Nicht in jedem Frosch wartet ein Prinz darauf, freigeküsst zu werden. Mancher Frosch würde sich in einen herzlosen Bauern zurück verwandeln. Eine solche Geschichte lässt Ovid erzählen und bedient sich dafür einer doppelten Verschachtelung: er erzählt von einem, dem von einem anderen eine Geschichte erzählt wurde.
Quakende Ignobilitas
Nach dem grausamen Schicksal, dem die Kinder Niobes und Amphion erfuhren, beklagt man die Familie und „trauert um den Tod Amphions und seines Stammes“. Niobe bleibt verhasst. „Und wie es zu geschehen pflegt…“ kommt man „von dem näher liegenden Ereignis auf frühere zu sprechen“. Auch früher, weiß einer (quibus unus) zu erzählen, hätte die Göttin Unbotmäßigkeit bestraft. „Die Geschichte ist zwar nicht berühmt, weil die Helden nicht vornehm sind“, lässt Ovid – typisch Ovid – den unbekannten Erzähler seine Erzählung kommentieren, „aber wunderbar“[1] und also durchaus wert, erzählt zu werden. Sie ist ihm wiederum von einem anderen erzählt worden, aber der Erzähler versichert, selbst am Ort des Geschehens gewesen zu sein so als könnte sie damit irgendwie Glaubwürdigkeit gewinnen?!
WIR LESEN OVID
Ovids Metamorphosen sind ein lesenswerter Klassiker. Wir lesen Stück für Stück die fünfzehn Bücher in kleinen überschaubaren Abschnitten. Können wir Philosophisches zur Zeit daraus lernen? Finden Sie’s raus und lesen Sie mit! Das geschah bisher.
Latona/Leto war auf der Flucht vor Juno/Hera, die wiedermal betrogene Gattin Juppiters/Zeus. Den neuerlichen Ehebruch wollte Juno nicht ungestraft lassen und die Geburt der Zwillinge verhindern. Natürlich musste auch das schief gehen, es handelt sich immerhin um keine geringeren als Apollon und Artemis/Diana. Auf der Flucht vor Junos Zorn zog sie mit den Kleinen durchs Land. An einem See wollte die Flüchtende ihren Durst stillen als Bauern das unter Schmähungen zu verhindern suchen. Wem es selbst nicht so toll geht, wie den armen Bauern, die Binsen und Schilfrohr sammeln, der findet nur zu gern jemanden, dem es noch schlechter zu gehen scheint. Wer zeitlebens buckeln muss, der möchte auch andere beherrscht sehen und lebt gerne einmal seinen Unmut aus, indem er nach unten tritt. So machen sie das Wasser ungenießbar, indem sie Schlamm aufwirbeln. Nicht der Göttin, die sie als solche gar nicht erkannten, galt ihr Unwille. Es war die dürstende Flüchtende, die von ihnen herzlos und ohne Grund abgewiesen wurde. Als Göttin bräuchte Latona nicht zu bitten – und als Göttin wäre sie wohl auch nicht bedürftig. „Was haltet ihr mich vom Wasser fern? Die Nutzung des Wassers ist eines jeden Recht. Die Natur hat weder die Sonne noch die Luft noch die klaren Wellen jemanden als Eigentum gegeben. Ich bin gekommen, um etwas zu empfangen, das allen zusteht. Dennoch bitte ich euch kniefällig …“[2] Die Bauern zeigen sich unbarmherzig, nicht gerade „nobel“ (ignobilis) und lassen sich durchs flehentliche Bitten nicht umstimmen. Das verdient Tadel. Letona wird wütend: „Der Zorn ließ Latona den Durst vergessen“ (wie wunderbar sich das im Lateinischen sagen lässt: distulit ira sitim)[3] und sie verwandelt die Bauern in quakende Frösche: „Ewig möget ihr in diesem Pfuhl leben!“.[4] Dort können sie, schamlos, ihre „garstigen Reden“ weiterführen und Ovid lässt sie lautmalerisch quaken: quamvis sint sub aqua, sub aqua maledicere temptant (obwohl sie unter Wasser leben, versuchen sie unter Wasser zu lästern).[5]
Schrecklicher Wohllaut
Der unbekannten Geschichte des Unbekannten lässt Ovid von einen anderen eine andere Geschichte beisteuern, die als bekannt vorausgesetzt werden darf. Sie braucht gar nicht mehr erzählt zu werden. Die bloße Nennung eines Namens reicht aus, um uns die schreckliche Geschichte wieder ins Bewusstsein zu rufen: Marsyas. Der Satyr hatte Apollon zum Musen-Wettbewerb herausgefordert. Der siegreiche Apollon hängte – zur Strafe – den in seine Kunst verliebten Marsyas wie eine Jagdbeute an einen Baum und zog ihm bei lebendigem Leib die Haut ab. Hatte die Geschichte der verwandelten Bauern uns schadenfroh schmunzeln lassen, erschreckt uns das Schicksal des armen Marsyas immer wieder aufs Neue.
