Menexenos

Lesedauer 31 Minuten
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Vom Markt kommst Du, Menexenos“? So beginnt der platonische Dialog Menexenos, der vielen schlicht als ein „Geheimnis“ gilt, a „mystery“[1]: „Dies ist die verwirrendste Schrift Platons“, heißt es beim Grand Seigneur der deutschen Altphilologie und Platon Liebhaber, Paul Friedländer, „und unter seinen vielen Sokratesbildern das paradoxeste.[2] Andere renomierte Platonkenner sprechen von „almost certainly the most enigmatic of all Plato’s writings[3], von “a philosophical puzzle[4] oder gesteigert „a worse puzzle to the reader than any other work of the Platonic corpus[5] Nach einer ersten Lektüre mag man den Menexenos thematisch etwas abgelegen und nicht gerade besonders spannend finden, aber mysteriös? Das Gespräch zwischen Sokrates und Menexenos, der dem Dialog den Titel gibt, steuert (234a-236d) auf eine Leichenrede zu, die Sokrates Menexenos zum Besten gibt. Die Leichenrede nimmt den Großteil des Menexenos ein (236d-249d) und wird nur durch ein kurzes Abschlussgespräch der beiden ergänzt (249d-e). Die Rede will Sokrates im Rhetorik-Unterricht gelernt haben und weist die typischen Strukturmerkmale eines Epitaphions (ἐπιτάφιος λόγος) auf: Lob, Ermahnung, Trost. Nach einer kurzen Einleitung (236d-237b) wird die edle, nämlich athenische Herkunft der Toten gewürdigt (237b-238b), Athens Verfassung (238b-239a) und seine Geschichte gepriesen – und dabei vor allem seine herausragende Rolle im Kampf gegen die Perser (239c-241e) ausführlich gewürdigt –, um sich dann Athens Rolle in der kriegerischen Auseinsetzung der Griechen untereinander und seiner Niederlage Peloponnesischen Krieg zu widmen (241e-243d), die schließlich zum Bürgerkrieg (243d-244b) und zum korinthischen Krieg geführt hat (244b-246a), der mit dem Antalkidas-Frieden beendet wurde. Den im korinthischen Krieg Gefallenen soll nun mit einer Totenfeier und einer Leichenrede gedacht werden.

Von historischem Interesse?

Warum sollte uns das – vor allem philosophisch – interessieren? Aus historischer Perspektive sind die Ereignisse eigentümlich verkürzt und reichlich tendenziös dargestellt. Der spartanische Beitrag beim Kampf gegen die Perser wird z.B. fast unterschlagen,[6] die katastrophale Niederlage im Peloponnesischen Krieg wird eher beiläufig erwähnt und ist das Ergebnis eines verräterischen Komplotts: die siegreichen Athener hatten die hellenischen Städte geschont, die sich dann undankbar und würdelos mit den persischen Barbaren zusammentaten. Es war also die Friedfertigkeit der Athener und ihre durch beste Absichten und ein Grundvertrauen in die hellenische Verbundenheit geprägte Politik, die die Niederlage Athens herbeiführten: „durch unsere eigene Uneinigkeit aber wurden wir besiegt, nicht von den anderen; denn unbesiegt sind wir auch jetzt noch von jenen; wir selbst aber untereinander haben uns besiegt und sind überwunden worden“.[7] Das führt schließlich zum (spartanisch induzierten) Bürgerkrieg (dem „häuslichen Krieg“ wie Schleiermacher ὁ οἰκεῖος πόλεμος übersetzt), der freilich fast vorbildlich ausgetragen und befriedet wurde: der „häusliche Krieg“ wurde nämlich – so die fast geschichtsklitternder Darstellung des Sokrates – „auf eine solche Weise geführt, daß, wenn einmal den Menschen bestimmt sein soll, in bürgerlichen Unruhen zu leben, keiner wohl wünschen kann, daß seine Stadt die Krankheit auf eine andere Weise bestehen möge. Denn wie gelinde [!] und brüderlich [!] (ὡς ἁσμένως καὶ οἰκείως) trafen nicht die Bürger aus dem Hafen und die aus der Stadt zusammen, ganz gegen die Erwartung der übrigen Hellenen, und mit welcher Mäßigung endeten sie nicht den Krieg gegen die in Eleusis! Und hiervon ist nichts anderes die Ursach als die wahre und rechte Verwandtschaft (συγγένεια), welch eine dauerhafte Stammesfreundschaft (φιλίαν βέβαιον καὶ ὁμόφυλον) nicht nur dem Worte, sondern auch der Tat nach (οὐ λόγῳ ἀλλ᾽ ἔργῳ) stiftet.[8] Das würde heute vermutlich auf dem innenministeriellen Woke-Index landen. Und auch der Korinthische Krieg und sein Ende mit dem Antalkidas-Frieden, der bezeichnenderweise auch Königs-Frieden heißt, wird pro-athenisch und hellenistisch zurechtgebogen. Kurzum: auch historisch ist die Sokratische Leichenrede nur als historisches Dokument einer politisch motivierten Selbstinszenierung Athens interessant, die der historischen Wahrheit wohl nicht gerecht wird.

Der verstörende Anachronismus

Was den historisch Kundigen aber vor allem irritiert, ist der auffällige Anachronismus den Platon dem Menexenos zugrundelegt. Sokrates nämlich starb nach seiner Verurteilung 399. Der Antalkidas-Frieden aber, der den Hintergrund der Leichenrede abgibt, wird auf 386 datiert. Ein Toter hält hier also 13 Jahre nach seinem Ableben ein Epitaphion auf Bürger, die im Korinthischen Krieg gefallen sind, der erst Jahre nach seinem Ableben stattfand (395-387/6) und über den er nun (kursorisch und sehr eingefärbt) berichtet!? Dem zeitgenössischen Leser des Menexenos muss diese Unstimmigkeit sofort klar gewesen sein. Wie aber ist das zu verstehen, wenn wir kaum von einem Konstruktionsfehler ausgehen dürfen, der Platon da unterlaufen sein könnte?

Exkurs I: Das Beispiel Symposion

Die Rede des Sokrates ist wie Sokrates selbst ein Kunstprodukt, nämlich eine Person des dramatischen Dialogs, die nicht mit der historischen Figur gleichgesetzt werden darf. Das gilt auch dort, wo das platonische Werk sich direkt auf Ereignisse aus dem Leben des historischen Sokrates bezieht wie etwa den Prozess, der gegen Sokrates angestrengt wurde, seine Verteidigung (Apologie) oder die letzten Stunden des Sokrates im Gefängnis, bevor er den Schierlingsbecher nimmt.[9]

Sehr anschaulich gestaltet Platon das im Symposion. Platon lässt dort, von mehr oder weniger bekannten Teilnehmern Reden halten, neben Sokrates z.B. auch von Aristophanes und Alkibiades. Der dramatische Zeitpunkt dieses Gastmahls lässt sich aus dem Anlass der Zusammenkunft, nämlich dem Sieg des Agathon bei dem Dionysios-Fest von 416, genau bestimmen. Wir dürfen freilich nicht davon ausgehen, dass die Reden tatsächlich so und nicht anders gehalten wurden oder dass eine solche Zusammenkunft überhaupt „wirklich“ stattgefunden hat. Der platonische Dialog ist kein Auszug eines Verlaufsprotokoll eines bemerkenswerten Treffens. Die Personen und ihre Reden sind platonische Kunstprodukte, deren „Wahrheit“ keine historische ist. Die „Wahrheit“ des Symposions liegt in dem, was durch die Kunst des dramatischen Geschehens die historische Wirklichkeit gerade überschreitet, auf die sie sich doch ausdrücklich bezieht. Die Glaubwürdigkeit des So-Sein-Könnens ist das Mittel der künstlerischen Gestaltung, im Wirklichen das wahrzunehmen, was es eigentlich ausmacht. Das Wesen wird zur Erscheinung gebracht, weil man sich nicht in den (erscheinenden) Dingen verliert, sie vielmehr kunstvoll anordnet.

