Ein Leben in Freundschaft

Lesedauer 13 Minuten

Zum Geburtstag
– dem von Friedrich Engels, dem 200.

Natürlich geht’s um Friedrich Engels. Er ist am 28. November 1820 geboren und wir können heute seinen 200. Geburtstag feiern. Aber ich springe erstmal 130 Jahre vor und werde etwas persönlich. An so einem Tag, darf man das ja mal. Es war irgendwann 1974 als ich ihm das erste Mal begegnete. Ich war kurz davor ins Gymnasium zu wechseln und begann mich für Philosophie zu interessieren. Die „Rückseite des Spiegels“ (1973) von Konrad Lorenz brachte mich auf Kant!? Der dicke gelbe Reclam-Band ließ mich aber schnell frustriert zurück. Politisch sein war ein bisschen leichter. In Opposition gegen den Gewerkschaftsvater guckte ich erstmal nach rechts. Die Junge Union zum Beispiel war deutlich leichter zu verstehen als Kants Kritik. Aber das war nicht grade der „Klang meiner Generation“.[1] Aus meinem Zimmer dröhnten die Stones und die Helden von Woodstock. Damit konnte man seine „Alten“ auch ganz gut nerven. Und wenn rechts nicht rockte, dann rockte es vielleicht links außen?! Ich weiß nicht mehr wie ich so auf Engels kam. Jedenfalls kaufte ich mir mein erstes „politisches“ Buch, nämlich „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“. Als dtv-Taschenbuch für 6,80, nätürlich DM. Von den blauen MEW-Bänden, die mich dann jahrelang begleiten sollten, hatte ich keine Ahnung. Der 24 jährige Engels berichtet darin vor allem aus Manchester über „die brutale Gleichgültigkeit, die gefühllose Isolierung jedes Einzelnen auf seine Privatinteressen“. Ich las da atemberaubende Sätze: „und wenn wir auch wissen, dass diese Isolierung des Einzelnen, diese bornierte Selbstsucht überall das Grundprinzip unserer heutigen Gesellschaft ist, so tritt sie doch nirgends so schamlos unverhüllt, so selbstbewusst auf als gerade hier im Gewühl der großen Stadt. Die Auflösung der Menschheit in Monaden, deren jede ein apartes Lebensprinzip und einen aparten Zweck hat, die Welt der Atome ist auf die höchste Spitze getrieben.[2] Das war der Sound, den ich hören wollte. Das belegen noch heute die wilden Anstreichungen, die der Band aufweist: „Da in diesem sozialen Kriege das Kapital, der direkte oder indirekte Besitz der Lebensmittel und Produktionsmittel, die Waffe ist, mit der gekämpft wird, so ist es einleuchtend, dass alle Nachteile eines solchen Zustandes auf den Armen fallen. … Wenn er so glücklich ist, Arbeit zu bekommen, d.h. wenn die Bourgeoisie ihm die Gnade antut, sich durch ihn zu bereichern, so wartet seiner ein Lohn, der kaum hinreicht, Leib und Seele zusammenzuhalten; bekommt er keine Arbeit, so kann er stehlen, fals er die Polizei nicht fürchtet, oder verhungern, und die Polizei wird auch dafür Sorge tragen, dass er auf eine stille, die Bourgeoisie nicht verletzende Weise verhungert.[3] Es folgte dann irgendwann der erste blaue Band, MEW 4, mit dem „Kommunistischen Manifest“. Tatsächlich kam ich über Engels zu Marx. Und der Weg zum Bd. 23, dem Kapital, führte mich über Band 19 und 20 der Marx-Engels-Werke (MEW), nämlich Engels „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ (1880/82), seine „Dialektik der Natur“ (verfasst in den 80iger Jahren und posthum 1925 veröffentlicht) und dem sogenannten „Anti-Dühring“ (1878).

