Manchmal ist es schon befremdlich, was man bei Musil lesen muss: „An sich betrachtet, ist der moralische Mensch lächerlich und unangenehm, wie der Geruch jener ergebenen armen Leute lehrt, die nichts ihr eigen nennen als ihre Moral…“ Was – um Himmels Willen – ist „der moralische Mensch“? Ein per se leidender, gegen seine Neigung Handelnder – wie uns das seit der Kaiserzeit die staatstragende Pflichtethik nahelegen will. Sie berufen sich dabei meist in beträchtlicher Distanz zur Aufklärung, eigener Lektüre und eigenem Verstandesgebrauch auf Kant und beschwören doch – in freier Analogie zu Marx’ Feststellung1 – nur das „herrschende Gemeinwohl“ als das „Gemeinwohl der Herrschenden“. Damit es nicht zu elend wird mit dem Sieg der verbittert Moralischen, die nur dadurch gut leben, dass sie woker sind als die anderen und wirklich ans Weltganze denken – man liest ja gerade auch von einer Erwärmung auf dem Mars und dem Neptun –, also für die Moralischen braucht es „große Aufgaben, von denen [die Moral] ihre Bedeutung empfängt“. Die Moralisten brauchen als „Ergänzung [ihrer ] zur Moral neigenden Natur“ immer das „Weltgeschehen“ im Ganzen, die „Weltgeschichte“ als „ideologische Durchdringung [ihrer] Tätigkeit“– den kosmischen moralischen Fußabdruck eben. Man hört dabei gerne auf Leute, meist Männer, die nicht nur viele gute Gedanken haben, sondern auch Geld. Auf Philanthropen eben, denen die Philanthropie, medial und staatlich gefördert, zum Geschäftsmodell wird, das sie durch großzügige Unterstützung entsprechender GOs, NGOs und Medienschaffender befördern, zum Wohl der guten Sache, eben der großen „Parallelaktion“. Man, also die herrschende Meinung der herrschenden Moral ist sich einig, dass es jetzt neuer Persönlichkeiten bedürfe, „einer neuen Art Mensch“, und man „die geistige Verantwortung für den Weltlauf nicht mehr untätig den Berufslenkern überlassen könne“. National ist nichts mehr zu richten, aber auch Europa… nein, es braucht globale Lösungen. „die Leitung der Staatsgeschäfte in Europa geschehe zu wenig europäisch und viel zu ungeistig, und die Welt werden nicht Frieden finden, ehe ein weltösterreichischer Geist sie so durchwehe, wie die alte österreichische Kultur sich um die verschiedenensprachigen Stämme auf dem Boden der Monarchie schlinge“. So hieß das im alten Kakanien. Inside des neuen Kakanien müssen wir „weltösterreichisch“ natürlich durch andere Programme ersetzen. Kommen Sie drauf, was man hier – transnational, multikulturell und -naturell einsetzen könnten. Ich bin sicher, dass Sie der Moral hier auf die Sprünge helfen können, oder?
1Marx hatte in der Deutschen Ideologie geschrieben: „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so daß ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind. Die herrschenden Gedanken sind weiter Nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die als Gedanken gefaßten herrschenden materiellen Verhältnisse; also der Verhältnisse, die eben die eine Klasse zur herrschenden machen, also die Gedanken ihrer Herrschaft. Die Individuen, welche die herrschende Klasse ausmachen, haben unter Anderm auch Bewußtsein und denken daher; insofern sie also als Klasse herrschen und den ganzen Umfang einer Geschichtsepoche bestimmen, versteht es sich von selbst, daß sie dies in ihrer ganzen Ausdehnung tun, also unter Andern auch als Denkende, als Produzenten von Gedanken herrschen, die Produktion und Distribution der Gedanken ihrer Zeit regeln; daß also ihre Gedanken die herrschenden Gedanken der Epoche sind.“ Die herrschende Meinung des Gemeinwohls, hinter die der Einzelne immer zurücktreten muss, ist wohl selbst eine „Deutsche Ideologie“.