Der eine tut’s, der anderen gefällt es weniger, nämlich beim Lesen wichtige Stellen im Buch anzustreichen. Manche halten es für eine Verunstaltung des Buches, andere für Zeichen der Wertschätzung. Es hilft vielleicht den Kerngedanken eines Abschnitts in den Blick zu bekommen oder besonders schöne Formulierungen wiederzufinden. Finden sich viele Unterstreichungen im Text, Stellen mit Ausrufezeichen, Pfeilen u.ä. markiert, dann scheint er besonders dicht geschrieben oder kunstvoll formuliert. Byung-Chul Han, ein deutsch-koreanischer Philosoph, hat in einem Vortrag bekundet, er versuche seine Texte so zu schreiben, dass jeder Satz der Unterstreichung wert sei. Nun muss ich gestehen, dass mein Exemplar seiner Müdigkeitsgesellschaft (zuerst 2010 erschienen hat es bis 2023 13 Auflagen gesehen) mit vergleichsweise wenig Unterstreichungen auskommt. Das erfüllt zwar nicht den Anspruch von Byung-Chul Han, aber das muss nicht an ihm liegen. Wenn ein Kopf auf ein Buch trifft und es hohl klingt, dann kann das bekanntlich auch am Kopf liegen. Ich bin da weniger anspruchsvoll als Byung-Chul Han sich selbst gegenüber. Wenn mir ein Essay von etwas mehr als 60 Seiten zwei drei erstaunliche Dinge mitteilt, die meine Sicht auf mich und die Welt verändern, dann bin ich reichlich zufrieden. Und es gibt in Byung-Chul Hans Müdigkeitsgesellschaft schon Erstaunliches, das einem zum Nachdenken anregt.
Die Leistungsgesellschaft erschöpft …
Dass Müdigkeit in einer Leistungsgesellschaft um sich greift, die von bull shit jobs[5] dominiert wird, ist nicht so erstaunlich. Sie führt den einen Teil, die bull shit jobber, in Depression, burn out und eine ethische Haltlosigkeit, und den anderen, „arbeitenden“ Teil, der die bullshit jobber ernährt und „beliefert“, in Armut und Resignation. Die „sogenannten Leistungsträger“ der woken Oberschicht verachten die unchice, bildungsferne Unterschicht „des gemeinen Mannes“, und die verachteten Zulieferer verachten ihre Verächter. Beide werden dabei müde und krank und erschöpft – Michael Nehls weist allerdings zurecht darauf hin, dass Erschöpfung das Phänomen besser beschreibt: während Schlaf gegen Müdigkeit hilft ist Erschöpfung ein Zustand, in dem der Schlaf nicht mehr erfrischen kann.[1] Wo die Lebensgeister absterben, da können sie auch nicht mehr geweckt werden.
… und zwingt zum Doping
Und ja, Byung-Chul Han hat wohl recht, dass die Leistungsgesellschaft zu einer Doping-Gesellschaft degeneriert. Wer was werden will, muss dopen. Wie sagte Jan Ulrich zurecht: ich habe niemand betrogen – weil es ja alle machen. Aber Byung-Chul Han setzt noch einen drauf. Die Leistungsgesellschaft generiert geradezu eine Pflicht zum Doping. Wenn schwierige Operationen bessere Erfolgsaussichten haben, wenn der Chirurg Neuro-Enhancer, bewusstseinserweiternde, die Aufmerksamkeit und die Fokussierung verbessernde Pharmaka nimmt, würden wir das dann nicht von unserem Arzt erwarten? Man denke – als Mann – nur an Prostata-OPs, bei denen ein kleiner, enganliegender Nervenstrang nicht durchtrennt werden darf, damit’s danach noch klappt mit der „Leistung“. In einer Vielzahl, vermutlich der Mehrzahl der Fälle, klappt’s dann eben nicht mehr. Nur wegen der Doping-Kontrolle?! Oder nehmen wir – weniger anzüglich – schwierige Augen-OPs. Wollen wir da nicht sicherstellen, dass der Chirurg wirklich alles tut und sich z.B. vorher was „reinzieht“, damit wir wieder klarsehen: Er verschafft sich Visionen, damit wir wieder (sehen) können.