Der Weg zu Marx

Der Weg von Engels zu Marx ist nicht ganz so merkwürdig wie der Weg über Lorenz zu Kant, aber er ist auch nicht ganz „unproblematisch“. Engels steht bei Marxisten (unterschiedlichster Prägung) nicht ganz zu Unrecht in dem Ruf, die Marxschen Ideen gefährlich „vereinfacht“ und missverständlich „systematisiert“ zu haben.[4] Zweifellos hat Engels dem „Marxismus“ insbesondere in den Jahren nach Marx Tod eine eigene Prägung gegeben. So hat er den Fortschritt der Naturwissenschaften, für die er sich intensiv interessierte, mit dem historischen Materialismus zusammengebracht und zum Beispiel Marx Darwins Hauptwerk zur „Entstehung der Arten“ zur Lektüre empfohlen. Er hat damit die Marxschen Ideen die Form eines Systems annehmen lassen, das den Eindruck erweckte, der Marxismus hätte Dialektik materialisiert und ein fundamentales „Naturgesetz“ aller Entwicklung entdeckt.

Marx, Engels, Lenin, Stalin, Mao – WikiCommons

Das hat die Fortentwicklung des Marxismus entscheidend geprägt. Lenin, Stalin oder Mao beriefen sich mit zum Teil katastrophalen politischen Konsequenzen auf diese „Naturgesetze“ des „Dialektischen Materialismus“ und machten Engels zu einer Kultfigur des „revolutionären Wegs“. Engels geriet damit in eine zweifelhafte Nähe zu höchst zweifelhaften politischen Fehlentwicklungen.

Zurück zu 1844

Karl Marx und Friedrich Engels waren sich 1842 kurz begegnet. Man kann es nicht als gelungene Begegnung bezeichnen. Marx war Chefredakteur der Rheinischen Zeitung. Er hatte sich bereits einen gewissen Ruf erschrieben. Engels hatte unter dem Pseudonym Friedrich Oswald ebenfalls Artikel veröffentlicht, die einiges Aufsehen erregten. Auf Durchreise nach England stattete Engels im November 1842 der Redaktion der Rheinischen Zeitung einen Besuch ab: auch er hatte bereits einige Artikel beigesteuert. Die Begegnung glich der von Passanten: man grüßte sich lustlos, musterte sich kurz aus der Distanz und fand keine freundlichen Worte übereinander. Das war’s. Es war wohl vor allem Marx, der mit einem Zug von Arroganz kein Interesse an einem Austausch zeigte.

Gut ein Jahr später wird die Zeitung verboten und Marx übersiedelt nach Paris, um von dort die Deutsch-Französischen Jahrbücher herauszugeben. Im Januar 1844 erhielt er ein Manuskript für die Jahrbücher, eine „geniale Skizze[5] eines Mannes, der sich in Manchester als „Trainee“ in einer Weberei verdingen musste, an der sein Vater, ein Fabrikant aus Barmen (Wuppertal), Miteigentümer war: Friedrich Engels und sein Beitrag hatte den Titel „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie“.[6] Marx ist sofort begeistert – mit Recht. Was er hier auf 25 Seiten liest, kann man als sein Arbeitsprogramm für die nächsten knapp 40 Jahren verstehen. Ich selbst habe es geschätzt 10 Jahre nach der „Lage der arbeitenden Klasse“ gelesen und mein Text zeigt nur wenige Anstreichungen und Notizen. Die Begeisterung hielt sich wohl in Grenzen. Nachdem ich die „Umrisse“ jetzt nochmal gelesen hab’, kann ich Marx Urteil nur zustimmen: eine geniale Skizze, deren Genialität wir allerdings aus der Ausarbeitung erschließen, die Marx ihr gegeben hat. Auch Marx fing Ende Mitte/Ende 43 an, sich im Rahmen einer Kritik der Hegelschen Rechts- und Staatstheorie mit Ökonomie zu beschäftigen. Er las und las und las und philosophierte. Engels las ebenfalls, vor allem aber „sah“ er Ökonomie in Manchester und war selbst ein Teil von ihr.