Pathemata mathemata
Sie lebt vom Schrecken, den sie bei uns Lesern/Hörern hervorruft. In der Rhetorik werden traditionell drei Redeformen unterschieden: eine (genus iudicale), die sich auf das richtige Urteil in einer strittigen Sache bezieht (i), eine zweite (genus deliberativum), die auf eine richtige Entscheidung in einer Beratung darüber, was zu tun ist, abzielt (ii) und eine dritte (genus demonstrativum), die sich auf das Hervorrufen bzw. die Verstärkung von Affekten versteht (iii). Während sich die ersten beiden auf eine „rhetorische Differenz“ beziehen, nämlich eine unterschiedliche Sicht von Redner und Hörer – darauf was der Fall bzw. was zu tun ist – zielt die dritte nur auf das Pathos, das eine (weitgehend) unstrittige Sache begleiten soll. Nur affektiv ergriffen, sym-pathetisch, weiß man wirklich, wovon die Rede ist. Ovids Erzählung von Marsyas will uns nicht mit einer erstaunlichen Sache bekannt machen, von der wir bisher nichts wussten – sie will uns spüren lassen, was wir eigentlich (bereits) wissen: es ist nicht gut, sich zu überschätzen. Ovid bringt uns also das schreckliche Geschehen vors geistige Auge, um uns erschaudern zu lassen: „Während er noch schrie, wurde ihm die Haut oben über die Glieder abgezogen, und alles war eine einzige Wunde: Überall strömt Blut hervor, offen liegen die Sehnen da, und ohne Haut pulsieren die bebenden Adern. Man könnte im Innern die zuckenden Organe und and der Brust die durchscheinenden Fibern zählen.“[6]
Meister des Schreckens
Ovid erweist sich als Meister der Faszination des Schreckens. Wir gucken gebannt auf etwas, das wir eigentlich gar nicht wahrnehmen wollen. „Was ziehst du mich von mir ab?“ (quid me mihi detrahis) lässt Ovid Marsyas schreien und bringt das Schicksal Marysas damit auf den Punkt: Die Schönheit des musischen Tons, zu der Marsyas fähig ist, darf ihn nicht vergessen lassen, wer er ist – ein verletzliches, endliches Wesen, das seine Stellung im Kosmos nicht überschätzen darf.
Demnächst
Wir bleiben beim Schrecken. Und Ovid ist auch ein Meister des Suspense. Vielleicht lesen Sie schon mal zur Einstimmung die Medea?!
[1] VI 319f.L res obscura quidem est ignobilitate virorum, / mira tamen. Ob es sich wirklich um „Helden“ handelt – wie Michael von Albrecht übersetzt – mag dahingestellt bleiben. Die ist obscura, weil sie nicht durch die Vorzüglichkeit, die nobilitas, der Akteure ins Licht gestellt wird, und ist vermutlich gerade deshalb mira, interessant und erstaunlich – Michael von Albrecht übersetzt hier etwas altväterlich mit „wundersam“, während es mir so scheint als wolle Ovid eine kleine Geschichte erzählen lassen, die er einfach „wunderbar“ (amüsant) findet.
[2] VI 349ff.: ‚Quid prohibetis aquis? usus communis aquarum est. / Nec solem proprium natura nec aera fecit / nec tenues undas: ad publica munera veni. / Quae tamen ut detis, supplex peto.‘
[3] VI 366.
[4] VI 369: ‚aeternum stagno‘ dixit ‚vivatis in isto‘
[5] VI 376. Eine Stelle, an die sich – wie mir ein Leser bestätigte – viele erinnern, die durchs „Große Latinum“ gegangen sind. „Ovids Metamorphosen? Das ist doch: quamvis sint sub aqua, sub aqua maledicere temptant?!” heißt es dann … oder eben doch besser: in nova fert animus mutatas dicere formas corpora!
[6] VI 387ff.: Clamanti cutis est summos direpta per artus, / nec quicquam nisi vulnus erat; cruor undique manat, / detectique patent nervi, trepidaeque sine ulla / pelle micant venae; salientia viscera posses / et perlucentes numerare in pectore fibras.