, in denen (vermeintliche) Wissensträger nach dem gefragt werden, wovon sie ein Wissen zu haben glauben, und die sich dann in Widersprüche verwickeln und eben in aporetischen Sackgassen enden. Wer sollte z.B. besser Bescheid wissen, was Tapferkeit ausmacht, als namhafte Kriegshelden? So wird der ehemalige Oberbefehlshaber der attischen Flotte Laches in dem nach ihm benannten Dialog von Sokrates gefragt, was es heißt, tapfer zu sein.[4] Es zeigt sich, dass er darauf keine überzeugende Antwort geben kann und sich auch mit dem anderen ins Gespräch eingebundenen Militärführer und „Tapferkeits-Experten“ Nikias keineswegs einig ist.[5]

Was ist das Fromme?

Euthyphron wird von Platon als Experte in Sachen Frömmigkeit und Gottgefälligkeit eingeführt. Er lässt Euthyphron über sich selbst sagen, er begleite ein religiöses Amt. Aber es zeigt sich, dass er die Frage, was das Fromme und Gottgefällige ist, nicht richtig beantworten kann. Er hat sogar Schwierigkeiten die sokratische Frage richtig zu verstehen. Auf die Frage nach dem Wesen des Frommen („Sage also, was nach deiner Meinung das Fromme ist, was das Unfromme“)[6] antwortet er mit einem Beispiel, nämlich dem eigenen Tun, das gerade daraufhin untersucht werden soll, ob es wirklich als ein Fall gottgefälligen Handelns ausgewiesen werden kann.[7] Etwas „fromm“ zu nennen, kann richtig oder falsch sein und so gelte es zunächst jene „Form selbst, durch die alles Fromme fromm ist“ (αὐτὸ τὸ εἶδος ᾧ πάντα τὰ ὅσια ὅσιά ἐστιν), anzugeben.[8] Nachdem er die Frage verstanden zu haben scheint, antwortet er, das Fromme, sei „das, was den Göttern lieb“ ist.[9] Nun ist das, was den Göttern (im Plural) lieb ist keineswegs selbstverständlich: es scheint (im polytheistischen Himmel) mancherlei Streit – ja gar Krieg – unter den Göttern zu geben.[10] Was dem einen Gott lieb und teuer ist, scheint dem andern Gott verhasst zu sein.[11]

Platon hatte den Streit der Götter durch Euthyphron behauptet lassen. Sokrates scheint damit nicht ganz einverstanden und wir werden sehen, dass es mit diesem Streit eine besondere Bewandtnis hat, die ins Herzstück des Euthyphron führt. Jedenfalls korrigiert Euthyphron seine Bestimmung des Frommen auf das in diesem Streit der Götter Unstrittige: „Ich für meine Person möchte also behaupten, das Fromme sei das, was alle Götter lieben…“.[12]

Platon lässt Sokrates nun die für die Philosophie, Glauben und Vernunft richtungsweisende Frage stellen: „Wird das Fromme, weil es fromm ist, von den Göttern geliebt, oder ist es fromm, weil es von ihnen geliebt wird.[13] Ist etwas gut und geboten, weil es die Götter so bestimmen, oder aber gebieten sie es, weil es gut ist? Es wird schnell klar, dass etwas geliebt wird, weil es liebenswert ist, und es nicht liebenswert ist, weil es geliebt wird. Und so gilt auch von Frommen, „weil es fromm ist, wird es geliebt, nicht aber ist es deshalb fromm, weil es geliebt wird“.[14] Damit geht alles von vorne los, denn nun stellt sich wieder die Frage, was das Fromme denn sei, das es liebenswert macht. Für die Philosophie ist allerdings ein entscheidender, revolutionärer Schritt getan: das, was die Götter lieben, ist aus eigenem Grund liebenswert und muss sich ohne Rückgriff auf die Liebe der Götter bestimmen lassen. Die nach Orientierung suchende Vernunft ist auf sich selbst gestellt und muss sich vom Mythos befreien und ihm vernünftig begegnen.

Die Philosophie hat sich in ihrer Auseinandersetzung mit dem (Offenbarungs-) Glauben mit diesem Argument immer und immer wieder beschäftigt. Es findet seine Fortsetzung im Augustinischen Gebot, dass der Glaube der Vernunft nicht widerstreiten dürfe, spiegelt sich aber auch in der trotzigen Selbstbehauptung des Glaubens, dass nur das, was sich nicht aus reiner Vernunft ableiten lässt, des Glaubens würdig sei (credo quia absurdum).

Mit der philosophischen „Selbstentfaltung“ der Vernunft wird vor allem der Anspruch verbunden, sich „ethisch“ durch die „eigene“ Vernunft orientieren zu können. Wenn wir nach dem Frommen/Gottgefälligen fragen, dann zugleich nach dem, woran wir uns in unserem Leben halten sollen und uns in unserem Handeln ausrichten. In „Was heißt Fromm-Sein“ klingt der etwas antiquierte Sinn von „heißen“ an, nämlich von dem, was uns abverlangt und von uns gefordert wird (wie z.B. bei Redewendungen wir: „ich heiße Sie eintreten …“ oder „auf Geheiß des Königs die Waffen niederzulegen“; dem „Geheiß“ nicht zu folgen „verheißt“ meist nichts Gutes etc).