28. August

Café de la Regénce – WikiCommons

Auf der Rückreise von Engels ins heimische Barmen kommt es zur entscheidenden Begegnung. Sie steht bei Marx nun freilich unter dem Vorzeichen, einen Gleichgesinnten zu treffen, der zu „genialen Skizzen“ fähig ist. Sie findet am 28. August im Café de la Régence, einem einschlägigen Café statt, in dem auch schon Benjamin Franklin oder Voltaire verkehrt hatten, und das wegen seiner hochkarätigen Schachpartien berühmt ist. Die berühmtesten Schachspieler der Zeit hatten dort ihre Wettbewerbe abgehalten, die wir heute wohl Weltmeisterschaften nennen würden. Und hier begegnen sich Marx und Engels, der Mohr und der General wie sie sich später nennen, zum ersten Mal wirklich. Diese Begegnung wird beider Leben prägen und nicht mehr enden: es eine Verbindung „bis dass der Tod uns scheidet“. Während der zehn Tage, die Engels Durchreiseaufenthalt dauert, sind sie kaum zu trennen. Sie zechen bis in die frühen Stunden und diskutieren und diskutieren. Und dabei erweist sich, wie beide – durch Dritte überliefert – bezeugen: „eine vollständige Übereinstimmung auf allen theoretischen Gebieten“.[7]

Eine ganz besondere Freundschaft

Was nun bis zu Marx Tod im Jahre 1883 folgt ist eine Freundschaft, für die wie der Marx Biograph Neffen schön formuliert „ein neues Wort erfunden werden“ müsste.[8] In den knapp 40 Jahren vergeht kaum ein Tag, an dem sie sich nicht austauschen. Meist an unterschiedlichen Orten lebend (Marx ab 1849 in London, Engels in Manchester) schreiben sie sich beinahe täglich – und das meist mehrmals. Kein Gedanke, der nicht geteilt und diskutiert wird.

Es ist vor allem Engels, der sein Leben ganz durch diese Freundschaft bestimmen lässt. Ihm ist die Arbeit als Teil der Geschäftsführung der Fabrik in Manchester verhasst. Er bezeichnet sie als „Frondienst“. Er nimmt ihn auf sich, um den weitgehend mittellosen Marx zu unterstützen, der mit den spärlichen Einkünften aus der Veröffentlichung von Artikeln das Leben der Familie nicht sichern kann. In der Londoner Zeit wird die Familie Marx von Engels durchgängig finanziell unterstützt. Immer wieder geht es in den Briefen, die zwischen London und Manchester hin und her gehen um Geld, das dem Haushalt Marxens fehlt und das deshalb bei Engels erbeten wird. Der schießt so gut er kann – neben der regelmäßigen Zahlung – immer klaglos zu.

Viel lieber hätte er mit Marx die neue Theorie entwickelt und das Leben eines freien Geistes geführt. Tatsächlich ist er ein guter Journalist, schreibt ideenreich und vor allem schnell. Anders als Marx wäre ihm ein Dasein als „freier Journalist“ vielleicht sogar gelungen. Viele der „Auftragsarbeiten“, aus denen Marx ein geringes Einkommen generiert, reicht er an Engels weiter, der sie schnell und mit Bravour erledigt, die Tantiemen natürlich dennoch Marx zukommen lässt. Vor allem über internationale Politik und Kriegsgeschehen schreibt Engels gerne und exzellent. Nicht nur um dem Elternhaus fliehen zu können, sondern wohl auch aus einer gewissen Neigung zum „militärischen Husarenstück“, hatte er sich 1841 freiwillig zum preußischen Militär gemeldet und hat seine militärische Erfahrung dann in der 48iger Revolution in vorderster Front eingebracht. Der „General“, so sein vielsagender Spitzname, war ein guter Reiter, der gerne an Jagden und Wettkämpfen teilnahm.

