Ovids Metamorphosen V: Odysseus zum Zweiten

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Jetzt aber riß sich der einfallsreiche Odysseus die Fetzen
Ab und sprang auf die mächtige Schwelle, mit Bogen und Köcher
Voll von Pfeilen, und schüttete sich diese schnellen Geschosse
Eben dort for die Füße und rief dann hinein in die Freier:
‚Dieser heillose Wettkampf ist nun völlig entschieden!
Jetzt aber werd ich ein anderes Ziel, das noch keiner getroffen,
Finden, wenn es mir glückt und mit Ruhm mich Apollon begnadet.
[1]

Der „heillose Wettkampf“ von dem Odysseus da spricht, ist der um den von Penelope selbst aufgestellten „Kampfpreis“: derjenige unter den Freiern, der mit dem Bogen des Odysseus durch die Augen der Schneiden von 12 Äxten zu schießen vermag, wird sie als Frau bekommen. Sie ist sich sicher, dass dies nur Odysseus selbst vermag. Und tatsächlich konnte nur der nach zwanzig Jahren zurückgekehrte und als Bettler verkleidete Odysseus den Freiern beweisen, dass die Aufgabe zu erfüllen war.

WIR LESEN OVID
Ovid – WikiCommons

Ovids Metamorphosen sind ein lesenswerter Klassiker. Wir lesen Stück für Stück die fünfzehn Bücher in kleinen überschaubaren Abschnitten. Können wir Philosophisches zur Zeit daraus lernen? Finden Sie’s raus und lesen Sie mit! Das geschah bisher.

Louis-Vincent-Léon Pallière, Ulysse et Télémaque massacrant les prétendants de Pénélope, 1812,

Aber nun beginnt der eigentliche „Wettkampf“, nämlich der „Freiermord“,[2] dem der gesamte 22. Gesang der Odyssee gewidmet ist. Es ist ein spektakuläres Dahinschlachten der Freier und ihrer willfährigen Gehilfen. Die „schweren“ Waffen, Pfeil und Bogen, Speere und Lanzen wurden vom listenreichen Odysseus und seinen Helfern, seinem Sohn Telemachos und seinem alten Sauhirten Eumaios, in eine Kammer weggesperrt. Die Freier haben deshalb nur leichte Waffen, Schwerter und Messer zu ihrer Verteidigung.

Homer schildert das Abschlachten ausführlich und detailreich. Odysseus tötet auch die gnadenlos, die sich ihm ergeben und waffenlos knieend vor ihm um ihr Leben flehen. Melanthios, dem Geishirt, der den Freiern behilflich war, lässt er grausam foltern: „Gut denn, ich und Telemachos werden die adligen Freier / Fest hier halten im Innern des Saales, so sehr sie auch drängen. / Ihr aber dreht ihm [Melanthios] Hände und Füße übereinander, / Werft ihn hinein und bindet ein Brett ihm fest in den Rücken, / Knüpft dann zu zweit ein geflochtenes Seil an ihn selber und zieht ihn / Hoch hinauf an der stützenden Säule hinein in die Sparren: / Böse Schmerzen soll er erdulden und lange dort leben![3]

Nachdem alle Freier ermordet wurden[4], bekommen die Dienstmägde des Hauses, die im Verdacht standen, sich mit den Freiern eingelassen zu haben, zunächst den Auftrag die Toten zu entfernen und das Haus zu reinigen, um dann erhängt zu werden.[5] Wer wissen will, welches Ende es mit Melanthios nahm, der muss das selber nachlesen (474ff.). Bei all dem schützt ihn Pallas Athene und leitet ihn an.

Natürlich ist das von Homer geschilderte Kampfgeschehen eine große nicht ganz realistische Choreographie: das Kampf um Mord und Totschlag wird immer wieder mit Gesprächseinlagen und motivierenden Erläuterungen der Handelnden durchsetzt, wie wir es so wohl kaum vorstellen können. Bleibt das Befremdliche, dass solch mörderisches Geschehen als Teil (des Anfangs) „unserer“ abendländischen Kultur gelten muss. Das wäre ein weites Feld. Knapp 2.000 Jahre später begegnen uns im Nibelungenlied ähnliche Gewaltexzesse: in der 32. bis 36. Aventiure werden die Burgunden von den Hunnen in einer Herberge überfallen und abgeschlachtet; nur Dankwart kann sich frei- und zum Saal in dem das Festbankett der Burgunder und Hunnen stattfindet durchkämpfen. Nun schlachten die Burgunder die Hunnen und am Ende wird der Saal verschlossen und in Brand gesteckt. Der Untergang der Burgunder ist zugleich Ausdruck ihrer Wehrhaftigkeit und Würde. Das mag einem nicht gefallen, hat aber diese (bleibende?) Wirkung, die wir nicht mehr verstehen können oder wollen.

