„Moosbrugger denkt nach“, ist das 59. Kapitel des ersten Teils von Musils Jahrhundert-Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Moosbrugger ist dort ein inhaftierter Prostituiertenmörder, dessen Schicksal aus vielerlei Perspektiven beurteilt wird, die ihn allesamt zum Objekt machen, das ihre Überlegenheit beweisen soll. Auch er selbst denkt – irgendwie – über seine Existenz nach.
Für mich war Musils Beschreibung, wie Moosbrugger nachdenkt, meinerseits ein Grund, über das Nachdenken nachzudenken. Und dabei kommt man an Descartes natürlich nicht vorbei, der im Denken ein letzte Sicherheit zu gewinnen glaubte.
„Ich denke, also ich bin“. Aber ganz so einfach ist die Sache auch wieder nicht. Man muss schon daran zweifeln. Es ist die Unsicherheit des Zweifels, die Sicherheit gibt. Man muss zu sich auf Distanz gehen, um sicher sein zu können.[1]
Aber kaum glaubt man sicheren Boden unter seinem Zweifel gefunden zu haben, weiß man nicht so recht, was man damit eigentlich gefunden hat. Was soll das heißen: „ich denke“?
„Ich“ bezeichnet die Person, die gerade spricht und von anderen Personen unterschieden wird, die den Sprechenden als Du ansprechen. „Du denkst grade an Kreta, gell? Ich denke an meinen letzten Mallorca-Urlaub“ ist z.B. die Antwort auf die Frage, „Woran denkst Du grade?“ und die nachfolgende Erläuterung an eine Dritte, „Er/Heinrich denkt grade an Mallorca, weil es da auch immer so ein tolles Frühstück gegeben hat wie das von Dir hier“. „Ich“, „Du“ und „er/Heinrich“ bezieht sich auf den selben „Gegenstand“, nämlich die Person, von der gerade gesprochen wird. Wie die Rede von „hier ist es kühl“, den Ort meint, an dem der Sprecher sich grade befindet und damit den, auf den andere Personen mit „dort“ verweisen. Kein (mein) „hier“ ohne (euer) „dort“, kein „ich“ ohne „Du/er/sie [und neuerdings auch es?]“ oder den jeweiligen Namen.
Von mir kann ich ohne die anderen gar nicht sprechen. Wenn ich „ich“ sage, dann meine ich den Sprecher, den andere mit einem Namen (nomen) oder einem Personal-pro-nomen ansprechen. Aber daraus ergibt sich kein irgendwie gearteter Vorrang der Selbsterkenntnis. Wer von sich „ich denke“ sagt, der weiß damit keineswegs zweifelsfrei, wer oder was das ist, das da spricht. Das zeigt der Telefongespräch-Kalauer, in dem der Anrufer gefragt wird, wer denn spreche und sein „Na, ich bin’s“ mit „Nee, ich bin ich“ beantwortet wird. Darüber „wer oder was“ derjenige ist, der da von sich „ich“ sagt, kann sich der Sprechende in gleicher Weise täuschen wie der Angesprochene. „Wie Heinrich? Mein/sein Name ist Gantenbein!“ Sich im Namen eines anderen zu täuschen, passiert gelegentlich den hellsten Köpfen. Wer seinen eigenen Namen nicht mehr weiß, der gilt dagegen als verwirrt. Es ist das selbe Kriterium, das in einem Fall über den Irrtum entscheidet und im anderen die Verwirrtheit feststellt, nämlich ein objektives, z.B. die irgendwie geartete raum-zeitliche Identität der bezeichneten Person. Mit „Ich weiß am Besten wer ich bin/wie ich heiße“ kommt man da nicht weiter. Wissen bezieht sich auf Begründungsregeln, die wir mit anderen teilen. „Ich bin Gantenbein (oder Platon), weil ich es sage“, der zeigt damit, dass er weder weiß, was es heißt, etwas zu identifizieren, noch was Personen sind.[2]