Marx General

Gleich einem General versucht er auch Marxens Leben zu ordnen. Finanziell, aber auch im Schaffen. Während Engels Vorhaben zügig angeht und umsetzt, kommt Marx nur langsam und unter Druck voran. Gleich 1844 machen sich beide an eine Kritik einer Gruppe von Junghegelianern. Engels liefert noch im September, keine drei Wochen nach ihrem Pariser Treffen, seinen vereinbarten Teil. Marx kommt nur langsam voran und die Sache wächst sich immer weiter aus. Als die Sache schließlich nach fast einem Jahr fertig ist, bekennt Engels: „Dass Du die ‚Kritische Kritik‘ bis auf 20 Bögen ausgedehnt ist mir allerdings verwunderlich gewesen … Wenn Du … meinen Namen auf dem Titel hast stehen lassen, so wird das sich kurios ausnehmen, wo ich kaum 1 ½ Bogen geschrieben habe.“ Aus Sicht Engels hätte man die Kritisierten eher mit „souveräner Verachtung“ strafen sollen als sie mit 22 Bogen feinster philosophischer Analyse zu ehren. Darin zeigt sich ein Muster der Marxschen Arbeitsweise, die Engels immer wieder beklagt: „er vollendet nichts, er bricht überall ab und stürzt sich immer von neuem in ein endloses Büchermeer“.[9]

Immer wieder ermahnt Engels den „Mohren“ sich aufs wirklich Wichtige zu konzentrieren und sich enge Zeitrahmen zu setzen: „Mach, dass Du mit Deinem nationalökonomischen Buch fertig wirst, wenn Du auch mit vielem unzufrieden bleiben solltest, es ist einerlei, die Gemüter sind reif…“ mahnte Engels schon früh. „Setz Dir eine Zeit, bis wohin Du positiv fertig sein willst und sorge für baldigen Druck.“ Das alles fruchtete wenig. Das, wofür Engels den „Frondienst“ auf sich nahm, „Das Kapital“, sollte noch gut 20 Jahre auf sich warten lassen!

Tag der Freiheit

Das Kapital – WikiCommons

Zwei Jahre nach Erscheinen des Marxschen Hauptwerks, konnte Engels 1869 endlich die verhasste Arbeit hinter sich lassen. Seine Lebensgefährtin berichtet über seinen letzten Arbeitstag an Marx und schreibt: „da erkannte ich, was das all die Jahre hindurch für ihn bedeutet hatte. Ich werde niemals das triumphierende ‚zum letzten Mal‘ vergessen, das er ausrief, als er seine Röhrenstiefel am Morgen anzog, um zum letzten Mal seinen Weg ins Geschäft zu nehmen. Einige Stunden später, als wir am Tore standen, auf ihn wartend, sahen wir ihn über das kleine Feld gegenüber seinem Wohnhause daherkommen. Er schwang seinen Stock in der Luft und sang und lachte mit dem ganzen Gesicht.“ „Hurra!“ schrieb er an Marx „Heute ist’s mit dem doux commerce am Ende, und ich bin ein freier Mann!“ Es sei „der erste Tag“ seiner Freiheit.

Das Genie des Talentierten

Aber auch bei seinem Ausstieg aus der Firma war Engels vor allem darauf bedacht, dass nicht nur sein Auskommen für die nächsten Jahre gesichert war, sondern vor allem auch das der Familie Marx. Für Engels war Marx „ein Genie, wir andern höchstens Talente. Ich begreife überhaupt nicht, wie man auf ein Genie neidisch sein kann; das ist so eine Sache so eigener Art, dass wir, die es nicht haben, von vornherein wissen, es ist für uns unerreichbar.[10]

Freiheit, das hieß für Engels vor allem mit Marx leben. Engels zieht schließlich nach London in die Nähe des „Mohren“. Nun sehen sie sich täglich, diskutieren und entwickeln Ideen. Engels ist nicht nur Teil der Familie, er ist ihr ruhender Pol.

Erste Geige

Als Marx 1883 stirbt gibt es für Engels nur eine Aufgabe: Marx Ideen in die Welt zu tragen und das Liegengebliebene zu ordnen und zu veröffentlichen, was Marx nicht fertigstellen konnte. Davon gab es viel, sehr viel. Und es gab ungelöste Probleme, die für die marxsche Theorie äußerst kritisch waren (insbesondere die Funktion der Kapitalmärkte und die Krisentheorie waren offene Flanken). Nun machte er sich an die Arbeit, die Berge von Manuskript-Seiten zu ordnen. Schließlich brachte er 1885 den zweiten und 1894, ein Jahr vor seinem Tod, den dritten Band des „Kapitals“ heraus.