Natürlich nur für den, der an Götter glaubt. Und damit stellt sich die Frage, wen die philosophisch aufregende und (philosophisch!) wohl mehr oder weniger entschiedene Frage, ob gottgefällig das ist, was gut, oder gut das, was gottgefällig ist, überhaupt interessiert. Wenn Sie nicht religiös sind und eh nicht an Gott oder Götter glauben, dann macht für Sie die Frage wenig Sinn: „gottgefällig“ ist dann für Sie ein Ausdruck ohne Bedeutung. Vielleicht finden Sie das Argument hilfreich, um Freunde und Bekannte, von denen Sie „glauben“, dass sie glauben, ein bisschen zu beeindrucken und vielleicht ein klein wenig zu verwirren. Aber wenn Ihre Bekannten tatsächlich religiös sind, dann wird das philosophische Argument für sie nicht wirklich bedeutsam sein: es wird ihnen als Gläubige darum zu tun sein, gottgefällig zu handeln und zu leben, Gott zu loben und zu preisen und sich um seine Zuwendung zu bemühen. Damit sehen sie sich zureichend beansprucht und werden nur schwer den Gewinn erkennen, den sie aus der Versicherung ziehen, dass Gott bzw. die Götter eben Gefallen an dem Guten findet bzw. finden.

Der Sinn des Gesprächs

Wen interessiert also diese Frage und wie kommt man drauf? Da Platon Dialoge schreibt, ergibt sich das aus dem jeweiligen Gesprächskontext. Um das Gespräch überhaupt zu verstehen, muss man wissen, wie es zu ihm kam und um was es in ihm eigentlich geht. Im Dialog Laches, von dem bereits kurz die Rede war, wird die Frage nach dem, was es heißt tapfer zu sein, durch die väterliche Sorge um die Ausbildung der Söhne angestoßen. Sollten Sie Ihren Sohn, Ihre Tochter, in einer Kampfsportart ausbilden lassen, um ihm/ihr Zivilcourage zu vermitteln? Und wenn ja welche? Wir fragen, was Tapferkeit/Zivilcourage eigentlich ausmacht, weil wir in ihr einen charakterlichen Vorzug sehen und unsere Kinder darin stärken wollen. Die Form des Dialogs gibt hier durch den Gesprächskontext (Teilnehmer, Anlass und Verlauf) der verhandelten Frage ihren jeweiligen Sinn.

Der Autor eines Dialogs (oder Theaterstücks) kann mit dem Geschehen, das er „wiedergibt“, noch ganz andere Absichten verbinden als die Klärung der Gegenstände, die dabei besprochen werden. Um was geht es in Shakespeares Hamlet? Die Schwierigkeit ein Versprechen einzulösen, Gerechtigkeit walten zu lassen oder Rache zu nehmen? Oder ist er das Psychogramm eines modernen Melancholikers? Was will Shakespeare uns mit seinem Macbeth zeigen? Das (Un-) Wesen der Macht, die Faszination des Bösen oder die Unentrinnbarkeit des Schicksals? Wenn Platon z.B. Sophisten über „irgendwas“ reden lässt, dann eben auch, um sie als Sophisten zu zeigen (so z.B. im Euthydemos): Sie versuchen zu brillieren, um Kundschaft zu gewinnen und Geld zu verdienen und Väter, die sich um die Ausbildung ihrer Söhne sorgen seien damit gewarnt. Im Phaidon bespricht Sokrates, ob und wie die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen sei, und diese „Beweise“ beschäftigen seither die Philosophie. Aber wir erleben vor allem die letzten Stunden des Sokrates im Gefängnis mit und die „tapfere“ Gelassenheit des Sterbens (des Sokrates), von der die philosophische Besinnung über die Seele zeugt. Die „Unsterblichkeit“ der Seele wird gleichsam vorgeführt.

Neu und sensationell

Welchen Sinn hat nun die Frage, nach dem Wesen des Frommen? Wie ist sie motiviert? Platon lässt Euthyphron in der Halle des Gerichts auf Sokrates treffen. Euthyphron wundert sich, was Sokrates dorthin führt: „Was hat sich Neues ereignet, Sokrates, daß du, dem Aufenthalt im Lykeion entsagend, dich jetzt hier aufhältst …? Du hast doch wohl nicht auch einen Rechtsstreit […] wie ich?[15] So lässt Platon seinen Euthyphron beginnen. Der Anfang und nicht zuletzt seine ersten Wörter sind bei Platon meist richtungsweisend. τί νεώτερον, ὦ Σώκρατες, γέγονεν – könnten wir auch – nah an Schleiermacher – mit „Was ist Neues, oh Sokrates, geschehen“ wiedergeben (νέος steht für neu, frisch, noch nicht dagewesen oder ungewöhnlich); darin klingt die typisch sokratische Frage durch, die Frage nach dem, was etwas ist (τί ἐστίν), die später auch Euthyphron gestellt wird, nämlich „Was ist das Fromme“ (τί ἐστίν τὸ ὅσιον).[16] Es ist also nicht nur Euthyphrons Verblüffung, Sokrates neuerdings bei Gericht zu finden, die wir mitgeteilt bekommen. Es liegt („zwischen den Zeilen“) etwas Neues, Aufregendes, „Sensationelles“ in der Luft, das das Gespräch antreibt und unterschwellig bestimmt.[17]