Bei Kriegseinsätzen war und ist das Doping mit Psychopharmaka eh ein bewährtes Vorgehen. Es kämpft sich „fokussiert“ einfach besser, wenn man nicht durch allerlei Bedenken und eine dünnhäutige Empfindsamkeit geschwächt ist.
Die Leistungserwartungen drängen zum Doping und zur Erweiterung seines Leistungsvermögens, das gar nicht mehr das Eigene ist. Byung-Chul Han nennt Doping „eine Leistung ohne Leistung“. Die Leistungsgesellschaft erfüllt sich im Transhumanismus, die den Menschen über sich hinausführt. Der Mensch muss sich in der Optimierung hinter sich lassen. Das ist gut gemeinter Selbstmord, Auslöschung des Menschlichen aus eigenem Antrieb.
Wider den Transhumanismus
Kann man sich dem entgegenstellen? Gemeinhin unterstellt man dem Doping wohl eine betrügerische Absicht und eine Verzerrung des (fairen) Wettbewerbs. Nun ist die Grenze zwischen (unfairem) Doping und „hartem, aber fairem“, besonders trickreichem Training mit ausgeklügelten Materialeinsatz eh schwierig zu ziehen. Man muss die Trainingsmethoden so wenig offenlegen, wie das Geheimnis der besten Sachertorte oder das Design eines neuen Halbleiter-Chips auch wenn der eigene Erfolg gerade durch Geheimhaltung sichergestellt wird.
Dennoch ist Doping im Sport ein hilfreiches Spotlight für die Kritik der Leistungsgesellschaft. Im Sport geht es um nichts als ums faires, regelkonformes Gewinnen. Der Erfolg macht Spaß oder bringt wie im Profi-Sport wirtschaftliche Vorteile. Es geht nicht darum, etwas her- oder bereitzustellen, das jenseits seiner Hervorbringung einen Wert hat.
Doch genau darum geht es im Leben jenseits von Spiel und Sport. Wir erstreben Güter und zwar solche, die die mehr oder weniger große Anstrengungen verdienen, die wir für ihren Erwerb aufbringen müssen. Wirtschaftlich würden wir dabei Kosten und Nutzen abwägen. Ethisch ist das Streben nach Gütern nur dann ratsam, wenn auch ihr Erwerb, also die notwendige Bemühung, als Teil einer gelingenden Lebensführung gelten kann. Die Arbeit, die wir leisten, um zu leben, ist selbst Teil des Lebens. Wir können deshalb zu viel arbeiten, aber auch zu wenig arbeiten. Nicht die Arbeitsmenge oder die Härte der Anstrengung ist dabei entscheidend. Wir arbeiten gerne hart, wenn wir Sinn darin sehen, das heißt, wenn wir die Arbeit als Teil unserer Lebensführung verstehen und sie selbst Ausdruck des Lebens ist, das wir führen wollen. Wir wollen z.B. unser Haus selbst bauen oder wir kochen gerne, weil uns das gar nicht als Arbeit im Sinne einer messbaren Leistungserbringung verstehen. Wer andererseits die Arbeit für Dinge scheut, deren Erwerb für ihn ratsam wäre, dem mangelt es an der Willensstärke und Entschiedenheit (Disziplin), die für eine gelingende Lebensführung unumgänglich ist. Wir dürfen deshalb zurecht auf eine Leistung stolz sein, wenn uns etwas gelungen ist, das mit Blick auf unser Leben im Ganzen bedeutsam ist.
Diese ethische Beurteilung einer Tätigkeit im Hinblick auf das Ganze der eigenen Lebensführung wird in der Leistungsgesellschaft ausgeblendet. Sie beurteilt eine Leistung nicht nach dem Gut, das geschafft wurde, sondern nach der Effizienz in der Erbringung der Dienstleistung. Sonst gäbe es keine bull shit jobs. Leistungsgesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass sie den „Gebrauchswert“ der „Dienstleistung“ von der Leistungserbringung selbst trennen. Der „Gebrauchswert“ der Dienstleistung zeigt sich (konkret) in seiner mehr oder weniger „glücklichen“ Verwendung, der Wert der Leistung (abstrakt) in der Menge der „Energie“, die zur Herstellung nötig war, und letztlich im Preis. Leistung wird gemessen, während sich der Wert des Produkts in seinem sinnvollen Gebrauch zeigt und damit als Teil einer Lebensgeschichte. Die leistungsstarke Hervorbringung hat keinen Bezug zur glücklichen Nutzung des Hervorgebrachten. Versteht man die Handlung als Leistungserbringung, dann abstrahiert man vom Lebenszusammenhang, der die zu erbringende „Leistung“ erst wertvoll macht.