Auch im Symposion streut Platon zu diesem Zweck Anachronismen ein, z.B. die Erwähnung des Dioikismos des arkadischen Mantinea (385) [10] oder die Anspielung auf Thebens „Heilige Schar“ (387).[11] Obgleich von Agathon und Aristophanes, Alkibiades und Sokrates, die Rede ist und wir – und vor allem die Zeitgenossen – sie sofort „wiedererkennen“, kann es genauso doch nicht gewesen sein. Platon baut nicht zuletzt mit der Rahmenerzählung eine grundlegende Distanz zum Geschehen auf. Das Symposion ist ein Dialog zwischen Apollodoros und einem „Freund“ (ἑταῖρος) innerhalb dessen Apollodoros dann von dem Gastmahl erzählt, das zu Ehren Agathons in dessen Haus stattfand. Apollodoros wurde offenbar von dem Freund danach gefragt, denn Apollodoros beginnt den Dialog so: „Ich glaube, auf das, wonach ihr jetzt fragt, nicht unvorbereitet zu sein.“ Erst neulich nämlich habe ihn ein Bekannter auf „das Zusammensein (συνουσίαν) des Agathon und Sokrates und Alkibiades und der übrigen damals bei dem Gastmahl Gegenwärtigen wegen der Liebesreden“, die dabei gehalten wurden, angesprochen. Auch der Freund war von einem anderen darauf gestoßen worden, „der es von Phoinix, dem Sohn des Philippos hatte“, aber man hatte ihn auf Apollodoros verwiesen, weil der davon Genaueres berichten könne. „Also“, fordert er nun Apollodoros auf, „erzähle du es mir.“ Apollodoros sei im Übrigen als Freund des Sokrates dazu besonders prädestiniert. „Zuvor aber sage mir, sprach er [der Freund], warst du selbst bei jener Gesellschaft zugegen oder nicht?“ Apollodoros stellt nun klar, dass der Freund wohl „gar nichts Ordentliches“ von dem Zusammensein gehört habe, wenn er glauben könne, „diese Gesellschaft habe [erst] neulich stattgefunden“. Das sei nämlich falsch: Agathon habe sich seit Jahren nicht mehr in Athen aufgehalten und er selbst pflege ja erst seit drei Jahren mit Sokrates Umgang. Er selbst sei noch ein Kind gewesen als Agathon den Preis gewann und das Fest veranstaltete. Es ist also „schon lange her“ und er selbst habe es nicht etwa von Sokrates selbst, sondern von einem „gewissen Aristodemos, einem Kydathenaier“, der zu einem der eifrigsten Verehrer des Sokrates zählte und am Symposion teilnahm. Von diesem Aristodemos hatte auch Phoinix vom Gastmahl erfahren, der freilich hatte darüber „nichts Ordentliches zu sagen/erzählen“ (οὐδὲν σαφὲς λέγειν/ διηγεῖσθαι) wusste. Platon lässt das Geschehen also lange vor dem Gespräch, über das er nun berichtet, zurückliegen und macht deutlich, dass die Quellenlage keineswegs als gesichert gelten darf. So wird Apollodoros auch nur ausschnittsweise von dem Geschehen berichten: „An alles aber, was jeder von ihnen geredet, erinnerte sich schon Aristodemos nicht mehr genau, noch auch ich an alles, was er mir sagte, was aber und wessen Reden mir vorzüglich behaltenswert geschienen, diese will euch alle einzeln mitteilen.[12] Während der Freund vor allem an den dort gewechselten Reden interessiert zu sein scheint  („erzähle uns, was für Reden dort gewechselt worden sind“), will Apollodoros versuchen, „euch die Sache von Anfang an, wie jener sie mir erzählte, wiederzuerzählen“. Um die Reden zu verstehen, an die er sich so ungefähr zu erinnern glaubt, muss man um die Gesprächssituation wissen, aus der sie entspringen. Jedes Gespräch entspringt einer Welt, die ihm die Richtung gibt.

Der Rahmen für die Leichenrede

Das gilt, so darf man vermuten, auch für die Leichenrede des Menexenos. Platon lässt sie Sokrates in einem Gespräch zum Besten geben, das sich einer zufälligen Begegnung auf der Straße verdankt. Das ist schon merkwürdig genug. Wie haben wir uns das genau vorzustellen? Wie würden wir die Begegnung auf dem Theater inszenieren? Würden wir die Szene realistisch nachbilden, also eine Straße des antiken Athens auf der Bühne so nachbilden, dass man die nahegelegene Agora und den Platz der Ratsversammlung ahnen kann? Menexenos und Sokrates begegnen sich dort zufällig und treten miteinander sprechend ein wenig beiseite, während auf der belebten Straße Menschen vorbeispazieren und Wagen mit allerlei Waren und Gerätschaften hin- und hergeschoben werden. Man sieht noch andere kleinere Grüppchen sich unterhalten, zusammenkommen und wieder auseinandergehen. Menexenos lehnt sich schließlich an eine Säule oder setzt sich an ihr nieder, während Sokrates in der Rolle eines Festredners mit feierlichem (?) oder verspielt ironischem Tonfall (?) eine staatstragende Rede auf die Gefallenen hält?

Nein, ich würde die beiden vermutlich völlig aus der sie umgebenden Welt herauslösen und sie z.B. auf einer kahlen Bühne vor dunklem Hintergrund agieren lassen. Ihre Welt ist nur in dem präsent, was sie selbst ins Gespräch einbringen und sie im Gespräch leitet.

Auf die Frage des Sokrates, „Vom Markt kommst Du, Menexenos (ἐξ ἀγορᾶς ἢ πόθεν Μενέξενος)?“ antwortet Menexenos „Vom Markt [ja], oh Sokrates, und aus der Ratsversammlung (ἐξ ἀγορᾶς, ὦ Σώκρατες, καὶ ἀπὸ τοῦ βουλευτηρίου).“ Menexenos kommt vom umtriebigen Markt, dem Zentrum der sozialen und politischen Öffentlichkeit, und aus der Ratsversammlung, dem politischen Entscheidungsgremium Athens. Sokrates hakt hier sofort ein: „Was hast Du doch bei der Ratsversammlung [zu schaffen]? Oder offenbar, daß du mit deiner Unterweisung und Wissenschaft (παιδεύσεως καὶ φιλοσοφίας, paideuseos kai philosophias) fertig zu sein glaubst und, weil du weit genug bist, du dich nun zu dem Höheren zu wenden gedenkst und unternimmst, du Wundervoller, über uns Alte zu herrschen in solcher Jugend…“ Wir dürfen da wohl einen ironisch kritischen Unterton heraushören. Menexenos gehört zur Führungsschicht Athens. Er ist noch jung und strebt nach politischer Wirkung. Er sucht die Agora auf, das gesellschaftliche Zentrum der Polis, um sich dort parkettgängig zu machen: es gilt die wichtigen Akteure zu sehen und von ihnen gesehen zu werden. Und er besucht die Ratsversammlung, um dort auf seine Chance zu warten. Sie könnte sich vielleicht bald schon ergeben: denn, so berichtet er, dort wird darüber beraten, wem die Ehre zugesprochen wird, die Leichenrede auf die Gefallenen zu halten, die im Korinthischen Krieg ihr Leben lassen mussten. Achinos und Dion, zwei ausgewiesene Rhetoren sind im Gespräch, aber die Entscheidung ist noch nicht gefallen. Ob Menexenos sich wirklich Hoffnung darauf macht, für diese Aufgabe ausgewählt zu werden, bleibt offen. Aber er findet es doch aufregend, sich das vorzustellen und genießt es, zumindest die Entscheidungsfindung aus nächster Nähe zu begleiten.

Sokrates dagegen macht sich über das Ganze lustig. Mehr noch, er kommentiert es sarkastisch: es sei offenbar „eine herrliche Sache, Menexenos, im Kriege zu bleiben. Denn ein schönes und prachtvolles Leichenbegräbnis bekommt, wer auch als ein armer Mann gestorben ist, und gelobt wird ebenfalls, wer nichts taugt, und das von kunstreichen Männern, die nicht aufs Geradewohl loben, sondern schon lange vorher ihre Reden angeordnet haben…[13] Ihre Kunstreden bezaubern die Hörer dann so, dass sie tagelang glauben, selbst edler und trefflicher geworden zu sein und alles ihnen ganz wundervoll zu sein scheint.

Menexenos will diesen Spott nicht gelten lassen. Ihm scheint es eine ehrenvolle Aufgabe und durchaus eine anspruchsvolle Herausforderung, da, wie er meint, „wer reden soll, es fast unvorbereitet tun“ muss. Das zeigt nur, wie wenig Menexenos von dem Geschäft noch versteht. „Woher doch, Bester? Jeder von diesen hat ja seine Reden immer schon fertig…[14] Es sind Reden von der Stange, die aus Textkonserven und Allerweltsfloskeln zusammengebastelt werden, wie sie jeder erfahrene Politiker im Repertoire hat. Sophisten, die antike Variante des Personal Trainers für die Optimierung der Selbstdarstellung wohlhabender politischer Akteure, bieten dafür ihre Dienste an. Im Übrigen wäre es auch unvorbereitet nicht allzu schwierig. Eine Kunst wäre es vielleicht, „Athener vor Peloponnesiern zu rühmen oder Peloponnesier vor Athenern“, aber es erfordert keine große Kunst, Athener vor Athenern zu loben, wie das in dem Fall der Leichenrede geschieht. Man braucht nur zu sagen, was die Leute hören wollen und das ist im Wesentlichen Selbstbeweihräucherung. Sokrates selbst habe von seiner Rhetorik-Lehrerin erst gestern eine solche Stehgreifrede vorgetragen bekommen. Sie habe damit wohl auf die anstehende Wahl des Redners reagiert und gezeigt, wie leicht es sei, aus vorgestanzten Redestückchen eine wirksame und mitreißende Rede „zusammenzukitten“ (συγκολλῶσα).