Sokrates findet sich bei Gericht nicht ein, weil er – wie Euthyphron – eine Klage führt, sondern weil er von Meletos der Verführung der Jugend angeklagt wurde: er erdichte „neue Götter“ (καινοὺς ποιοῦντα θεοὺς), weil er an die alten nicht glaube. Euthyphron sieht sich in einer ähnlichen Lage: „Weil du immer sagst, das Daimonische (τὸ δαιμόνιον) sei dir widerfahren, so stellt er diese Klage gegen dich an als Neuerer in göttlichen Dingen […] Denn auch mit mir, wenn ich in der Gemeinde etwas rede von göttlichen Dingen und ihnen vorhersage, was geschehen wird, treiben sie Spott wie mit einem Wahnsinnigen, und doch ist nichts, was nicht eingetroffen wäre von allem, was ich vorhersagte. Aber doch sind wir alle ihnen verhaßt.“ Euthyphron, der sich zu Gute hält, in seinen Voraussagen immer recht behalten zu haben, rät zur Ruhe: „Wahrscheinlich wird es wohl nichts sein; sondern du wirst deine Sache nach Wunsch ausfechten, und so, denke ich, auch ich die meinige.“[18] Wir finden uns also ins Jahr 399 v.Chr. zurückversetzt und wissen natürlich wie es ausging. Wir sind gewarnt: der „Wahrsager“, der sich grade noch mit seinen Erfolgen brüstete, scheint sich doch etwas zu überschätzen. Ein stolzierender Tollpatsch, der unseren Spott herausfordert.

Was ist das für eine Sache, die er offenbar sehr zuversichtlich zur Klage bringt? Jedenfalls nichts Kleines und auch nichts, bei dem man ganz selbstverständlich von einem Sieg ausgehen könnte. Euthyphron weiß, dass die Klage, die er vorbringt, fassungsloses Kopfschütteln hervorrufen wird –viele, sagt er mit einem gewissen Stolz, werden ihn wohl deshalb für verrückt halten.[19] Das müsste seine Zuversicht, seinen Rechtsstreit gewinnen zu können, zwar etwas dämpfen, bringt aber seine Prinzipientreue und Rechtgläubigkeit nur noch besser zum Ausdruck. Er verklagt nämlich den eigenen greisen Vater auf Totschlag. Und wäre das nicht schon erstaunlich genug, tut er es mit Blick auf gradezu absurd scheinende Umstände. Nicht ein lieber Angehöriger wurde vom Vater böswillig zu Tode gebracht, vielmehr starb ein Tagelöhner unter unglücklichen Umständen. Der fremde Tagelöhner hatte auf ihrem Hof angeheuert und erschlug im Suff einen Knecht, mit dem in Streit geraten war. Der Vater ließ ihn fesseln und in eine Grube werfen und schickte, weil er die Sache „amtlich“ klären lassen wollte, einen Boten zum Rechtspfleger, der über die Sache urteilen sollte. Zwischenzeitlich verstarb der gefesselte Tagelöhner in der Grube an Kälte, Hunger und Durst.

Euthyphron weiß, dass seine Klage paradox ist, nämlich dem altgriechischen common sense entgegensteht (para doxa). Die Klage widerspricht – so scheint es – dem aristokratischen Ethos und vor allem der sittlichen Verpflichtung, die Söhne gegen ihre Väter haben. Auch Sokrates zeigt sich irritiert: Euthyphron antwortet darauf mit heiligem Eifer: „Lächerlich ist es, o Sokrates, daß du meinst, dies mache einen Unterschied, ob der Getötete ein Fremder ist oder ein Angehöriger ist, und man müsse nicht das allein beachten, ob der Tötende ihn mit Recht getötet hat oder nicht, ihn verfolgen, und wenn auch der Totschläger dein Herd- und Tischgenosse ist.“ Dem Eifer des Euthyphrons können auch wir uns nicht entziehen – natürlich kommt vor allem in unserer modernen aufgeklärten Sicht alles darauf an, was und nicht durch wen etwas getan wurde. Und Euthyphron ist sich sicher, dass das, was der Vater getan hat, Unrecht war und zur Anzeige gebracht werden muss. Er beruft sich – als Experte für Gottgefälligkeit – auf die Götter: man verginge sich an ihnen und ihrem Gesetz, wenn man über das Unrecht hinwegsähe. Er betrachtet es als eine „Befleckung (μίασμα), wissentlich mit einem solchen zu leben, ohne daß man sich und ihn durch die Anklage vor Gericht reinigt (μὴ ἀφοσιοῖς)“.[20]