Perseus im Kampf gegen Phineus, Sebastiano Ricci, um 1705

Ganz anders die „neue Kopie“ bei Ovid, ein „neuer Stoff“ einer neuen Dichtung: in nova mutatas formas corpora. Sein Odysseus und Athene/Minerva Liebling Perseus wird von ihm Anfang des fünften Buches ebenfalls in den Nahkampf mit einer Überzahl von Gegnern geschickt. Auch Ovid verwendet einiges darauf, das Kampfgeschehen plastisch und ausführlich und ohne summarische Kürzungen wiederzugeben. Im Festsaal des königlichen Palastes kommt es zur Auseinandersetzung der alten Freier der Andromeda mit dem neuen Günstling Perseus, dem nun Andromeda zur Frau versprochen wurde. Vor allem Phineus glaubt seine älteren Rechte verletzt. Es kommt zur Schlacht in der Halle. Aber sie verläuft bei Ovid völlig anders. „Nach kurzem Zögern schleudert er [Phineus] die Lanze mit aller Kraft, die der Zorn ihm verlieh, vergeblich auf Perseus.“ Glück gehabt mag man denken. Konnte er ausweichen, sich schützen? Nein, Ovid ist gnadenlos sarkastisch: „Als sie [also die verfehlte Lanze des Phineus] im Polster steckte, sprang Perseus – erst jetzt! – vom Lager auf und er hätte mit der Waffe, die er trotzig zurückschickte, die feindliche Brust durchbohrt, wäre nicht Phineus hinter den Altar getreten, und – o Schmach! – dem Frevler war der Altar von Nutzen!“ Hätte, hätte, Fahrradkette – unser Held Perseus wirft daneben, weil der Altar völlig „dysfunktional“, gleichsam entgegen seiner heiligen Funktion, den Angreifer schützt, trifft aber nun einen anderen „Unschuldigen“: „Doch war der Wurf nicht vergeblich [!?], die Lanze blieb in der Stirn des Rhoetus stecken.“ Phineus ist also der schuldige Angreifer, Perseus freilich wird in seiner Reaktion zum Schuldigen gegen einen Anderen. Und auch das schildert Ovid mit einer eigenen „Färbung“: „Er [Rhoetus] stürzt, das Eisen wird ihm aus dem Schädel gezogen, er schlägt mit den Fersen aus und besprengt die gedeckte Tafel mit Blut.

Nun gerät das „Volk“ außer sich und will Rache und vor allem den Kopf des Perseus. Aber wirklich geschehen wird ihm natürlich nichts, denn Pallas Athene ist zur Stelle, „schützt ihn und flößt ihm Mut ein“ – den kann er brauchen, denn von Mut mag man bei dem Perseus des Ovids – eher einem unbedarften, gut gelaunten Taugenichts – nicht recht sprechen. Das Kampfgeschehen geht so hin und her. Mal rutschen einige im Blut der Gefallenen aus, „von dem der Boden noch weithin feucht und warm war“. „Als sie sich erheben wollten, [Ups], stand ihnen das Schwert im Wege, und es drang dem einen zwischen die Rippen, dem Phorbas in die Kehle.“ Perseus hingegen wird von einem Kämpfer mit beeindruckender Doppelaxt angegriffen, greift aber nicht zum Schwert, sondern zum „riesigen Mischkrug, auf dem in erhabener Arbeit Figuren hervortraten und der aus schwerem Metall war, und schmettert ihn auf den Mann; der speit rotes Blut, liegt auf dem Rücken und schlägt sterbend mit dem Hinterkopf gegen den Boden“. Einem anderen, der „mit Zitternden Händen den Altar umklammert“, wird „mit dem Schwert das Haupt“ abgeschlagen. „Es [das Haupt] stürzt sogleich auf den Altar, lallte dort mit noch halb lebender Zunge Worte des Fluches und hauchte die Seele mitten ins Feuer aus.

Dem Tod eines Zwillingsbruderpaars, die beide als „unbesiegbar im Faustkampf“ galten, kommentiert Ovid mit „wenn man nur mit Boxhandschuhen Schwerter besiegen könnte!“. Und der Sänger, der bei Odysseus geschont wird, und mit dem „unkriegerischen Plectrum in der Hand abseits“ stand, wird mit „Singe weiter für die Toten am Styx“ durchs Schwert in den Tod und hinab zum Styx geschickt.