Menexenos weiß sofort, von wem die Rede ist, nämlich von Aspasia, der Frau des Perikles, für den sie auch „jene Standrede ausarbeitete, welche Perikles hielt[15] und die seither als herausragendes Musterbeispiel für solche politischen Reden gilt. Menexenos fordert nun Sokrates etwas pikiert auf, doch selbst vorzuführen, wie er eine solche Leichenrede einfach so und aus dem Stegreif halten würde, wenn er schon behaupte, durch Aspasia dafür bestens vorbereitet zu sein. Man mag das eher als Ausdruck provozierenden Zweifelns verstehen, denn als wirklich ernst gemeinte Aufforderung: „Wenn Du glaubst, dass das so einfach ist, dann lass’ doch mal hören!“ Menexenos übernimmt damit gleichsam stellvertretend für die Ratsversammlung die Rolle des kritischen Entscheiders, der Sokrates darauf prüft, ob ihm die Rolle des Redners bei der Staatstrauerfeier zugedacht werden kann. Sokrates soll vorsprechen, um sich für die Rollenbesetzung im aufzuführenden Staatsschauspiel zu empfehlen. Es mutet freilich reichlich befremdlich und geradezu „verrückt“ an, die zufällige Straßenbegegnung nun zum Forum für den Vortrag einer feierlich staatstragende Gefallenenrede machen zu wollen. Sokrates befürchtet deshalb nicht zu Unrecht, man werde ihn „auslachen“ als „triebe er als alter Mann noch Kinderei“.[16]

Tatsächlich hat das komische, komödiantische Züge. Für das Absonderliche einer Situation blind zu sein und sich in ihr mit allem Ernst zu bewegen, ist Kennzeichen des Komischen. So stolpern die Helden der Komödie über die Bühne, über deren lächerlichen Ernst wir herzhaft lachen. „Und es fehlt wenig“, lässt Platon seinen Sokrates sagen, „wenn du haben wolltest, ich sollte mich entkleiden und tanzen, daß ich es täte, da wir ja allein sind“.

Die nun folgende Rede des Sokrates wird damit nachdrücklich „verfremdet“. Es ist „komisch“ und „anachronistisch“, was da von Platon „aufgeführt“ wird – nicht etwas, das einfach so geschieht. Es ist das Ergebnis künstlerischer Phantasie. Schon der Umstand, dass der zum Zeitpunkt des Geschehens bereits verstorbene Sokrates sich unters Regiment einer gestrengen Rhetorik-Lehrerin begeben haben will, die ihn unter Androhung von Schlägen zum Auswendiglernen vorgetragener Musterreden anhält, mutet angesichts seiner legendären Kritik an sophistischer Rhetorik doch merkwürdig an. Platon garniert den grundlegenden Anachronismus noch mit einer weiteren „Zeitverschiebung“, die ebenfalls nicht ohne eine gewisse Komik ist: Aspasia, die Sokrates noch gestern getroffen haben und an der er sich in seiner Rede ein Beispiel nehmen will, war 386, dem dramatischen Zeitpunkt des Menexenos, nicht mehr am Leben. Platon lässt einen Toten, Sokrates, eine Rede auf Tote halten, die er am Vorabend von einer seit Jahren Toten gehört haben will. Hier geht alles ziemlich unrealistisch zu. Das Geschehen folgt einer kunstvollen Dramaturgie. Aspasia rückt (für uns) seine Rede damit in einen direkten Bezug zur berühmten Gefallenenrede des Perikles, die er 431/430 für die Toten des ersten Kriegsjahres des Peloponnesischen Krieges gehalten hat. In ihr wird das das Ideal der Polis formuliert, dem sich Athen verpflichtet weiß und für das die Gefallenen Zeugnis geben. Das wird von Sokrates aufgenommen und kritisch verwandelt.

Darauf spielt auch der kurze Abschluss-Dialog zwischen Sokrates und Menexenos an. Sokrates schließt „seine“ Rede, indem er sie noch einmal ausdrücklich seiner Lehrmeisterin zuschreibt: „Dieses also, o Menexenos, ist die Rede der Milesierin Aspasia.[17] Menexenos, der offenbar von Sokrates Rede beeindruckt ist, glaubt dies so wenig wie wir, die wir um das Unmögliche der Geschichte wissen. So wenig der historische Sokrates eine Rede für die im Korinthischen Krieg Gefallenen gehalten haben kann, so wenig stammt diese Rede aus der Feder der Ehefrau des Perikles. „Wenn du es nicht glaubst“, entgegnet Sokrates dem zweifelnden Menexenos und verstärkt damit absichtsvoll unseren Unglauben, „so komm mit mir, so kannst du sie selbst vortragen hören.“ Im Theater ist alles möglich, aber das wäre dann doch zu toll. Aspasia ist nur die gespenstische Repräsentantin einer rhetorisch bestimmten Vergangenheit, auf die sich nun berufen wird. Sie ist das unsichtbar bleibende Gespenst, das Platon in Athen immer noch umgehen lässt. Menexenos wehrt ab: „Ich bin schon oft mit der Aspasia zusammengewesen, o Sokrates, und weiß recht gut, was für eine Frau sie ist“,[18] nämlich keine, der er eine solche Rede zuschreiben würde. Sein Dank gilt nicht ihr, sondern dem, der ihm die Rede vorgetragen hat, nämlich Sokrates. Aber wie gesagt, wir wissen, dass auch das nicht wirklich möglich war, sondern nur im philosophischen Theater wirklich werden kann. Platon lässt Sokrates aus seiner Zeit in die jetzige sprechen. Er bringt Sokrates aus einer anderen Welt zu Wort und das, was Sokrates zu sagen hat, ist anachronistisch und kommt aus einer anderen Zeit.

Ermahnung zur Vorzüglichkeit

Alles, was wir Sokrates nun sagen hören, müssen wir an das halten, was er eben noch Kritisches über solche „falschen“ Leichenreden vorgebracht hat. Sokrates Rede folgt zwar grob dem rhetorischen Schema für Epitaphien (ἐπιτάφιοι λόγοι): er lässt dem Lob der Gestorbenen die Ermahnung und den Trost für die Hinterbliebenen folgen, gibt dem Ganzen jedoch eine andere, ethisch motivierte Ausrichtung. Lob und Trost werden durch die Ermahnung an die Hinterbliebenen bestimmt, sie mögen angesichts der Toten – und getreu dem griechischen Ideal des Immer-Vorzüglich-Sein-Wollens (αἰὲν ἀριστεύειν, aien aristeuein)[19] – aus ihrem Leben das Beste machen und immer danach streben, vorzüglich zu sein (προθυμεῖσθαι εἶναι ὡς ἀρίστους, prothumeisthai einai hos aristous).[20] Dabei ist der Tod ein Gleichmacher und die Reden über die Toten werden ihnen in ihren charakterlichen Vorzügen oder Schwächen nicht gerecht. Nihil nisi bene verfolgt ein anderes Ziel. Die Redner suchen den Hinterbliebenen dadurch zu gefallen, daß sie auch die Verstorbenen mit schönen Worten loben, die sich im Leben nicht immer vorzüglich zeigten. Die Verstorbenen werden von ihm ob ihrer Herkunft gelobt, die sie auf eine charakterliche Vorzüglichkeit verpflichtet hatte und ihnen den Maßstab fürs eigene Handeln gab. Darin folgt auch Sokrates dem perikleischen Vorbild: die Verstorbenen waren vor allem eins, Athener. „Gut aber sind sie geworden wegen ihrer Abkunft von Guten.[21] Athen wird von den Göttern so geliebt, dass die Götter sogar, um ihre Zuneigung werbend, in Streit gerieten.[22]