Wenn wir Euthyphron edle, hehre Absichten unterstellen – und nicht davon ausgehen, dass er dem Vater aus einem Gefühl mangelnder Zuwendung oder väterlicher Zurückweisung grollt –, dann kommt alles darauf an, dass er sich in dem sicher ist, was er fromm und gottgefällig nennt.[21] Sokrates zeigt sich über diese Selbstgewissheit erstaunt: „Du aber, beim Zeus [!], Euthydemos, glaubst du so genau über das Wesen des göttlichen Rechts und über das Fromme und Unfromme Bescheid zu wissen, daß du, da dieses sich so, wie du sagst, vollzog, nicht befürchtest, du möchtest vielleicht deinerseits eine unfromme Tat begehen, indem du gegen deinen Vater prozessierst?[22]

Das Gespräch mit Sokrates zeigt freilich schnell, dass es mit Euthyphrons Wissen übers Fromme und „das Wesen des göttlichen Rechts“ (περὶ τῶν θείων) nicht weit her ist. Der (philosophischen) Aufgabe, „zu prüfen, was der, der etwas behauptet, wirklich meint“ (σκεπτέον τί λέγει ὁ λέγων)[23], will er sich zwar stellen, verheddert sich aber bei den ersten Nachfragen und entlarvt seine grundlose Selbstgerechtigkeit. Er vermag weder zu sagen, was das Fromme ist, noch was daraus folgen würde, wenn wir das Gottgefällige denn befriedigend zu bestimmen vermöchten.

Die Kunst, ein Gespräch zu führen

Als Grundlage die Beurteilung von Recht und Unrecht ist das Gottgefällige sowieso nur bedingt geeignet. Euthyphron wird nämlich genötigt, zuzustimmen, dass „gerecht“ nicht gleichbedeutend ist mit „gottgefällig“. Platon lässt Sokrates das an einem anspielungsreichen Beispiel vorführen: alle Scham (αἰδὼς) ist mit Furcht (δέος) verbunden, nämlich dass das, wovor man sich schämt, der öffentlichen Beurteilung ausgesetzt wird; aber nicht jede Furcht ist mit Scham verbunden, so muss sich niemand schämen, sich vor einer Krankheit zu fürchten. Furcht ist, wie Sokrates sagt, „begrifflich umfassender als Scham“,[24] sie sind nicht koextensiv. Euthyphron tappt dann selbstgefällig in die nächste argumentative Schlinge: „Mir also, Sokrates, erscheint das Gottesfürchtige und das Fromme als der Teil des Gerechten, der sich auf die Pflege der Götter bezieht; und der, der sich auf die Pflege der Menschen bezieht, scheint mir dagegen der übrige Teil des Gerechten zu sein.[25] Nicht nur, dass er nicht zirkelfrei angeben kann, was er unter „Pflege der Götter“ (θεραπεία τῶν θεῶν), dem Gottesdienst also, versteht, er sieht auch nicht, dass er sich damit neue Schwierigkeiten für seine Klage eingehandelt hat, da sie ja den „übrigen Teil des Gerechten“ zu betreffen scheint, die „Pflege der Menschen“ nämlich und sein Verhältnis zum Vater.

Jedenfalls ist nun allererst zu entscheiden, von welchem Teil der vorliegende Fall ein Fall ist. Darauf hatte Platon Sokrates schon vorher hinweisen lassen. Euthyphrons These, das Fromme sei das Gottgefällige, hätte Sokrates sofort daraufhin angreifen können, das das Fromme ja nur deshalb gottgefällig sei, weil es fromm ist, nicht aber fromm, weil es von den Göttern geliebt wird. Platon ließ Sokrates aber den Umweg über den Streit der Götter machen, der für das religionsphilosophische Argument gar nicht notwendig war. Wenn Platon diesen Umweg dennoch machen lässt, dann dürfen und sollten wir unterstellen, dass er damit etwas beabsichtigt – nichts erfolgt bei Platon, dem dramatischen Künstler, „grundlos“. Der Umweg über die Bestimmung des Frommen als das, was allen Göttern gefällt und worüber kein Streit herrscht, führte Euthyphron nämlich aufs Gerechte und er glaubt wohl seine Anklage damit endgültig rechtfertigen zu können: „Ich glaube indessen, Sokrates, darüber ist keiner unter den Göttern mit einem anderen uneinig, daß jeder, der rechtswidrig jemanden tötet, bestraft werden muss.[26] Das freilich ist trivial und nicht Gegenstand des Streits – weder unter Göttern noch unter Menschen. Denn das etwas, das rechtswidrig/ungerecht (ἀδίκως) gilt, der Strafe unterliegt, darf als unstrittig gelten. Der Streit geht darüber, ob eine Handlung ungerecht oder rechtswidrig ist, also zum Beispiel ein Mord oder nicht vielmehr ein Unfall oder eine Tötung aus Notwehr.

