Es könnte alles so einfach sein, wenn wir nur endlich der Wissenschaft folgen würden. Follow the Science, insbesondere der, die als die Wissenschaft gilt. Wir hatten das ja schon gelegentlich mal – eigentlich sogar reichlich. Im Mittelalter hieß die Wissenschaft Theologie. Auf sie und ihre bezahlten Würdenträger berief sich Karl V. beim Wormser Edikt gegen Luther: „Es ist sicher, dass ein einzelner Mönch in seiner Meinung irrt, wenn diese gegen die der ganzen Christenheit steht, wie sie seit mehr als tausend Jahren gelehrt wird.“ Und tatsächlich war z.B. Cajetan ein führender Kopf der katholischen Christenheit, dessen Stimme schon einiges Gewicht hat.
Und wie sah’s – um nur die naheliegenden Wissenschaftsblüten zu nennen – mit der „deutschen Wissenschaft“ aus, die urplötzlich ein gutes Jahrzehnt herrschte, oder mit dem wissenschaftlichen Sozialismus, der gut 40 Jahre lang in einem Teil der deutschen Lande bestimmte, was Follow the Science heißt. Von beiden will man heute nicht mehr viel wissen. Immer war die Wissenschaft, die vorherrschende und den herrschenden Verhältnissen dienlich.[1] Wer es unternimmt, die herrschende Wissenschaft dort zu korrigieren, wo es den herrschenden Verhältnissen nicht dienlich ist (oder zu sein scheint), der wird sich auch heute wieder als „Leugner“, böswilliger Desinformant und Demokratiefeind gecancelt und aussortiert finden.
Während es in Deutschland vielleicht gute Gründe gibt, die Forschung zur eigenen nationalsozialistischen Geschichte und insbesondere den Holocaust unter eine besondere Verpflichtung zu stellen, ist nicht einzusehen, warum kritische Stimmen zur Klimakrise, der Kriegs- und Sozialpolitik (ist das nicht fast dasselbe), seien sie „wissenschaftlich“ motiviert oder „einfach nur“ mehr oder weniger besorgte Meinungsäußerungen, unter der Zensur der Desinformation stehen. Welches Wahrheitsgremium legt fest, was als Desinformation zu gelten hat und wovor die für „Rattenfänger“ anfällige Bevölkerung zu schützen ist? Da waren wir mit der vatikanischen Glaubenskongregation schon mal weiter. Damals wusste man jedenfalls, wer und warum zuständig war. Heute sind das durch nichts legitimierte Faktenchecker, die sich gerne an renommierten Wissenschaftlern ihr Mütchen kühlen.
Wenn nun Vollblutwissenschaftler wie Mai Thai Nguyen-Kim, pardon *in, unter dem Beifall der aufgeklärten Öffentlichkeit und mit großzügiger staatlicher Förderung fordern, dass die Politik mehr Wissenschaft braucht, dann kann einem nur angst und bange werden. Solche Influencer* erklären uns dann – ich erspare Ihnen den Link, es würde sie (hoffentlich) nur aufregen –, was kritisches Denken ist und was wir von dem, was wir darüber gelernt haben, schnellstens vergessen müssen, damit wir in Zukunft nicht als Leugner, Rechtsextremisten oder Antisemiten gelten.
Was hat das alles mit Musil zu tun? Auch Inside Kakanien gibt es die Hoffnung, sich aus den Wirrnissen des Lebens über „das Ideal des exakten Lebens“ befreien zu können. Während über das, was eine „gute Gesinnung“ oder gar ein gelungenes Leben ausmacht, seit Jahrtausenden geschrieben und gestritten wird und kein Ende abzusehen ist, geben uns die exakten Wissenschaften das verderbliche Versprechen, alles Verwirrende hinter uns lassen zu können. In den „exakten Wissenschaften“ ist alles viel konzentrierter formuliert. Man fokussiert sich auf die Ergebnisse. Der Fortschritt, der da über Jahrhunderte erzielt wurde, lässt sich in wenigen Büchern festhalten: Nehmen Sie ein modernes Lehrbuch der Physik oder der Chemie. Es ersetzt ganze Bibliotheken von Erkenntnisbemühungen. Was brauchen sie noch Galilei oder Newton, Albertus Magnus, Paracelsus oder Justus von Liebig zu lesen. Also gilt es, das Leben den exakten Wissenschaften anzuverwandeln. „Der Gedanke liegt nahe, daß wir unser menschliches Geschäft äußerst unrationell betreiben, wenn wir es nicht nach Art der Wissenschaften anfassen …“ Also lassen wir am besten alles weg, was nicht exakt formuliert werden kann. Das vereinfacht das Leben ins Sinnlose. Follow the Science – das war’s.