Für Perikles war es die Freiheit und Entschlossenheit ihrer Bürger, die Athen alles in allem zur „Schule von Hellas“ (τῆς Ἑλλάδος παίδευσιν εἶναι) werden ließ.[23] Die Haltung (ἐπιτήδευσις) und Sinnesart (τρόπος) der Athener spiegelt sich in ihrer politischen Verfassung (πολιτεία), nämlich der Demokratie (δημοκρατία), die so genannt wird, „weil in ihr die Staatsverwaltung nicht auf wenige, sondern auf die Mehrheit (διὰ τὸ μὴ ἐς ὀλίγους ἀλλ᾽ ἐς πλείονας) ausgerichet ist“.[24]

Dem gibt Sokrates nun eine deutlich andere Ausrichtung. Auch Sokrates sieht die Athener „in aller Freiheit auferzogen und edel geboren“, [25] die „um der Freiheit willen sowohl mit Hellenen für die Hellenen als auch mit Barbaren“ streiten. Und der natürliche Vorzug Athens kommt auch für ihn in ihrer Polis, ihrer politischen Verfassung, zum Ausdruck und ist für das Dasein der Bürger bestimmend. Athens Verfassung sei aber, so Sokrates, „damals wie jetzt, aristokratisch“ (ἡ γὰρ αὐτὴ πολιτεία καὶ τότε ἦν καὶ νῦν, ἀριστοκρατία).[26] Das lässt die Zeitgenossen aufhorchen. Athen wird 386, wie schon seit 404 wieder, demokratisch regiert. Platon will uns nicht einen Sokrates zeigen, der weil bereits 399 verstorben nun nicht mehr ganz up-to-date ist. Im Gegenteil. Platon lässt ihm die Demokratie als eine Verfassung einordnen, die sich um das Beste bemüht zeigt. Athens politische Organisation ist auch dann „aristokratisch“, wenn „sie der [eine oder andere, also z.B. Perikles] eine Volksherrschaft (δημοκρατίαν) nennt“. Das sei jedem unbenommen, ändert aber nichts an der „aristokratischen“ Natur Athens: „in Wahrheit aber ist sie [nämlich] eine Herrschaft der Besseren (ἀριστοκρατία) mit dem guten Willen des Volkes“: „Wer im Rufe steht, weise und tüchtig zu sein, der hat den Vorzug und regiert.“ Grundlage dafür, dass die Tüchtigkeit entscheidet und nicht die familiäre Herkunft (!), ist „die Gleichheit der Geburt“ (ἡ ἐξ ἴσου γένεσις), die Isonomie.

Ziel attischer Politik war und ist es, so auch Sokrates, die Freiheit (der Hellenen) zu verteidigen und die vorbildliche „Herrschaft der Besseren“ zu bewahren (ἀριστοκρατία), die in Athen demokratische Form angenommen hat. Das zwang sie zu Kriegen zunächst gegen die Barbaren, dann aber auch gegen Hellenen, wie den, dessen Opfer nun zu beklagen sind. Dem Lob der Verstorbenen für ihren Einsatz für die großen Ziele attischer Politik, folgt dem nach dem rhetorischen Muster der politischen Leichenrede die Paränese, die Ermahnung an die Hinterbliebenen, die Toten zu ehren und sich an ihnen ein Beispiel zu nehmen.

Für Perikles galt für die Toten des ersten Kriegsjahrs des Peloponnesischen Krieges: „Für das Gemeinwesen gaben sie ihr Leben hin“ und sie haben sich damit „unsterbliches Lob“ verdient, „daß ihr Ruhm für jede Gelegenheit zu Wort und Tat ewig gewahrt bleibt“. Das sind staatsmännische Reden, die zur Nachahmung auffordern: „Ihnen eifert jetzt nach, erkennt das wahre Glück in der Freiheit (τὸ εὔδαιμον τὸ ἐλεύθερον), die Freiheit aber in kühnem Mut (τὸ δ᾽ ἐλεύθερον τὸ εὔψυχον) und schaut nicht ängstlich auf die Gefahren des Krieges.[27]

Sokrates wendet die politische Ermahnung ins Ethische. Gleichsam als Herzstück seiner Gefallenenrede ermahnt Sokrates die Lebenden, sich um ihr eigenes Leben sorgen, nämlich ihr Leben auf vortreffliche Weise zu führen: „Also auch ich, ihr Söhne wackerer Männer (ὦ παῖδες ἀνδρῶν ἀγαθῶν) ermahne euch jetzt und werde auch künftig, wo ich einen antreffe, ihn erinnern und antreiben, dass er strebe, sich aufs beste zu halten (προθυμεῖσθαι εἶναι ὡς ἀρίστους).[28] So ernst die Ermahnung zu nehmen ist, Platon gibt ihr wieder einen ironischen Ton, der uns daran erinnert, dass hier nichts einfach so hinzunehmen, sondern alles kunstvoll für etwas anderes zu nehmen ist. Der tote (!) Sokrates will uns „auch künftig“, wo immer er „einen [von uns] antreffe, ihn erinnern und antreiben“, sich nach dem Vorzüglichen zu streben. Er begegnet uns freilich im Werk Platons, der wiederum seinen Lesern einschärft, dass es nicht der historische Sokrates, sondern die Person eines philosophischen Kunstwerks ist, der ihm begegnet und zum Denken herausfordert.

Die Toten sprechen zu den Lebenden

Platon steigert die Verfremdung, die uns von der unmittelbaren, affektiven Anteilnahme distanzieren und zum gedanklichen Nachvollzug führen soll, noch durch eine weitere „komische“ Verstellung. Für seine Ermahnung nutzt Sokrates das rhetorische Stilmittel der Prosopopoieia, genauer gesagt der Totenprosopopoiie: er lässt die Verstorbenen selbst zu Wort kommen. Das soll der sittlichen Ermahnung Überzeugungskraft und Authentizität geben. Er gibt vor, von ihnen selbst beauftragt zu sein, eine Botschaft an die Hinterbliebenen zu überbringen. „Ich will euch sagen, was ich von ihnen selbst gehört und wie sie euch gewiß jetzt gern anreden möchten, wenn es ihnen vergönnt würde, wie ich aus dem, was sie damals sagten, schließen kann. Ihr müßt mir also glauben, von jenen selbst zu hören, was ich jetzt vortrage.[29]

Sie wenden sich an ihre Söhne und an ihre Väter. Ihren Söhnen deuten sie ihren Tod mit einer eindrucksvoll gedrechselten Formulierung, die wir in ihrer knappen Form nur schwer im Deutschen wiedergeben können, als Folge ihres Ringens um Vorzüglichkeit: „wir konnten leben, nicht wie wir es wollten‚ nämlich nicht ‚schön‘ (καλῶς) – (vor)trefflich, (sittlich) gut und rühmlich – und deshalb haben wir beschlossen, lieber ‚schön‘ (καλῶς) – (vor)trefflich, (sittlich) gut und rühmlich – zu enden (ἡμῖν δὲ ἐξὸν ζῆν μὴ καλῶς, καλῶς αἱρούμεθα μᾶλλον τελευτᾶν).“[30] Sie konnten nur „schön(καλῶς), strahlend und gut leben, indem sie „schön (καλῶς), strahlend und gut, starben: richtig zu leben hieß für sie, sich tapfer dem Schmachvollen zu widersetzen, denn „es lohnt nicht zu leben“, wenn man überzeugt sein muss, „den Seinigen Schande“ zu machen (ἡγούμενοι τῷ τοὺς αὑτοῦ αἰσχύναντι ἀβίωτον εἶναι).[31]So gebührt nun euch, unserer Reden (τῶν ἡμετέρων λόγων) eingedenk, was immer ihr auch treiben möget (ἀσκῆτε), wacker zu treiben (ἀσκεῖν μετ᾽ ἀρετῆς), wissend, daß ohne dieses alle Besitzungen und alle Bestrebungen nur schlecht sind und verächtlich (αἰσχρὰ καὶ κακά).[32] Was Schleiermacher merkwürdig altbacken mit „wacker“ übersetzt heißt „vorzüglich und tüchtig“ (μετ᾽ ἀρετῆς), mit dem Sinn für und der Kraft zum „gelingenden Leben“. Alle Güter sind nur „gut“, wenn man sie als Güter und das heißt fürs gute Leben zu nutzen vermag. Das gilt auch für „die seelischen Güter“: „Jede Erkenntnis, wenn sie von Gerechtigkeit und den übrigen Tugenden (δικαιοσύνης καὶ τῆς ἄλλης ἀρετῆς) getrennt ist, zeigt sich nur als Verschlagenheit (πανουργία), nicht als Weisheit (οὐ σοφία).[33]

Den Söhnen tragen sie nicht auf, ihnen zu folgen, sondern sie zu übertreffen. Sie sollen alle Mühe drauf setzen, sie als „die Früheren“ zu übertreffen: denn „wenn wir euch an Tugend besiegen, der Sieg [uns Vätern] Schande bringt, der Verlust aber, wenn wir gegen euch verlieren, Glück und Heil.“ Das ist wunderbar kunstvolle Formulierung, die das Ideal der ethischenVorzüglichkeit und der elterlichen Fürsorge eindrucksvoll zuspitzt. „Am meisten aber würden wir besiegt werden, und ihr siegen, wenn ihr euch darauf rüsten wolltet, der Vorfahren Ruhm weder zu mißbrauchen noch zu verbrauchen, wohl wissend, daß es für einen Mann, der etwas zu sein glaubt, nichts Unwürdigeres gibt also sich ehren zu lassen,, aber nicht seiner selbst wegen, sondern wegen des Ruhmes der Vorfahren“.[34] Die eigene Herkunft ist eine Verpflichtung, der man gerecht werden muss. Die Söhne müssen in ihrem Leben das Vorzügliche anstreben und das Leben selbst aus eigenem Vermögen zum Gelingen bringen.