Eine klare und eindeutige Bestimmung dessen, was als Mord – oder als fromm und gottgefällig – zu gelten hat, ist für die richtige Beurteilung eines Falls nicht hinreichend. Man braucht neben einer sinnvollen Regel noch die Kunst sie richtig anzuwenden. Für diese Kunst der Anwendung kann es nicht wiederum eine Regel geben, das würde in einen regressus ad infinitum führen. Es braucht bei Urteilenden das Vermögen der Urteilskraft, einen Sinn, dem Sinn der Regel zu folgen. Hätte Euthyphron eine überzeugende Bestimmung dessen geben können, was es heißt, fromm und gottgefällig zu sein, wäre er es damit noch nicht gewesen. Er hätte sich darauf verstehen müssen, dem „Geheiß“ richtig zu folgen.

Er hätte im Gespräch durch seine Gesprächsführung zeigen müssen, dass er weiß, was fromm „heißt“ – durch Wort und Tat, nämlich in der Art, wie er seine Gesprächspartner überzeugt (durch begründendes Sprechhandeln) und glaubhaft macht, dass sein Handeln dem entspricht. Aber Euthyphron legt eine dreiste Überheblichkeit an den Tag. Er maßt sich an, über das Göttliche aufs Genaueste Bescheid zu wissen. Seine Hybris hat etwas Lächerliches: alles dreht sich im Kreis und der sich sicher war, das Göttliche festmachen zu können, dem zerfließt es jetzt zwischen den Händen. Das fordert – wie er selbst sagt – den Spott (σκῶμμα) geradezu heraus.[27]

Euthyphron ist ratlos und will nur noch weg. Er gibt Verpflichtungen vor, um die Flucht ergreifen zu können. Sokrates dagegen erklärt, er möge ihm doch bitte endlich seine Weisheit zukommen lassen: denn dass Euthyphron die Wahrheit weiß, das, so witzelt Sokrates, müsse man unterstellen, „denn wenn du über das Fromme und über das Unfromme nicht genau Bescheid wüßtest, hättest du es keinesfalls unternehmen können, im Interesse eines Tagelöhners deinen greisen Vater wegen Mordes zu verfolgen, sondern hättest dich vor den Göttern geängstigt und Gefahr zu laufen befürchtet, du könntest das nicht richtig machen, und hättest dich auch vor den Menschen geschämt.[28]

Nicht das Wesen der Frömmigkeit selbst ist das, worum es im Dialog Euthyphron geht. Deren kursorische Bestimmung ist gleichsam ein produktiver Beifang. Es geht vielmehr darum, wie, in welcher Haltung, sie zu bestimmen und zur Richtschnur des eigenen Handelns zu nehmen ist. Platon entlarvt den Gestus der Frömmigkeit. Die vorgebliche Gewissheit hält einer Überprüfung nicht stand. Euthyphron will sich besonders fromm (oder woke) zeigen und scheitert kläglich. Er glaubt durch die paradoxe Verstiegenheit seines Anspruchs die Vorzüglichkeit seiner Haltung demonstrieren zu können.[29] Er zielt auf Sensation. Die selbstgefällige Himmelsstürmerei endet im freien Fall. Platon führt uns die Unfähigkeit des vermeintlichen Gottes-Experten vor, ein Gespräch und sein eigenes Leben besonnen zu führen. Die griechisch empfundene Ungeheuerlichkeit der Klage gegen den Vater wird ihm zur Bestätigung seiner selbst.

Nicht die Definition des Frommen ist Gegenstand des Dialogs Euthyphron. Es ist eine Mahnung zur Besonnenheit. Euthyphron mag in der Sache Recht haben. Vor dem Recht sind alle gleich. Aber es bleibt die Frage, ob etwas Unrecht ist, und vor allem der Umstand, dass wir uns irren können. Besonnen handeln und urteilen, nimmt diesen Umstand ernst. „Der andere könnte Recht haben“ und ich mich irren. Das ist Sokrates Mahnung an Euthyphron, er möge doch bedenken, dass er sich selbst versündigen könnte. Wir erwarten eine grundlegende, das Denken und Handeln ausrichtende Scheu (αἰδὼς), bestimmte Dinge nicht zu tun. Diese Scheu scheint Euthyphron abhanden gekommen.

Platon bindet Anfang und Ende des Dialogs kunstvoll aneinander. Sokrates gibt vor, er hatte gehofft, dass Euthyphron ihn vor leichtfertigen Urteilen über das Göttliche bewahren könne. Er wolle nicht durch „Neuerungen“ verleitet werden. Der Dialog Euthyphron will uns davor bewahren wie Euthyphron zu werden, um unser „weiteres Leben besser zu führen“.[30] Mit „Was ist Neues, oh Sokrates, geschehen“ (τί νεώτερον, ὦ Σώκρατες, γέγονεν) ließ Platon den Dialog beginnen. Nun wissen wir, nichts Gutes, aber etwas, was uns zu denken gibt, und dass wir von den Alten eine ganze Menge über das Entscheidende lernen können.