Das zeigt sich etwas weniger dramatisch auch bei der Verwendung von „hier“ und „dort“. Auf die Frage, „Wo bist Du?“ ist „Hier!“ nur dann eine sinnvolle Antwort, wenn der Angesprochene dadurch, z.B. durch Winken, auf seinen Standort aufmerksam machen kann. Der Suchende kann über seinen Standort („sein Hier“) den Standort des Anderen mit „ach, dort“ identifizieren. Telefonisch wäre „hier“ keine sinnvolle Antwort: „Ja wo denn?“ Der Gesuchte könnte nun seinen Standort beschreiben: „An dem Bächlein, an dem wir vor einem Jahr bei der Wanderung gevespert haben.“ Darüber könnten sich nun beide gleichermaßen täuschen. „Ach, das war ja ganz woanders.“ Aus der Sicherheit des „hier“ gewinnt der Sprecher keine Sicherheit, wo er sich befindet.[3]
Und was tue ich, wenn ich denke? Ich spreche mit mir selbst. Denken gilt traditionell als das stille, innere „Gespräch der Seele mit sich selbst“ [4]. Ich spreche zu mir, so als würde ich zu anderen sprechen. Mein Sprechen ist sinnvoll, weil es von anderen verstanden werden könnte, wenn ich es laut aussprechen würde. Tatsächlich sprechen wir immer mit anderen, auch wenn wir mit uns selbst reden. Manchmal machen wir uns bessere Einwände als andere das aus Rücksicht vielleicht täten. Oft aber brauchen wir den korrigierenden Anstoß von außen, um den entscheidenden Schritt vorwärtszukommen und die Welt und uns selbst in ihr besser zu verstehen. Man weiß, dass das, was einem gerade noch plausibel schien, z.B. einem engen Freund nicht standhalten könnte. Allein der Gedanke an den Freund führt zu einer gedanklichen Aufklärung.
„Ich denke“ verweist zwangsläufig auf andere Sprecher und bekommt so erst einen Sinn. Das „Gespräch der Seele mit sich selbst“ bleibt der eigentümlichen Unbestimmtheit des „Ich spreche mit mir selbst“ verhaftet, die sich nur durch das „du sprichst mit Dir selbst“, „er/sie spricht mit sich selbst“, „Heinrich spricht mit sich selbst“ oder ähnlichen Identifikationen aufklären lässt, die wir im Gespräch mit anderen vornehmen: ich bin das, was andere als „Du“, „er/sie“, einem Namen oder mit einer anderen, identifizierenden Beschreibung ansprechen.
Stellen wir uns vor, man könnte die Frage, „Woran denkst Du gerade?“, dadurch beantworten, dass man auf laut stellt und die Seele, ihr stilles Sprechen mit sich selbst, für andere hörbar macht. Wir würden dann Zeugen dessen, was ihm gerade durch den Kopf geht. Wir würden Zeugen eines Gesprächsgeschehens, das sich „in ihr“ abspielt. Der eine Gedanke würde dem nächsten folgen, ihn verstärken oder abschwächen, ihn auf einen anderen bringen oder plötzlich durch einen anderen komplett unterbrochen. Hatte die mit sich selbst sprechende Seele gerade noch erwogen, wohin es im nächsten Jahresurlaub gehen solle – und dabei zum Beispiel die Wünsche, Bedenklichkeiten und Abneigungen der Familiemitglieder erwogen, spricht sie unvermittelt über das, was sie zu Mittag kochen will, um dann genauso unvermittelt wieder in die Auseinandersetzung verwickelt zu werden, die sie gestern mit dem Chef hatte und in der sie sich ungeschickt verhalten hatte. Sie erleben vielleicht gerade beim Lesen dieses Textes, dass sie eben noch meinem Gedanken gefolgt waren und ihnen nun aber plötzlich, obwohl sie die Augen weiter entlang der Buchstaben bewegen, etwas ganz anderes durch den Kopf geht. Nach einiger Zeit wenden sie sich wieder dem Text zu und starten zwei Absätze zurückgehend nochmal mit der Lektüre.