Spiegelbildlich wird das in der Botschaft an die Eltern adressiert. Nicht zuletzt für die Eltern der Gefallenen gilt es nach Lob und Ermahnung Trost zu spenden. Perikles bekennt in seiner Rede, dass es besonders schwer sei, die Hinterbliebenen zu trösten. Doch der „ruhmvolle Tod“ ihrer Angehörigen möge ihnen Trost sein. Perikles verbindet dann die Aufforderung, „standhaft im Leid“ zu sein, sogar „mit der Hoffnung auf neue Kinder“, jedenfalls für die, die „noch jung genug [sind], Kinder zu zeugen“!? Das mutet uns reichlich makaber an. Aber damit, so Perikles, würden auch die Toten geehrt, denn es „bringt der Stadt zweifachen Vorteil: sie wird nicht entvölkert und bleibt gesichert“.[35] Sokrates scheint auf diese Stelle anzuspielen, wenn er den Willen der Verblichenen zum Ausdruck bringt, den Vätern „tröstlich zuzusprechen“, jedenfalls für die Verblichenen, „der noch einen [Vater] hat“. Als Trost wird freilich die Mahnung ausgesprochen, das „Widerfahrnis“ (συμφορά) leicht zu tragen“ und sich nicht mit Wehklagen zu ergehen.[36]Nicht unsterbliche Kinder“ konnten die Eltern sich wünschen, „sondern wackere und wohlgerühmte (ἀγαθοὺς καὶ εὐκλεεῖς), welche sie auch erlangt haben als eines der größten Güter (μεγίστων ἀγαθῶν)“, die dem Menschen zugedacht sind.[37] Wer Kinder bekommt, der weiß, dass sie sterben müssen; die Sorge um sie, richtet sich auf die Art, wie sie ihr Leben zu leben vermögen. Und die Väter selbst, müssen ihr Leben auch angesichts widriger Umstände zu führen verstehen. „Welchem Menschen alles oder doch das meiste von ihm selbst abhängt, was zu seiner Glückseligkeit führt (τὰ πρὸς εὐδαιμονίαν), …, der ist aufs beste ausgestattet zum Leben, dieser ist der Besonnene, der Tapfere und Verständige“ – das gilt auch fürs Leben mit Kindern und ihren Verlust.[38]

Die Botschaft der Verstorbenen, die ihr Botschafter (ἂγγελος, angelos) den Lebenden zuträgt, deckt sich mit dem Kern der sokratischen Ermahnung: wie immer die Gefallenen ihr Leben zu führen verstanden, wir sind aufgefordert unseres bestmöglich zu führen (αἰὲν ἀριστεύειν, aien aristeuein). Es geht um nichts Neues – und schon gar nicht um den politische Ge- und Mißbrauch der Gefallenen. Es geht um nicht mehr, aber auch nicht weniger, als um Philosophie, nämlich die das Leben bestimmende Suche nach Einsicht in und Tüchtigkeit zur Führung des Lebens, die uns für eine ungewisse, aber endliche Zeit auferlegt ist.

Das philosophische Drama

Die „verwirrendste Schrift Platons“ hätte sich damit doch als eine erwiesen, die eine typisch sokratische Botschaft transportiert: es geht in unserem Leben darum, es vorzüglich zu führen und sich philosophisch darum zu bemühen. Ist damit das „philosophical puzzle“ gelöst, das der Menexenos vielen zu sein scheint? Haben wir das „paradoxeste“ Sokratesbild, das sich bei Platon findet, also wieder auf ein orthodoxes zurückgeführt? Die „Paradoxe“ und das „Irritierende“ bleibt freilich ein Wesenszug des Menexenos und kann nicht einfach als überflüssige, irrtumsträchtige Hülle abgestreift werden. Wenn es eine Botschaft gibt, dann die, dass die irritierende Form selbst Teil der Sache ist. Das „dramatische“ Geschehen lässt sich nicht auf sokratische Überzeugungen reduzieren, die man zu den Akten der mehr oder weniger geteilten, der kritischen, aber wirkmächtigen oder der schlicht falschen Philosopheme legen kann.

Alles, was Platon Sokrates von sich geben lässt, dient dem „dramatischen“ Plot. Alles ist in einem doppelten Sinne ad hominem gesprochen: es bezieht sich auf den Gesprächskontext, in dem Platon Menexenos und Sokrates agieren lässt. Und es zielt auf das (lesende) Publikum, für das das Werk schließlich geschaffen wurde und das sich nun auch knapp zweieinhalbtausend Jahre später noch dem Menexenos zuwendet.

Sokrates ist in allen platonischen Dialogen eine philosophische Kunstfigur und nie die Abbildung der historischen Person. Im Menexenos lässt Platon nun einen Sokrates sprechen, der zum Zeitpunkt des Gesprächs schon lange verstorben war. Der Autor Platon zwingt uns Leser durch diese verfremdende „Paradoxie“ – und andere (komödiantische) Skurrilitäten –, uns darauf einen eigenen Reim zu machen. Der Leser muss sich vom dargestellten Handlungs-/Gesprächsgeschehen distanzieren und dem Geschehen selbst eine Bedeutung geben, die gleichwohl nicht vom Geschehen zu trennen ist. Philosophie zeigt sich nur in solchen zur Aufführung gebrachten Gesprächen, in denen das Gesprächsgeschehen selbst und nicht die Botschaft eines philosophischen Meisters zum Gegenstand wird. Philosophie ist Liebe zur Weisheit und als solche eine „Haltung“, die sich in einem Verhalten zeigt, nicht in einer Sammlung von Lehrsätzen. Sie erschöpft sich nicht in der Begründung einer Menge wahrer Sätze, sondern allenfalls in der Art und Weise, in der sie begründet und d.h. zum maßgeblichen Teil der eigenen Lebensführung werden. Die Liebe ist ein das Leben bestimmendes Gestimmtsein, eine sinnbestimmende, alles andere ausrichtende Zuwendung.

Exkurs II: Phaidon und die wunderbare Ergriffenheit

Der platonische Dialog ist keine ansprechende Verpackung philosophischer Lehrsätze, die deren Verständnis erleichtert. Er zielt darauf ab, das philosophische Geschehen vorzuführen und nahezubringen. Der Leser soll in das philosophische Geschehen eingebunden werden. Das aber gelingt nicht wie bei der Tragödie durch dramatische, affektive Vereinnahmung: „Die Tragödie ist“, so die klassische Erläuterung des Aristoteles, „eine Nachahmung einer Handlung (τραγῳδία μίμησις πράξεως), die hervorragend (σπουδαίας) und vollendet (τελείας) ist …“ und die Nachahmung (μίμησις) ist eine durch „Handlungen und nicht durch Bericht Jammer und Schaudern (ἐλέου καὶ φόβου) hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen (τὴν τῶν τοιούτων παθημάτων κάθαρσιν) bewirkt“.[39] Das philosophische Drama will dagegen in eine Stimmung bringen, die uns aus „derartigen Erregungszuständen“ (τῶν τοιούτων παθημάτων) ins philosophischen Nachdenken einstimmt, nämlich der vernünftige Besinnung auf die beste Art, sein Leben zu führen.