Die Exaktheit ist ja nichts anderes als das Resultat einer Abstraktion, von allem abzusehen, was nicht exakt ist, d.h. sich nicht experimentell ermitteln und mathematisch formulieren lässt. „Ist nun das beobachtete Element die Exaktheit selbst, hebt man es heraus und läßt es sich entwickeln, betrachtet man es als Denkgewohnheit und Lebenshaltung und läßt seine beispielgebende Kraft auf alles auswirken, was mit ihm in Berührung kommt, so wird man zu einem Menschen geführt, in dem eine paradoxe Verbindung von Genauigkeit und Unbestimmtheit stattfindet.“ Er verhält sich sozial angemessen und ist innerlich verwüstet. „Die These, daß der große Umsatz an Seife von großer Reinlichkeit zeugt“, etwas wofür die Volksaufklärer à la Mai Think kämpfen, „braucht nicht für die Moral zu gelten, wo der neuere Satz richtiger ist, daß ein ausgeprägter Waschzwang, auf nicht ganz sauber innere Verhältnisse hindeutet.“
„Das Ideal des exakten Lebens“ teilt „die menschlichen Tätigkeiten nach der Zahl der Worte [ein], die sie nötig haben; je mehr von diesen, desto schlechter ist es um ihren Charakter bestellt.“ Um Musil und seinen kein Ende findenden Mann ohne Eigenschaften fällt damit allerdings kein allzu gutes Licht. Jedenfalls wenn man es aus der Perspektive des „exkaten Menschen betrachtet. „Aber dieser exakte Mensch ist heute vorhanden.“ Literatur und Kunst, Philosophie und Religion, wurden durch Volksaufklärung à la Mai Think ersetzt. Und so wissen wir mehr und besser, wie wir uns verhalten sollen.
Gilbert Keith Chesterton, der noch viel mehr geschrieben haben dürfte als Musil, hat seinem Pater Brown so manche Weisheit in den Mund gelegt, die dem „Ideal des exakten Lebens“ widerstreiten: Als ihm ein Polizeiinspektor einmal sagte, er „glaube nur das, was ich selbst erfahren und gelernt habe, an das, was ich weiß“, antwortet ihm Pater Brown: „Ich bin überzeugt, daß die Polizei viel weiß, aber wenn man bedenkt, wie wenig der Mensch überhaupt weiß, dann weiß ich nicht, ob die Leute von der Polizei nicht zu viel an den praktischen Wert ihres Wissens glauben und zu wenig vom praktischen Wert des Glaubens wissen.“
Mein Vorschlag: Lassen wir die Mai Thai Nguyen-Kims weiter „Leschen“ und lesen stattdessen Literatur.
P.S.: Ein schönes Beispiel für Follow the Science ist auch die Bestätigung des Bundesverfassungsgerichts vom 10.05.1957, dass der § 175 StGB verfassungskonform ist. Das Gericht bezog sich auf namhafte Sachverständige, allesamt Vertreter der Wissenschaft und gut besoldete Professoren oder Institutsdirektoren u.a. ein Dr. med. Dr. phil., Nervenarzt und Direktor des Instituts für Sexualforschung, Frankfurt/Main, ein o. Prof. Dr. Direktor des Instituts für gerichtliche und soziale Medizin der Universität Kiel, ein o. Prof. Dr. Dr. h.c. E. Direktor der Universitätsnervenklinik, Tübingen/Neckar, ein o. Prof. Dr. Psychologisches Institut der Freien Universität Berlin. Die Wissenschaft war halt einfach noch nicht so weit und das moralische Gefühl lässt sich eben nicht exakt formulieren, gell?!
[1] Gucken wir auf die Helden der Aufklärung zurück, dann sehen wir ein kleines Grüppchen von wissenschaftlichen Querdenkern, die es gegenüber dem „sitzenden“ Heer der Lehrenden, der Kultur-, Justiz. und Verwaltungs-Magnifizenzen schwer hatten, sich Gehör zu verschaffen und nicht selten in (bitterer) Armut lebten, zensiert und politisch verfolgt wurden.