Das alles ist doch ein ganz anderer „Ton“ als bei Homer. Ovid nimmt die dramatische Situation auf und verwandelt sie ins skurril Komödiantische. Natürlich kann dieser „Held“ sich auch unter Anleitung der Pallas Athene/Minerva der Menge der Gegner nicht erwehren, so dass er – „als er sah, daß seiner Tapferkeit [!?] der Übermacht unterlag“ – auf das Haupt der Medusa zurückgreifen muss. Wie eigentlich immer. In kurzer Zeit versteinerte er die Gegner in der Bewegung, in der sie sich gerade beim Anblick des Gorgonen-Haupts befanden. Und das hat etwas absurd Komisches: die in höchster Anspannung und Energie vorgetragene Bewegung wird eingefroren; die Lanze will gerade die Hand verlassen, bleibt aber an ihr kleben – wir sehen die gespannten Gesichtszüge des Werfers, seinen verdrehten Körper, der gerade nur noch mit den Fußspitzen den Boden berührt. Wir kennen das aus Kinderspielen, in denen man wild im Zimmer (oder Saal) herumsaust, allerlei Grimassen schneidet oder Handlungen fingiert, und auf Kommando, einem Handklatschen, einer Hupe oder der unterbrochenen Musik, in der Haltung einfrieren muss. Wer sich als erster bewegt, hat verloren und wird ausgesondert.

Perseus Kampf wird bei Ovid zu einem solchen Spiel. Mit Entsetzen schauen wir auf ein Kunstwerk, das durch seine unfreiwillige Komik die Tragik der Helden ausmacht. Putin schreitet in den Staatsrat – wenn es das so gab –, um die notwendigen Dokumente für den Start der „Spezialoperation“ in der Ukraine zu unterzeichnen. Er winkt einigen Vertrauten zu, schüttelt die Hände von wichtigen Beteiligten und will sich gerade setzen als die Hupe ertönt. Alles eingefroren. Zoomen wir jetzt etwas raus und werden global. Auch die Berliner Kinder, die europäischen Mafiosi und die Transatlantiker spielen mit. Wer bewegt sich zuerst und verliert? Früher wäre es ja mal Brandt und die SPD gewesen. Aber die haben einfach schon zu oft verloren und wären von Ovid sicher ignoriert worden.

Augustus

Perseus versteinert noch andere Herrscher, die ihm seine Geschichte nicht glauben: er „machte das Gesicht des Königs durch das der Meduse zu leblosem Stein“ (regis ore Medusaeo silicem sine sanguine fecit). Es kommt eben doch drauf an, dass man – wie Octavian Augustus – sich richtig versteinern lässt – nämlich nicht aus dem Leben, sondern nach dem Ideal. Aber auch das wirkt – unter dieser Perspektive betrachtet – tragisch-komisch wie alles in Positur bringen: Männle bauen, Eindruck schinden. Die Versteinerung der ausgreifenden Geste, des Machtanspruchs und der willfährigen Gefolgschaft – nur weil ein Dichter in die Hände klatscht und wir die Welt nun anders sehen.

 

Demnächst

Wir verlassen Perseus – das fällt mir nicht allzu schwer – und folgen Pallas Athene/Minerva auf ihrem Weg zu Pegasus, den einiges mit dem Medusenhaupt verbindet.

[1] Odyssee XXII 1-7.

[2] So wird der 22. Gesang in der Übertragung von Anton Weiher betitelt: Homer, Odyssee, griech.-dt, 1986.

[3] Odyssee XXII 171ff.

[4] Nur den Sänger Phemios und den Seher Medon ließ er – auf die drängende Bitte von Telemachos – am Leben.

[5] Odys. XXII 462ff.: „Solcherlei Weibern durch sauberen Tod das Leben zu nehmen / Lehne ich gründlich ab, die das Haupt unserer Mutter und meines / Schimpflich geschändet, den Freiern indessen aufs Lager gefolgt sind“ / Also sprach er und band das Seile eines Schiffes mit dunklem / Bug an eine der großen Säulen des staatlichen Rundbaus, / Zog es dann straff und hoch; kein Fuß erreichte den Boden. / Wie wenn Drosseln mit langen Schwingen und Tauben in Schlingen / Plötzlich geraten – gestellt ist die Falle in dichten Gebüschen – / Heimwärts ziehn sie zum Nest, nun empfing sie ein grausiges Lager; Gradso hingen sie nebeneinander und senkten die Köpfe. / Jeden Nacken umwand der Strick – ein klägliches Ende – / Kurz nur zappelten sie mit den Füßen, doch nicht gar nicht sehr lange.“

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