Im Phaidon macht Platon diese Stimmung ausdrücklich. Die Freunde und Schüler des Sokrates versammeln sich am Tag der Urteilsvollstreckung bei ihm im Gefängnis. Es ist ein trauriger Anlass, den Sokrates aber zu einer befreienden Besinnung darüber nutzt, was es für den sterblichen Menschen heißt, sein Leben gelingend zu führen. Platon lässt Phaidon, die besondere Stimmung beschreiben, in der sich die Anwesenden befanden und die die im lesenden Nachvollzug des Geschehens, gleichsam als ent-fernt, im Geiste, Anwesende, die Leser ergreift: „Mir meinesteils war ganz wunderbar zumute (θαυμάσια ἔπαθον). Bedauern (ἔλεος) nämlich kam gar nicht über mich wie über einen, der bei dem Tode eines vertrauten Freundes zugegen sein soll; denn glückselig (εὐδαίμων) erschien mir der Mann, […], in seinem Benehmen und seinen Reden (τοῦ τρόπου καὶ τῶν λόγων), wie standhaft und edel er endete, so daß ich vertraute, er gehe auch in die Unterwelt nicht ohne göttlichen Einfluß, sondern auch dort werde er sich wohlbefinden (εὖ πράξειν), wenn jemals einer sonst. Darum nun überkam mich weder etwas Weichherziges, wie man doch denken sollte bei solchem Trauerfall, noch auch waren wir fröhlich wie in unseren philosophischen Beschäftigungen nach gewohnter Weise, obwohl unsere Unterredungen auch von dieser Art waren; sondern in einen wunderbaren Zustand (ἀτεχνῶς ἄτοπόν τί μοι πάθος) befand ich mich und in einer ungewohnten Mischung., die aus Lust und Betrübnis zusammengemischt war, wenn ich bedachte, daß er nun gleich sterben würde. Und alle Anwesenden waren fast in derselben Gemütsstimmung…[40] Die Freunde und Schüler möchten Sokrates zur Flucht bewegen. Sie suchen deshalb nach (philosophischen) Gründen, dass die Sorge vor dem Tod, die Sokrates so fremd zu sein scheint, doch berechtigt ist. Die freundschaftliche Sorge um das Wohl des Sokrates nimmt die Form des philosophischen Gesprächs an. Sokrates vermag es zunächst, seine Gelassenheit angesichts des nahen Todes ruhig und einnehmend zu begründen. Aber dann scheint doch einer der vorgebrachten Einwände so stark, dass sich die Zuversicht aufzulösen droht und eine vernünftige Orientierung nicht mehr möglich zu sein scheint: „so muss jeder“, formuliert der Gesprächspartner Kebes, „der im Begriff ist zu sterben, für seine eigene Seele in Sorge sein, ob sie nicht gerade in dieser Trennung von dem Leibe ganz und gar untergehen werde.[41] Die Anwesenden werden dadurch „auf eine unangenehme Weise verstimmt, weil sie uns, die wir durch die vorigen Reden stark überzeugt waren, wieder unruhig zu machen und in Ungewißheit zurückzuwerfen schienen, nicht nur über das bereits Gesagte, sondern auch … ob wir nicht ganz untaugliche Richter wären oder auch die Sach selbst gar nicht zu entscheiden“.[42]

Das führt nicht nur bei den Anwesenden, sondern auch bei Echekrates, dem die Geschehnisse mit einigem zeitlichen Abstand von Phaidon berichtet werden, zur Verstimmung. Platon lässt Echekrates die Erzählung des Phaidon unterbrechen und im Rahmengespräch einen Eindruck der eigenen Gefühlslage vermitteln, in die er durch das Gehörte versetzt wurde: „Bei den Göttern, o Phaidon, ich verzeihe euch das. Denn auch ich, da ich dies jetzt von dir gehört, habe so zu mir gesprochen: Welcher Rede soll man nun wohl noch glauben, denn die so sehr glaubliche, welche Sokrates vorgetragen, ist nun doch um allen Glauben gekommen.“ Echekrates ist nun begierig – gleichsam um sich selbst zu befreien – zu hören, wie Sokrates darauf reagierte. Wir Leser teilen das mit Echekrates. Wir haben mit ihm nachvollzogen, was Phaidon über das sokratische Ringen erzählt hat. Platon schreibt für uns und die Wirkung, die er der Erzählung des Phaidon auf Echekrates zuschreibt, ist Teil der Wirkung, die seine Inszenierung auf uns Leser haben soll. Die Erfahrung der „wunderbaren“, philosophischen Stimmung, die in Verzagtheit umzuschlagen droht, müssen wir teilen, d.h. selbst durchleben, um erfahren zu können, was es heißt, Philosophie zu treiben, philosophisch ge- und bestimmt, sein Leben zu führen. Nur im Nachvollzug des philosophischen Dramas ist Philosophie zugänglich.

Der philosophische Botschafter

Im Menexenos lässt Platon den toten Sokrates auftreten. Er bringt ihn auf der philosophischen Bühne wieder zum Leben. Er lässt ihn auf seine Weise „agieren“ und das heißt vor allem reden. Der untote Sokrates aber ist nur eine der Merkwürdigkeiten des Menexenos. Erstaunlich ist auch, dass er überhaupt eine solche Leichenrede zum Besten gibt. Sokrates zieht zunächst – wie man das von ihm kennt – abfällig über politische Rhetorik her, um dann doch eine am rhetorischen Muster ausgerichtete, gefällige und politisch nicht anstößige Rede halten. Nicht nur Menexenos zeigt sich davon begeistert: die Rede wurde dann sogar, so wird überliefert,[43] alljährlich in Athen feierlich zur Aufführung gebracht. Das stützt nicht gerade die Auffassung, Platon habe mit dem von Sokrates ad hoc vorgetragenen Epitaphion eine Ironisierung solcher Reden im Sinn gehabt. Es gibt einige Interpreten, die den Menexenos durchaus für ein Meisterwerk des platonischen Schaffens halten, gar als „eine seiner brillantesten Schriften“.[44] Vittorio Hösle z.B. spricht dann von einem „Meisterwerk der Satire, weil sie die hohle Rhetorik patriotischer Propaganda und die schamlosen Geschichtsklitterungen vorführt, die mit ihr einhergehen.[45] Die besondere Rolle Athens, ihre wenn nicht weltgeschichtliche, so doch panhellenische Bedeutung wird von Sokrates freilich in seiner Rede ohne ironischen oder gar kritischen Unterton lobend hervorgehoben. Eine Kritik „schamloser Geschichtsklitterungen“ vergleichbarer Reden kann ich darin nicht finden. Vielmehr beschwört von Sokrates wie auch Perikles in der durch die Aspasia-Fiktion nahegelegte Referenzrede von 430/431 die „wahre“ Größe Athens, die er allerdings anders als Perikles in ihrem Streben nach „aristokratischer“ Vorzüglichkeit begründet sieht. Wenn Platon Sokrates als Vertreter einer alten Zeit sprechen lässt, dann darf man das eher als eine konservative, um nicht zu sagen reaktionäre Ermahnung verstehen, sich auf die alte Stärke Athens zu besinnen. Perikles und Sokrates unterscheiden sich „nur“ darin, worin sie die Stärke Athens begründet sehen.

Die Kritik, die Sokrates im Vorgespräch äußert, richtet sich gegen den politischen Missbrauch der eigenen Herkunft und der geschichtlichen Opfer. Die Leichenfeier dient einzig den politischen Zielen der politischen Akteure, die unter Nutzung rhetorischer Schematismen verfolgt werden. Auch Menexenos schielt auf politische Wirkung. Er möchte sich in Szene setzen. Die Rede auf die Gefallenen ist eine Gelegenheit, Karriere zu machen. Nichts zielt auf ethische Besinnung und darauf, die eigene Lebensführung fragwürdig zu machen. Die einzige Herausforderung, die er sieht, ist die erforderliche rhetorische Präsenz zu erzeugen, um seine Zuhörer für ihn zu vereinnahmen. Platon lässt den Dialog mit „ἐξ ἀγορᾶς (ex agoras)“, „von der Agora her kommst Du“ beginnen, nämlich vom Marktplatz der gesellschaftlichen Möglichkeiten. Bei Platon müssen wir auf jedes Wort und vor allem immer auch auf die ersten Worte seiner Dialoge achten. Ex agoras wird Menexenos, werden wir, von Platon in das Gespräch geführt. Und er lässt Menexenos das unter Wiederholung von „ἐξ ἀγορᾶς (ex agoras)“, „von der Agora, ja“ bestätigen und ergänzen „und von der Ratsversammlung (καὶ ἀπὸ τοῦ βουλευτηρίου)“. Die auffällige Wiederholung von ex agoras gibt die Richtung vor. Es geht um eine Vermarktung, nämlich dem Interesse, die gesellschaftliche und politische Karriere voranzubringen.