Gründer und Häupter der Arbeiterbewegung – WikiCommons

Die Aufgabe der Vermittlung marxscher Ideen bedeutete auch politische Arbeit und Mitgestaltung bei der Entwicklung der Arbeiterbewegung. Engels Londoner Haus in der Regents Park Road 122 wurde zu einem Zentrum der internationalen Arbeiterbewegung. Es war für alle kritischen Geister offen und beinahe alle führenden Köpfe der Arbeiterbewegung gingen dort ein und aus. Engels der sich selbst mit Blick auf Marx immer als „zweite Violine“ sah, wurde zur weitgehend anerkannten theoretischen Autorität und spielte nun die „erste Geige“.

Die Schriften, die jetzt entstehen und die Marxschen Ideen „systematisieren“ sind weit einflussreicher und wirkungsmächtiger als die von Marx selbst. Man liest eher den „Anti-Dühring“ als das Kapital. Es sind diese Schriften und das behutsame Zusammenführen der unterschiedlichsten Kräfte der Arbeiterbewegung, die ihn zu dem Mann machen, „der den Marxismus erfand“.[11] Von Engels wird überliefert, Marx habe von sich selbst gesagt: „je ne suis pas un Marxiste“ (ich bin kein Marxist).[12] Engels war wohl in einem ausgezeichneten Sinne einer. Die problematischen Züge, die die Ausbildung des Engelschen Marxismus annahmen, stehen freilich wiederum den Engelschen Intentionen ziemlich deutlich entgegen. Engels zeigte sich ab den späten Achtziger Jahren begeistert von der Entwicklung des „demokratischen Sozialismus“ in Gestalt der SPD und der von ihr geprägten Arbeiterbewegung. Er war durch die Erfahrung der englischen Arbeiterbewegung zunächst skeptisch, ob der Weg in die Parlamente wirklich aussichtvoll ist. Die Entwicklung der SPD in den siebziger und achtziger Jahren machte ihn aber zum „Sozialdemokraten“: „Die Ära der Barrikaden und Straßenschlachten ist für immer vorbei.[13] Stattdessen sei der Weg über die Parlamente zu nehmen. „Wir, die ‚Revolutionäre‘, die ‚Umstürzler‘, wir gedeihen weit besser bei den gesetzlichen Mitteln als bei den ungesetzlichen und dem Umsturz. Die Ordnungsparteien, wie sie sich nennen, gehen zugrunde an dem von ihnen selbst geschaffenen gesetzlichen Zustand.[14] Und so wird die Reise auf den Kontinent, die er 1890 unternimmt und bei er diverse Organisationen der europäischen Arbeiterbewegung in der Schweiz, Österreich und Deutschland besucht, nicht nur zum Triumphzug für Engels als „der ersten Geige“, sondern auch zum Bekenntnis Engels zur Sozialdemokratie.

Aber auch hier bleibt Engels seinem Marxismus treu. Auf einem Kongress in Zürich bedankt er sich vielsagend: „Der unerwartet glänzende Empfang, den sie mir bereitet haben und den ich nur mit tiefer Rührung entgegennehmen konnte, ich nehme ihn an nicht für meine Person, sondern als Mitarbeiter des großen Mannes, dessen Bild dort oben hängt.“ Es war wieder mal das Bild von Marx, das über ihm hing. [15]