Wenn wir die mit sich selbst sprechende Seele dann auf ihren Gedankenstrom mit einem erstaunten „Ach, das denkst Du also?“ ansprechen würden, könnte sie dann sagen „Das wollte ich gar nicht denken“? „Warum hast Du’s dann?“ – „Es kam mir einfach so in den Sinn.“
Das wäre eine mögliche Antwort. Die Person könnte aber auch antworten, weil mir das wegen Lisbeth wichtig schien oder weil ich seit gestern Abend nichts gegessen hatte oder weil ich noch wegen des gestrigen Streits aufgebracht war. Wir können nach den Motiven der Person fragen, also nach dem, was sie dazu gebracht haben könnte, sich solche Gedanken zu machen, oder nach dem, worüber sie nachgedacht hat, was dabei bedacht und abgewogen wurde. Das kann dann „von außen“ ergänzt oder korrigiert werden, so wie das Gespräch sich unter (wohlwollenden) Gesprächsteilnehmern eben vollzieht.
Hans-Georg Gadamer (1900-2002) hat dieses Geschehen gut auf den Punkt gebracht: „Wir sagen zwar, daß wir ein Gespräch ‚führen‘, aber je eigentlicher ein Gespräch ist, desto weniger liegt die Führung desselben in dem Willen des einen oder anderen Partners. So ist das eigentliche Gespräch niemals das, das wir führen wollten. Vielmehr ist es im allgemeinen richtiger zu sagen, daß wir in ein Gespräch geraten, wenn nicht gar, daß wir uns in ein Gespräch verwickeln. Wie da ein Wort das andere gibt, wie das Gespräch seine Wendungen nimmt, seinen Fortgang und seinen Ausgang findet, das mag sehr wohl eine Führung haben, aber in dieser Führung sind die Partner des Gesprächs weit weniger die Führenden als die Geführten.“ In ihm wird etwas „entborgen“, das die Sprache den Sprechenden in ihrem Austausch zukommen lässt.[5]
Friedrich Nietzsche (1844-1900) hat in vielem die sprachphilosophische Erkenntnis des kleinen „ich“ vorweggenommen. Das kleine „ich“ erlaubt – anders als die in der Tradition maßgebliche Hypostasierung eines großen „Ich“ – ein Verständnis davon, was es heißt als Person sprachlich in der Welt zu sein. Nietzsche spricht von einem „Aberglauben der Logiker“, die ein inneres Subjekt unterstellen, das Ich, das als Herr der Gedanken spricht bevor es spricht, denkt und entscheidet bevor es entscheidet und denkt. Gibt es auch ein Ich des Ich und wiederum dessen Herrn und Meister als einem noch höheren Reinheit oder grundlegenderen Festigkeit (um nicht zu sagen Starrheit)? Dem hält er entgegen, „daß ein Gedanke kommt, wenn ‚er‘ will, und nicht wenn ‚ich‘ will; so daß es eine Fälschung des Tatbestandes ist zu sagen: das Subjekt ‚ich‘ ist die Bedingung des Prädikats ‚denke‘. Es denkt: aber daß des ‚es‘ gerade jenes alte berühmte ‚Ich‘ sei, ist milde geredet, nur eine Annahme, eine Behauptung, vor allem keine ‚unmittelbare Gewißheit‘. Zuletzt ist schon mit diesem ‚es denkt‘ zuviel getan: schon dies ‚es‘ ist eine Auslegung des Vorgangs und gehört nicht zum Vorgange selbst. Man schließt hier nach der grammatischen Gewohnheit ‚Denken ist eine Tätigkeit, zu jeder Tätigkeit gehört einer, der tätig ist, folglich – ‘ […] vielleicht gewöhnt man sich eines Tages noch dazu, auch seitens der Logiker ohne jenes kleine ‚es‘ (zu dem sich das ehrliche alte ‚Ich‘ verflüchtigt hat) auszukommen.“[6]
Manchem möchte es so scheinen als sei damit das Subjekt des Denkens aufgelöst und in ein Medium eines unbestimmten sprachlichen Geschehens diffundiert. Das ist richtig und geht doch am entscheidenden Punkt vorbei. Dass uns vieles durch den Kopf geht, ist weder ein Hinweis auf ein (all)mächtiges Ich, das die Bewegung hervorbringt, noch darauf, dass Personen zu keiner vernünftigen Überlegung befähigt wären. Mit „ich denke“ wird kein Ich bezeichnet, keine besondere Subjekt-Substanz, nämlich ein Objekt, das zugleich Subjekt, und das sich selbst zum Gegenstand einer „objektiven“, besonders autorisierten Erkenntnis machen könnte.