Wir kennen solche Karrierestarter, die sich, talentiert und vor allem ehrgeizig, beweisen und ihren Weg machen wollen. Wir waren vielleicht selbst einmal von diesem Schlag. Ihrem selbstbewusst ambitionierten Streben gilt zunächst Sokrates zum Ausdruck gebrachte Ironie. Sokrates hänselt Menexenos damit, dass er mit der Schule abgeschlossen zu haben glaubt und sich nun zu höheren politischen Aufgaben berufen fühlt. Zugleich zeigt Menexenos, wie wenig er noch vom politischen Geschäft versteht, wenn er glaubt, eine solche Leichenrede sei per se eine großartige Leistung. Er führt ihm vor, dass solcherart Reden meist nichts als das Ergebnis trainierter rhetorischer Routinen sind. Im Dialog führt Sokrates das dem Menexenos durch seine Rede vor, die er durch das folgsame Auswendiglernen der Musterreden von Aspasia gelernt haben will. Vor allem aber führt Platon uns Lesern vor, wie Sokrates es dem Menexenos vorführt. Wir „hören“ nicht nur die Rede, die Sokrates dem Menexenos hält, wir verstehen sie aus diesem Gesprächszusammenhang. Uns, nicht Menexenos, der selbst nur eine platonische Figur ist, gilt Platons Aufmerksamkeit. Uns will er etwas mitteilen und zwar zwangsläufig etwas, das über das hinausgeht, was Menexenos aus dem Gespräch mit Sokrates gewonnen haben könnte. Menexenos ist von der Rede des Sokrates beeindruckt und will in Zukunft weitere hören. Offen bleibt, welche Schlussfolgerungen er daraus für sein eigenes (politisches) Leben ziehen wird.

Und wir? Welche Wirkung erwartet sich Platon auf uns? Also was teilt Platon uns mit?

Unter Nutzung der Totenprosopopoieia gibt sich Sokrates als Botschafter (ἂγγελος, angelos) aus der Unterwelt. Die Verstorbenen hätten ihm aufgetragen, den Hinterbliebenen etwas zu mitzuteilen (ἀπαγγέλλειν τοῖς ἀεὶ λειπομένοις).[46] Dass Sokrates beschwörend fordert, man müsse ihm glauben, es von den Verstorbenen selbst gehört zu haben, hat gerade die gegenteilige Wirkung. Wir glauben es nicht und lächeln über die Zumutung. Wir mögen uns noch vorstellen, dass die Rede, wenn sie tatsächlich vor den trauernden Angehörigen der Verstorbenen vorgetragen würde, das Ergriffensein der Zuhörer verstärkt hätte. Hier im Rahmen des „Probe-Vorsprechens“, das die rhetorischen Fertigkeiten beweisen soll, hat diese Versicherung gerade einen anderen Effekt. Sokrates gibt dem Menexenos – und uns Lesern – vielmehr ein Beispiel, wie man solche Reden hält. Wir sind nämlich, wie vermutlich auch Menexenos, keine trauernden Hinterbliebenen, die durch die Vergegenwärtigung ihrer Verstorbenen affektiv mitgerissen werden. Wir sind nicht konkret betroffen, sondern „nur“ im Allgemeinen. Wir bewerten die Wirkung der Rede, die sie bei denen, der sie zugedacht ist, haben wird.

Die rhetorische Figur der Prosopopoieia greift „nur“ auf, was die Zuhörer erwarten – in dem Fall der Totenprosopopoieia, das, was die Lebenden den Toten selbst zuschreiben. Und indem Sokrates den Verstorbenen eine Botschaft in den Mund legt, die den Hinterbliebenen richtig und gut erscheint, lässt er die Hinterbliebenen sich auf das besinnen und zum dem bekennen, was für sie „im Grunde“ maßgebend ist, obgleich es allzu oft in den Besorgungen des alltäglichen Lebens unterzugehen droht. Der Tod der Angehörigen führt die Hinterbliebenen zur Besinnung auf das, worum es ihnen „eigentlich und im Grunde“ zu tun ist. Sie hätten das vielleicht nicht so elegant hätten formulieren können, hätte es ihnen Sokrates nicht angesonnen.

Das alles betrifft die wahrscheinliche Wirkung der Rede, würde sie denn tatsächlich gehalten. Wir wissen auch, dass sie so nie gehalten werden konnte, denn Tote sprechen nicht – jedenfalls nicht jenseits der literarischen Fiktion. Gehalten wird sie nur im Dialog und dort nur dem Menexenos und diesem „Vortrag“ wohnen wir als Lesern bei. Doch zwischen Menexenos und uns besteht eben ein wesentlicher Unterschied. Menexenos weiß nicht, dass er mit einem Geist spricht, nämlich jemanden, der „eigentlich“ schon 13 Jahre tot ist. Er weiß nicht, dass er eine Person in einem Stück, eine Kunstfigur Platons ist. Das wissen nur wir. Dieses Mehr-Wissen ist für das Verständnis des Menexenos entscheidend.

Platon holt uns Sokrates aus der Unterwelt, lässt ihn auf der Straße zur Agora dem ehrgeizigen Menexenos begegnen und ihm eine Rede halten, in der er die Lebenden dazu ermahnt, sich in ihrem Leben auf das Beste zu besinnen und sich immer (philosophisch) um die Vorzüglichkeit der eigenen Lebensführung, die eudaimonia, das gelingende Leben, zu sorgen. Was für Menexenos „nur“ ein Trick ist, der auch bei ihm nicht ohne Wirkung bleibt, wird uns eine Einsicht in das Wesen der Philosophie selbst. Platon distanziert uns von dem Geschehen. Wir schmunzeln, weil wir „wissen“, dass Sokrates aus der Unterwelt kommt und seine Beschwörung, man möge ihm glauben, den Verstorbenen tatsächlich begegnet und von ihnen beauftragt zu sein, uns als Lesern von Platon zugedacht ist, um das vorgeführte (philosophische) Drama als philosophisches erleben zu können, nämlich so, dass wir uns von dem Geschehen distanzieren, ohne das sich Philosophie nicht zeigen lässt.

Die Sache der Philosophie hat eine dramatische Form, die ihr nicht beiläufig zukommt und die wir nicht abstreifen können. Jeder philosophische Traktat ist die erstarrte Form einer philosophischen Besinnung, die vom Leser wieder in ein philosophisches Geschehen, nämlich die dialogische Besinnung, zum Leben erweckt werden muss. Die Wahrheit von allem mag 42 sein. Wir vermögen die Wahrheit von 42 freilich nur im Durchgang durch die Gründe zu ergreifen. Philosophisch gelingt das nur, wenn die Suche nach Gründen selbst Teil und Ausdruck einer sich ums gelingende Leben sorgende Lebensführung ist. Philosophie ist keine Sammlung von Thesen und die dafür hinterlegte Liste von Gründen, sie ist eine Form der Liebe und die zeigt sich nicht in Sätzen, sondern in einem dramatischen Geschehen.

Platon ringt mit der Darstellbarkeit des Philosophischen. Ja, der Menexenos ist ein „Geheimnis“, a „mystery“ und vielleicht „die verwirrendste Schrift Platons“. Er ist „almost certainly the most enigmatic of all Plato’s writings”,, weil er genau das sein will. Und ja, er ist auch ein „Meisterwerk der Satire“ und Ironie, um genau das Enigmatische des philosophischen Dramas zum Ausdruck zu bringen. Wir machen mit dem Menexenos die Erfahrung eines teilnehmenden Betrachters eines Geschehens, zu dem wir uns von Platon in ein Verhältnis versetzt werden, uns selbst zu ihm zu verhalten. Wir werden ins Geschehen eingebunden, indem wir uns von ihm lösen, es als Kunst erfahren und auf uns beziehen können. Anders als die Reden „kunstreicher Männer“, die „mit dem herrlichsten Schmuck der Worte … unsere Seelen bezaubern“ und uns für drei Tage glauben lassen, wir seien „größer und edler und trefflicher geworden“ und würden „fast auf der Seligen Inseln“ wohnen, um uns dann „am vierten oder fünften Tage wieder [zu besinnen und zu merken], wo in der Welt [wir sind]“[47], lässt uns Platon zum Geschehen in eine Distanz, die eine philosophische Besinnung über die behandelten Sache anstößt. Sokrates wird uns – im Wissen um sein Unterweltdasein – zum Zeitgenossen, zu dem wir uns verhalten. Er spricht aus der Unterwelt zu uns Lebenden und wir wissen, dass er eine Kunstfigur ist, von der wir uns ergreifen lassen. Der Dialog endet mit der dreimaligen Anspielung auf die Botschafterrolle des Sokrates, seine Rolle als ἂγγελος, angelos. Menexenos dankt vor allem Sokrates für die Rede, „wer immer sie dir mitgeteilt hat“. Nur mit Hinweis darauf, dass sie nicht von Sokrates selbst herrührt, stellt er in Aussicht, auch „in Zukunft noch viele schöne Reden“ von dieser Quelle mitteilen zu können (ἀπαγγέλλω, apangello). „Sei ganz beruhigt“, antwortet darauf Menexenos, er werde sie ihm nicht zuschreiben: „teile sie nur mit (μόνον ἀπάγγελλε, monon apangelle)“. Worauf Platon Sokrates den Dialog mit der Versicherung beenden lässt: „Das soll geschehen.