 

Epilog

Euthyphrons gibt es viele. Sie sind überall. Man muss nicht an die prinzipientreuen Denunzianten denken, die im Wissen, um das, was die Folgen ihrer Anzeige sind, dennoch für die Durchsetzung von Recht und Ordnung „kämpfen“ und einen staatszersetzenden Witz anzeigen, einen Kindergeburtstag, der gegen die Kontaktverbotsregel verstößt, oder die Tagesmutter, die morgens beim Empfang der Kinder keine Maske trägt. Es scheint ihnen jeder Sinn verloren gegangen, dass man so etwas einfach nicht macht.

Grundgesetz – WikiCommons

Die Scheu sich zu vergehen, scheint nicht zuletzt Experten oft abzugehen. Dass die eigenen Befunde grundsätzlich der Falsifikation ausgesetzt sind, tritt dabei nicht selten in den Hintergrund. Besonnenheit zielt nicht auf die Wahrheit oder Falschheit der Behauptungen, sondern unsere Einstellung zu dem, was uns wahr oder falsch erscheint. Dass die Aufhebung bzw. Aussetzung von Grundrechten zumindest gut begründet sein muss,[31] dem stimmen auch diejenigen zu, die das 2020/21 vehement gefordert und propagiert haben. Sie glaubten, gute Gründe zu haben und sahen sich im Recht. Nun mahnt schon das Wort „Grundrecht“ zu äußerster Vorsicht. Die Gründe, Grundrechte anzutasten – wenn (!) es denn welche geben sollte (?), – müssen besonders gründlich überlegt, ihre Güte grundsätzlich gerechtfertigt und über allen Zweifel erhaben sein.

Was wenn sich herausstellen sollte, dass sie es nicht sind/waren? Dann hätte man sich grundsätzlich, radikal und äußerst folgenreich vergangen: man hätte gegen Grundrechte verstoßen, die Würde der Menschen angetastet und das heißt entwürdigt und damit die Rechtsordnung selbst aufgehoben.

Wie gesagt: wenn! Aber dieses „es könnte sein“ muss den Besonnenen leiten. Das bedeutet nicht, dass wir nicht weiterhin unseren greisen Vater vor Gericht bringen oder nicht weiter glauben könnten, dass die „Aussetzung“ der Grundrechte geboten ist. In beiden Fällen würden wir aber wohl eine zerknirschte Unwilligkeit, ein beharrliches Zögern und immer neues Abwägen erwarten. Die Scheu würde unser Handeln leiten und uns tiefbetrübt sein lassen. Jede Selbstgefälligkeit, alles richtig zu machen oder gemacht zu haben, ist dem Besonnenen fremd. Er geht mir eingerollten Fahnen, den Weg, zu dem er sich jetzt gezwungen sieht und blickt bei jedem Schritt Aus-Weg-suchend zurück. Wer mit dieser Scheu zu Werke geht, der muss andere, die anderer Meinung sind, geradezu zum Widerspruch herausfordern und wird ihre Bedenken nicht abtun, sondern bestens verstehen und ehren.

Auch wenn es richtig gewesen sollte, den eigenen Vater vor Gericht zu stellen, dann war und ist es dennoch falsch, diejenigen, die das kritisieren, zu Rechtsfeinden und Volksverhetzern zu erklären. Wer Grundrechte aussetzt, der fordert zur Kritik auf und fühlt sich bei Zustimmung unwohl. Er will nicht Gut gemacht! hören, sondern: Das muss aufhören! Und wenn es zu Fehlurteilen kam – und das wird ja nun in (großen) Teilen eingeräumt – dann muss dem Grund der Unbesonnenheit nachgespürt und ihr zukünftig vorgebaut werden. Ich weiß nicht, wie das am Besten gelingen kann… aber ich empfehle mal: Platon lesen!

[1] Der Kleine Pauly weist ihn als „Wahrsager, aus Prospalta“ aus, von dem von Wilamowitz eine Schrift vermutet. Jedenfalls wird er auch im platonischen Kratylos erwähnt (396d, 399d u. 428c) und gilt dort ebenfalls als religiös motivierter Weissager.

[2] Traditionell unterscheidet man in den Anfängen der Philosophie, eine „vorsokratische“ Naturphilosophie, in der sich Elemente finden, wie sie dann in der entscheidenden Wende zur „eigentlichen“ Philosophie zur Geltung kommen und die mit Platon verbunden sind.

[3] Wilhelm Nestle, Vom Mythos zum Logos, Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates, 1940

[4] Laches ist nicht nur ein hochrangiger Feldherr, sondern auch hochmotiviert: so nimmt er in der im Dialog erwähnten Schlacht bei Delion (424 v.Chr) er an der Seite von Sokrates als einfacher Hoplit teil.

[5] Nikias ist der ranghöhere, zumindest bedeutsamere Stratege….