Wenn wir gefragt werden, woran wir gerade denken, dann wissen wir, wonach wir gefragt werden und was darauf eine sinnvolle Antwort ist. Wir kennen die möglichen Züge des jeweiligen Sprachspiels und seine – wie Ludwig Wittgenstein sich ausdrückt – Grammatik. Dafür ist die Hypostasierung eines Ichs, das um seine Gedanken weiß, weil es sich „entschlossen“ hat, so zu denken, irreführend. Es verkennt den sprachlichen Weltbezug von Personen und sucht nach etwas, das nicht zu finden ist. So lautet die richtige (!) Antwort auf die Frage „An was denkst Du dabei?“ in der selben Situation, z.B. beim Essen mit der Familie, einmal das neutrale „An unseren nächsten Sommerurlaub“ oder das verträumt zuzwinkernde „An einen der wunderbarsten Nachmittage des letzten Jahres“ – jeder Leser möge sich nun „ausdenken“, was damit gemeint sein könnte …
[1] Da wir gelegentlich feststellen, uns getäuscht zu haben, stellt Descartes mal probehalber alles in Frage, was ihm gewiss zu sein scheint und stellt dabei fest, dass er während ihm das durch den Kopf geht, nicht daran zweifeln kann, dass es ihm durch den Kopf geht. Descartes hat damit zwar recht, aber überbewertet seinen Zweifel.
Er möchte an allem zweifeln, was ihm gewiss scheint, aber das ist unmöglich, weil er das, was ihm gewiss scheint, gar nicht im Zugriff hat. Was uns gewiss scheint, bleibt im Dunkel des Unsagbaren. Gewissheit wird erst zugänglich, wenn sie verloren geht. Das Selbstverständliche eröffnet sich nur, durch den Zweifel, der dem, was sich von selbst versteht, fremd ist. „Nah ist / Und schwer zu fassen der Gott/ Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.“ Es braucht die erlebte Gefahr, um sie Gott nähern zu können.
[2] Man kann sich trotz der Sicherheit des „ich denke, also bin ich“ nicht nur darüber täuschen, wer man ist, sondern auch darüber, was man ist. Nur wenn wir Menschen begriffsanalytisch mit Sprache verbänden und Sprache nur dem Menschen zuschrieben, könnte die zweifelnde Person sicher sein, dass sie als „denkende“ ein Mensch ist. Aber denken wir uns einen Andorianer, der sich für einen Romulaner hält – wir könnten ihn dann darauf hinweisen, dass er die für Andorianer typischen Fühler hat und sein Blut blau und nicht grün ist usw. Wenn er dann dennoch darauf beharren würde, Romulaner zu sein, weil er das einfach z.B. durch eine (innere) Wahrnehmung wisse, die nur ihm möglich sei, dann wüssten wir jedenfalls, dass er nicht weiß, was es heißt, etwas über etwas zu sagen.
[3] So geht die Nettigkeit, die eine tourende Band ihrem Publikum erweisen will, gelegentlich schief: „Hallo Duisburg, seid ihr alle gut drauf?“ kommt dann in Dortmund nicht gut an.
[4] So heißt es im platonischen Sophistes vom Denken (διάνοια), es sei „das innere Gespräch der Seele mit sich selbst, was ohne Stimme vor sich geht“ (ὁ μὲν ἐντὸς τῆς ψυχῆς πρὸς αὑτὴν διάλογος ἄνευ φωνῆς).
[5] Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (1960), S. 361.
[6] Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Vorspiel einer Philosophie der Zukunft (1886), Erstes Hauptstück: Von den Vorurteilen der Philosophen 17.