Wir wissen nun wem wir diese „Botschaften“ „eigentlich“ verdanken und wie damit umzugehen ist.

 

[1] Ernst Bloedow, Aspasia and the „Mystery of the Menexenus”, Wiener Studien 9 (1975), S. 32.

[2] P. Friedländer, Platon (1964), Bd II, S. 202.

[3] Charles E. Kahn, Plato’s Funeral Oration, in: Speeches for the Dead, Essays on Plato’s Menexenus, ed. by Harold Parker u. Jan Maximilian Robitzsch, 2018, S. 9.

[4] Gregory Vlastos, ΙΣΟΝΟΜΙΑ ΠΟΛΙΤΙΚΗ, in: Platonic Studies, 1973, S. 188.

[5] A. E. Taylor, Plato, The Man and His Work, London 1960, S. 41.

[6] So bleibt z.B. die legendäre Schlacht bei den Thermophylen (480) unerwähnt, die für Ausgang des Zweiten Perserkriegs entscheidende Bedeutung hatte und die seither als ein Ausdruck des Heldenmuts der Spartaner galt. Leonidas, der spartanische König, hielt mit seinen 300 Spartanern die Perser auf, brachte ihnen schwere Verluste bei und sicherte so den Rückzug der Griechen.

[7] 243d.

[8] 243e-244a.

[9] Im Phaidon werden die letzten Stunden des Sokrates geschildert, aber auch das ist kein Protokollbericht des wirklichen Geschehens. Wir würden damit nichts gewinnen stattdessen alles das verlieren, was die Bedeutung ausmacht, die Platon dem Geschehen gibt. Es ist ein philosophisches Drama, das Platon zur Aufführung bringt. Platon gibt ein Gespräch zwischen Echekrates und Phaidon wieder, das „geraume Zeit“ nach dem Geschehen stattfindet. Phaidon berichtet darin von den letzten Stunden des Sokrates im Gefängnis, „was der Mann [Sokrates] vor seinem gesprochen hat und er gestorben ist“. Phaidon ist kein aktiver Teilnehmer am Gespräch – er wird von Sokrates an einer zweifellos zentralen Stelle des Gesprächs kurz angesprochen (89a-c), ohne dass er wirklich einen aktiven Beitrag zum Gesprächsgeschehen hat –, aber er kann von einer „wunderbaren“ Stimmung (θαυμάσια ἔπαθον) berichten, die ihn wie alle Beteiligten ergriffen habe, nämlich „einer ungewohnten Mischung (ἀτεχνῶς ἄτοπόν πάθος), die aus Lust zugleich und Betrübnis zusammengemischt war“, die angesichts des nahen Endes des geliebten Freunds und Lehrers nur zu verständlich ist. Platon lässt Phaidon ausdrücklich bestätigen, dass er selbst bei Sokrates im Gefängnis war und es nicht nur von einem anderen gehört habe (59b); mit αὐτός, „selbst“, lässt Platon den Phaidon beginnen: selbst beteiligt am Geschehen des sokratischen Sterbens zu sein, sich von diesem Geschehen auch als Leser ergreifen zu lassen, ist wohl die Absicht, die Platon mit dem Phaidon verfolgt. Platon hingegen, so lässt Platon den Phaidon erzählen, war selbst nicht zugegen (!): „Platon aber, glaube ich, war krank.“ Platon relativiert die historische Authentizität des Geschehens durch die erzählerische Distanz des Autors. Man könnte, so wie Puchner von einem künstlerischen Verfremdungseffekt sprechen. Puchner sieht in Platons Dialogen eine Inspiration fürs moderne Theater und will darin z.B. Vorläufer des Stilmittels der Verfremdung erkennen, nämlich die Absicht, den Zuschauer/Leser zu einer kritischen Distanz zum dargestellten Gegenstand zu bringen und ihn aus der emotionalen Ergriffenheit zu einer aktiven Auseinandersetzung mit der im Stück behandelten Sache bringt. Es wird also kein historisches Ereignis protokolliert, sondern der inszenierte Dialog vermittelt eine Erfahrung des philosophischen Nachdenkens über das, was gelungene Lebensführung angesichts der Endlichkeit des menschlichen Lebens ausmacht. Es geht gerade um den Unterschied des historischen Ereignisses vom bedeutsamen dramatischen Geschehen des Dialogs. Das eine vollzieht sich im Leben, das andere spielt auf der Bühne des philosophischen Theaters.

[10] Symp. 193.

[11] Symp. 178e-179a.

[12] Symp. 178a.

[13] 234c.

[14] 234d.

[15] 236b.

[16] 236c

[17] 249d.

[18] 249d.

[19] Cf. Homer, Ilias VI 208ff. und XI 784f.

[20] 246b-c.

[21] 237a.

[22] Poseidon und Athen streiten um das Wohlwollen Athens. Das alleine ist schon merkwürdig, so als könnten die Menschen selbst über ihr Schicksal entscheiden und darüber, welcher Gottheit sie sich besonders zugeneigt sehen wollen. Der Mythos dabei vor allem dem unterlegenen Poseidon nicht besonders ehrfürchtig um. Er erweist sich als etwas einfältig, ja fast tölpelhaft: während Athene den Athenern den Olivenbaum anbietet, der ihnen sowohl Früchte, Öl und Holz liefert, bietet Poseidon ihnen einen immer sprudelnden Wasserlauf an, eine tolle Gabe fürs trockene, attische Land, flösse in ihm nicht das salzige Wasser des Meeresgotts.

[23] Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, II 41: ξυνελών τε λέγω τήν τε πᾶσαν πόλιν τῆς Ἑλλάδος παίδευσιν εἶναι

[24] Thukydides, a.a.O., II, 37: καὶ ὄνομα μὲν διὰ τὸ μὴ ἐς ὀλίγους ἀλλ᾽ ἐς πλείονας οἰκεῖν δημοκρατία κέκληται:.

[25] 239a.

[26] 238c.

[27] Thukydides, a.a.O., II 43.

[28] Wir fühlen uns erinnert an Sokrates Apologie, in der er die Athener, „die aus der größten und für Weisheit und Macht berühmtesten Stadt“ stammen, sich um „Einsicht und Wahrheit“ zu bemühen und darum, dass „die Seele sich aufs Beste gedeihe“. (Apologie 29d-30b)

[29] 246c.

[30] Im Englischen liest sich das z.B. so übersetzt: „we, who might have ignobly lived choose rather to die nobly”

[31] 246d.

[32] 246d-e.

[33] 246e-247a: πᾶσά τε ἐπιστήμη χωριζομένη δικαιοσύνης καὶ τῆς ἄλλης ἀρετῆς πανουργία, οὐ σοφία φαίνεται.

[34]

[35] Thukydides, a.a.O., II 44.

[36] Auch das ist wunderbar knapp und anspielungsreich formuliert: πατέρας δὲ ἡμῶν, οἷς εἰσί, καὶ μητέρας ἀεὶ χρὴ παραμυθεῖσθαι ὡς ῥᾷστα φέρειν τὴν συμφοράν…

[37] 247d.

[38] 247e-248a.

[39] Aristoteles, Poetik 6, 1449b: ἔστιν οὖν τραγῳδία μίμησις πράξεως σπουδαίας [25] καὶ τελείας μέγεθος ἐχούσης, ἡδυσμένῳ λόγῳ χωρὶς ἑκάστῳ τῶν εἰδῶν ἐν τοῖς μορίοις, δρώντων καὶ οὐ δι᾽ ἀπαγγελίας, δι᾽ ἐλέου καὶ φόβου περαίνουσα τὴν τῶν τοιούτων παθημάτων κάθαρσιν.

[40] Phaidon 58e.

[41] Phaidon 88b.

[42] Phaidon 88b-c.

[43] Cf. Cicero, Orat. 151.

[44] So z.B. Vittorio Hösle, Der philosophische Dialog, Eine Poetik und Hermeneutik, 2006, S. 187.

[45] Hösle, a.a.O., S. 187.

[46] ἀπαγγέλλειν – dazu wird Sokrates am Schluss von Menexenos aufgefordert und Sokrates willigt dazu ein: ἀλλὰ ταῦτ᾽ ἔσται (249e)

[47] 235a ff.

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