[6] 5d: λέγε δή, τί φῂς εἶναι τὸ ὅσιον καὶ τί τὸ ἀνόσιον;

[7] Euthyphron blamiert sich in tollpatschiger Selbstgewissheit: er handelt fromm, weil ihm so zu handeln eben als fromm gilt. Das mag richtig sein – aber es ist jedenfalls keine Begründung.

[8] 6d. Peter Geach hat das einen der „debating tricks“ genannt, die Sokrates anwendet. Es sei eine seit Platon weitverbreiteter Irrtum, Geach nennt es die Socratic fallacy, dass für die Beurteilung der Richtigkeit einer Prädikation eine Wesensdefinition notwendig sei (cf. Plato’s Euthyphro: An Analysis and Commentary, Monist, Vol. 50, No. 3 (1966), pp. 369-382.

[9] 6e: ἔστι τοίνυν τὸ μὲν τοῖς θεοῖς προσφιλὲς ὅσιον

[10] Es zeigt die Kunst des platonischen Dialogs, dass Euthyphron vorher von sich aus, auf den Streit der Götter hinwies und sich brüstete, darüber so manches erzählen zu können.

[11] In den monotheistischen Offenbarungsreligionen spiegelt sich das durch widersprüchlich scheinende Offenbarungen – ein Problem das die Auslegung der Offenbarung von Anfang an begleitet.

[12] )9e: ἀλλ᾽ ἔγωγε φαίην ἂν τοῦτο εἶναι τὸ ὅσιον ὃ ἂν πάντες οἱ θεοὶ φιλῶσιν

[13] 10a: ἆρα τὸ ὅσιον ὅτι ὅσιόν ἐστιν φιλεῖται ὑπὸ τῶν θεῶν, ἢ ὅτι φιλεῖται ὅσιόν ἐστιν;

[14] 10d: διότι ἄρα ὅσιόν ἐστιν φιλεῖται, ἀλλ᾽ οὐχ ὅτι φιλεῖται, διὰ τοῦτο ὅσιόν ἐστιν

[15] 2a: τί νεώτερον, Σώκρατες, γέγονεν, ὅτι σὺ τὰς ἐν Λυκείῳ καταλιπὼν διατριβὰς ἐνθάδε νῦν διατρίβεις …; οὐ γάρ που καὶ σοί γε δίκη τις οὖσα τυγχάνει πρὸς τὸν βασιλέα ὥσπερ ἐμοί.

[16] Oder wir übersetzen etwas flapsig, aber lebendig: „(Gibt’s) Neuigkeiten?“ Sokrates, was führt dich hierher?
νέος heißt aber auch jung und jugendlich – und verweist damit auf die Klage der Verführung der Jugend und des Sohns gegen den Vater.

[17] Streitigkeiten vor Gericht sind wie gemacht für die (Lokal-) Presse: Stellt Euch vor, was XY getan haben soll … Je mehr Blut und andere Körpersäfte geflossen sind, desto mehr Aufmerksamkeit ist einem sicher.

[18] 3d.

[19] Sokrates kann sich den Wortwitz nicht verkneifen: wer könnte wohl schwerer zu verfolgen sein als einer, der zu fliegen wüsste (τί δέ; πετόμενόν τινα διώκεις;) und dem man deshalb nicht ergreifen könnte. Nein, antwortet Euthyphron, er sei im Gegenteil wohlbetagt.

[20] 4b-c.

[21] Nun könnte man einwenden, dass er mit der Anklage ja nur eine unabhängige Urteilsfindung anstrebt und das eigene Urteil nicht zum Maß aller Dinge macht. Allerdings gilt für die Anklage immer, dass ein „hinreichender Tatverdacht“ und damit eine (hohe) Wahrscheinlichkeit für eine Verurteilung unterstellt wird. Es soll ja verhindert werden, dass andere Motive als die der Rechtsfindung ins Spiel kommen: Rufschädigung, Ablenkung durch Beschäftigung des Beklagten, PR für die Klageführer etc. Es spricht sogar einiges dafür, das Euthyphron selbst nicht recht an eine Verurteilung glaubt, aber das wirft einen unvorteilhaften Schatten auf seinen Charakter: ist die Anklage des eigenen Vaters – zweifelsohne keine Kleinigkeit – nur Ausdruck einer Profilierungssucht und entspringt dem Versuch, sich publikumswirksam den Ruf eines besonders prinzipientreuen, „frommen“ Zeitgenossen zu geben wie das wohl bei vielen Denunzianten der Fall sein dürfte.

[22] 4e: σὺ δὲ δὴ πρὸς Διός, ὦ Εὐθύφρων, οὑτωσὶ ἀκριβῶς οἴει ἐπίστασθαι περὶ τῶν θείων ὅπῃ ἔχει, καὶ τῶν ὁσίων τε καὶ ἀνοσίων, ὥστε τούτων οὕτω πραχθέντων ὡς σὺ λέγεις, οὐ φοβῇ δικαζόμενος τῷ πατρὶ ὅπως μὴ αὖ σὺ ἀνόσιον πρᾶγμα τυγχάνῃς πράττων;

[23] 9e.

