Inside Kakanien I 49: Misereatur tui

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Parallelaktionen wollen „in erster Linie etwas geistig Großes“ erreichen. Sie wissen freilich nicht, was das ist und meist nicht einmal, was man sich unter „geistig“ vorzustellen habe. Auch die „spirituellen“ Werte und Wenden sind nicht selten geistlose Ratlosigkeit. Heute fordern viele mehr Bildung, ohne doch zu wissen, an welchem Bild sie die Bildung ausrichten wollen. Die Forderung nach Bildung scheint die Bildung zu ersetzen. Es ist im Übrigen immer die Bildung der anderen, die gefördert werden soll, die eigene wird ja nur selten beklagt. Und die Bildung der Alten, die braucht man eh nicht mehr, die gilt denen, die sie nicht haben, als gefährlich, unsozial, chauvinistisch, rassistisch und jedenfalls „voll extrem“. Descartes hatte mit ironischem Unterton festgestellt, dass „der gesunde Verstand (bon sens) [wohl] die bestversteilte Sache der Welt [sein müsse], denn jedermann meint, damit so gut versehen zu sein, daß selbst diejenigen, die in allen übrigen Dingen sehr schwer zu befriedigen sind, doch gewöhnlich nicht mehr Verstand haben wollen, als sie wirklich haben“. Aufklärer wollen immer andere aufklären und die Bildung will man vor allem den anderen angedeihen lassen, ohne doch recht zu wissen, was ihnen da zugutekommen soll. „Gibt es denn heute überhaupt etwas, das man ganz wichtig und groß nennen kann, um es mit aller Kraft zu verwirklichen?!“, lässt denn auch Musil fragen. Wir kämpfen heute nicht für etwas Großes, sondern gegen allerlei apokalyptisch zugespitzte Widrigkeiten, diverse Pandemien, den Klimawandel und CO₂, kurz alles Böse der Welt, ohne doch so recht zu wissen, was wir denn unter dem Schönen, Guten und Wahren verstehen, das wir retten wollen. Wir lächeln über alle, die das allzu ernst nehmen – bemühen uns aber in unseren Parallelaktionen für das „geistig Große“ zu streiten, das wir klugscheißernd doch nur für „gesellschaftliche Konstruktionen“ ausgeben. Wer glaubt noch an einen neuen Homer, wenn schon der alte uns ziemlich kalt lässt, oder an einen „neuen Gott“, wo Gott doch „im tiefsten unmodern“ ist. Es gibt aber ja, sagen uns die Parallelaktionsaktivisten, so viele Mitmenschen, die einfach so vor sich hinleben, unsolidarisch und abstandslos, ungegendert und veganfrei. Das Übel, das wir nicht recht wahrnehmen, müssen wir mit einem moralischen PCR-Test aufspüren: Kleinste Spurenelemente von Schadstoffen müssen über eine künstliche Kettenreaktion vervielfältigt werden bis sie apokalyptisch wirksam werden. „Angenommen wir hätten einen neuen Homer: Fragen wir uns mit letzter Aufrichtigkeit, ober wir überhaupt fähig wären, ihm zuzuhören?“ Eine rein rhetorische Frage Musils. Wir haben ihn nicht, weil wir ihn nicht vermissen. Aber wir würden gerne so tun als ob wir dem Geist auf die Sprünge helfen. „Ich wünschte, ich würde mich für Tennis interessieren“, sangen im letzten Jahrtausend mal Tocotronic,  „Ich wäre ganz bestimmt ein anderer als ich’s jetzt bin, Es wäre unbedingt ein Leben mit mehr Sinn“. Dass wir für gute Absichten viel tun würden, wenn wir denn welche hätten, das können wir ja vielleicht dadurch beweisen, dass wir uns und anderen weh tun, einfach so, der Gesinnung wegen. Eben für die Parallelaktion. Es lebe das Flagellantentum. Vergesst die Peitsche nicht, wenn ihr die Guten sein wollt: misereatur tui.

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