Blüte

Wie bleibt uns Engels in Erinnerung? Traditionell stellte man „große“ Männer (und Frauen) sich im Alter ihrer herausragenden Leistung vor, in der Blüte ihres Schaffens oder Wirkens (ἀκμή). Sehen wir Friedrich Engels also als den jungen Autor von „Die Lage der arbeitenden Klasse“ oder der „Umrisse“ oder als umsorgenden Freund in seinen Fünfzigern oder den späten Engels, der das Spiel der „ersten Geige“ übernommen hat und mit seinen System-Schriften den Marxismus als „dialektischen Materialismus“ „erfindet“? Tristram Hunt bildet auf dem Titel seiner Biographie den jungen Engels ab und folgt darin nicht seiner im Buch vertretenen Position. Der Engels, der in „realsozialistischen Ländern“ hunderttausende Male im Dreigestirn von Marx, Engel, Lenin abgebildet wurde, war dagegen der alte, der Engels nach Marx Tod. Und dieser Engels wirkt auf Tristram Hunt und die meisten von uns wohl eher abschreckend. Vielleicht kommt das Denkmal in Berlin Mitte, das den mittleren Engels leicht versetzt hinter dem sitzenden Marx zeigt, der Akme Engels am Nähsten. Es ist die gemeinsame Zeit mit Marx in London ab 1869 bis zu dessen Tod 1883, die Engels vermutlich als seine beste gesehen hat.

Marx Engels in Berlin Mitte – WikiCommons

Fragen wir uns, was sich uns heute nach 200 Jahre von ihm zur Lektüre anbietet, dann gibt es da sicher richtungsweisende Bücher: „Die Lage der arbeitenden Klasse“ ist ein Klassiker der Sozialgeschichtsschreibung und hat für die Entwicklung der Stadt- und Raumplanung maßgebende Impulse gesetzt. Oder „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ (1884) erweitert die gesellschaftskritische Perspektive in Richtung Ethnologie und bringt die Geschlechterfrage in die Diskussion. Aber vieles ist doch vor allem für Historiker und Fachleute interessant. Um ehrlich zu sein, würde ich etwas empfehlen, das seiner Freundschaft mit Marx entspringt: den umfänglichen Briefwechsel, der sich über hunderte ja tausende Seiten erstreckt, aber schon nach einem Band ein Gefühl dafür vermittelt, was Freundschaft sein kann. Und natürlich ist auch das Kommunistische Manifest der beiden immer eine Lektüre wert.

Könnten wir Engels selbst fragen, was er zu lesen empfiehlt, dann bin ich mir sicher, die Antwort wäre: Karl Marx, Das Kapital.

[1] Es war einfach Rockmusik… https://www.youtube.com/watch?reload=9&v=AflcHv5vzkM

[2] Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, 1973, S. 42.

[3] A.a.O., S. 43.

[4] Man kann vermutlich von einem weitgehenden Konsens unter marxistischen Theoretikern unterschiedlichster Couleur sprechen, dass der „eigenständige“ Engels das Marxsche Denken in einer Form darstellt, die Missverständnisse zumindest nahelegt.  

[5] So Marx cf. MEW 13, 10.

[6] MEW 1, 499-524.

[7] MEW 13, 10.

[8] Jürgen Neffe, Marx, Der Unvollendete, 2017, S. 175.

[9] So Arnold Ruge, der mit Marx die Deutsch-Französischen Jahrbücher herausgab:

[10] Diese Sicht hatte nicht nur der Freund Engels. Insbesondere unter den Junghegelianern war Marx als herausragender Kopf anerkannt. Und Moses Heß z.B. schreibt 1842 über Marx folgendes:“ „Du kannst Dich darauf gefasst machen, den größten, vielleicht den einzigen jetzt lebenden eigentlichen Philosophen kennenzulernen, der nächstens … die Augen Deutschlands auf sich ziehen wird … Dr. Marx, so heißt mein Abgott, ist noch ein ganz junger Mann (höchstens 24 Jahre alt), der der mittelalterlichen Religion und Politik den letzten Stoß versetzen wird; er verbindet mit dem tiefsten philosophischen Ernst den schneidendsten Witz; denke Dir Rousseau, Voltaire, Hobach, Lessing, Heine und Hegel in einer Person vereinigt, ich sage vereinigt, nicht zusammengeschmissen – so hast Du Dr. Marx.“

[11] So der Untertitel der Biographie von Tristram Hunt, Friedrich Engels. Der Mann, der den Marxismus erfand, 2013.

[12] MEW 37, 436.

[13] MEW 38, 505.

[14] MEW 22, 525.

[15] (MEW 22, 408).

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