[24]12c: πλέον γὰρ οἶμαι δέος αἰδοῦς

[25] 12e: τοῦτο τοίνυν ἔμοιγε δοκεῖ, ὦ Σώκρατες, τὸ μέρος τοῦ δικαίου εἶναι εὐσεβές τε καὶ ὅσιον, τὸ περὶ τὴν τῶν θεῶν θεραπείαν, τὸ δὲ περὶ τὴν τῶν ἀνθρώπων τὸ λοιπὸν εἶναι τοῦ δικαίου μέρος.

[26] 8b: ἀλλ᾽ οἶμαι, ὦ Σώκρατες, περί γε τούτου τῶν θεῶν οὐδένα ἕτερον ἑτέρῳ διαφέρεσθαι, ὡς οὐ δεῖ δίκην διδόναι ἐκεῖνον ὃς ἂν ἀδίκως τινὰ ἀποκτείνῃ.

[27] 11c.

[28] 15d: εἰ γὰρ μὴ ᾔδησθα σαφῶς τό τε ὅσιον καὶ τὸ ἀνόσιον, οὐκ ἔστιν ὅπως ἄν ποτε ἐπεχείρησας ὑπὲρ ἀνδρὸς θητὸς ἄνδρα πρεσβύτην πατέρα διωκάθειν φόνου, ἀλλὰ καὶ τοὺς θεοὺς ἂν ἔδεισας παρακινδυνεύειν μὴ οὐκ ὀρθῶς αὐτὸ ποιήσοις, καὶ τοὺς ἀνθρώπους ᾐσχύνθης

[29] Wollen wir ihm mal reinen Sinn unterstellen und gehen wir mal davon aus, dass er nicht durch Groll oder verletzter Eitelkeit gegen den eigenen Vater vorgeht – der Unterschied ist vermutlich nicht leicht anzugeben. Nicht jeder Denunziant wird allerdings durch Prinzipientreue getrieben. Aber auch ihm fehlt jeder Sinn, das Ungeheuerliche seiner Prinzipientreue zu erkennen.

[30] 16a: ὅτι οὐκέτι ὑπ᾽ ἀγνοίας αὐτοσχεδιάζω οὐδὲ καινοτομῶ περὶ αὐτά, καὶ δὴ καὶ τὸν ἄλλον βίον ὅτι ἄμεινον βιωσοίμην.

[31] Es gibt allerdings gute Gründe, die eine Aussetzung grundsätzlich ausschließen – insbesondere von Seiten des Staates. Grundrechte sind (1) Rechte, die das Rechtssubjekt (in seiner unaufhebbaren Würde) beschreiben. Wer sie aufhebt/aussetzt, der setzt damit das Rechtsverhältnis außer Kraft. Mit der Würde der Person ist eine unbedingte Verpflichtung verbunden, die keine Abstufungen und Modifikationen in ihrer Anwendung erlaubt.

Grundrechte sind (2) insbesondere Abwehrrechte gegen den Staat und die staatliche Gesetzgebung: keine (!) staatliche Gesetzgebung darf sie aufheben; alles staatliche Wirken findet an ihnen seine Grenze. Besonders absurd wird es, wenn der Staat, gegen dessen Übergriffe sie sichern sollen, im erklärten Willen sie zu schützen, sie aufhebt?!

Um es um der Klarheit willen vielleicht etwas zugespitzt zu sagen: die meisten der politischen Moralisten haben in Wirklichkeit keinerlei Ahnung, was unter Würde überhaupt zu verstehen ist. Der locus classicus ist Kants Explikation in der Grundlegung der Metaphysik der Sitten, in der er zwischen relativem Wert/Preis und Würde unterscheidet: „Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“ Ihre Anerkennung ist nicht von Wirkungen abhängig, die daraus entspringen und gilt „obgleich der Erfolg sie nicht begünstigte“. Die Person hat eine Würde, „d.h. einen unbedingten, unvergleichbaren Wert“. Wer sie mit Vor- und Nachteilen abwägt, vergeht sich gegen die Menschheit.

Natürlich kann man das auch anders sehen. Kant schreibt im 18. Jahrhundert und so hatte man das nicht immer verstanden. Und auch nach Kant gab es andere – etwa utilitaristische – Positionen, die man aus guten Gründen einnehmen kann, obgleich ich sie nicht teile. Man kann aber nicht eine unbedingte Moralität fordern und ihr gleichwohl nicht folgen – das ist auch dann falsch, wenn man nicht weiß, was man sagt und tut.
Siehe dazu: https://www.rhetorik-forum-nuernberg.de/die-erkrankung-der-grundrechte/ und https://www.rhetorik-forum-nuernberg.de/unantastbar/ und zu den politischen Verheerungen einer grundrechtlichen „Verwahrlosung“: https://www.rhetorik-forum-nuernberg.de/whatever-it-takes/.

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