Niemand möchte, dass seine Tochter sich für etwas Belangloses in höchste Gefahr bringt, nur weil sie glaubt, dass der Vater daran Gefallen fände. Wer Gefahren sucht, nur um sich darin zu beweisen, der spielt mit seinem Leben und handelt töricht. Aber es gibt Fälle, in denen wir uns in höchste Gefahr begeben, um das Leben so führen zu können, wie wir es für gut halten, z.B. wenn wir nicht weggucken, wenn jemand Hilfe braucht und wir ihm auch unter Gefahr zu helfen versuchen, oder wenn wir unsere Meinung auch dann vertreten, wenn wir damit gefahrlaufen, als Querdenker oder Verrückte stigmatisiert zu werden.
Natürlich erwarten wir, dass der Operateur ausgeruht und nicht zerstreut und mit zittrigen Händen ans Werk geht. Das gehört zu seinem Selbstverständnis und seiner Berufsehre. Aber muss er vorher ein Yogi werden, um Prostata-Vergrößerungen zu behandeln? Ja und Nein. Nein, das ist von ihm weder zu verlangen, noch könnte er darauf verpflichtet werden. Unfreiwillig kann man wohl kein Yogi werden!? Ja, es könnte durchaus sein, dass wir einen Arzt vorziehen, der seine Arbeit in einen größeren Zusammenhang stellt und sein ärztliches Handeln als Teil seines Lebens begreift, dem es um ein gelingendes Leben geht. Der Arzt versteht sein Tun nicht als die Erbringung einer abstrakten Leistung, die durch eine Effizienzsteigerung jenseits seines Lebensvollzugs verbessert werden könnte. Er will sich nicht in der Leistungserbringung verlieren und mit der Erhöhung seiner Leistung sein Leben entstellen. Wir wollen unsere Sinne nicht so weit schärfen, dass uns der Sinn fürs Ganze verloren geht.
Die systematische Entkoppelung des Gebrauch der Dienstleistung von der Leistung ihrer Hervorbringung,[2] von Gebrauchswert und (Markt-) Wert, die wir in der Leistungsgesellschaft finden, spiegelt sich in der Unterscheidung der gesellschaftlichen Rolle des Produzenten und des Konsumenten. Was der eine herstellt, verbraucht der andere. Das Leben der Verbraucher ist nur über den Markt, also über den Preis und damit die berechnete Leistung, mit dem Herstellers verbunden. Leistung ist das Medium, das die wirtschaftenden Personen zu einer Gesellschaft verbindet und sie sozialisiert.
The Great Reset … äh sorry: We Set
Auf gesellschaftlicher Ebene muss es also gelingen, eine Form des Zusammenlebens und Arbeitens zu finden, die die Produktion von Gütern (Gebrauchswerten) mit ihrem Gebrauch zu einem stimmigen Ganzen macht, nämlich einem Zusammenleben, das die Lebensführung der einzelnen gelingen lässt. Der Mensch als politisches, soziales Wesen findet sein Glück im Zusammenleben, bei dem das eigene Tun mit dem Tun der anderen nicht über (abstrakte) Leistung, sondern über den Gebrauch gemeinsamer Güter, also ethisch, verbunden ist. Sie teilen Sitten und Gebräuche, Normen und Werte. Sie wertschätzen die Dinge im Hinblick auf das gute Leben und das heißt das Leben in Gemeinschaft. Die politische Idee davon nannte sich dereinst Sozialismus. Wer der transhumanistischen Aufwärts- und ethischen Abwärtsspirale entkommen will, der muss jedenfalls nach dem Worum-Willen der Leistung fragen. Wir wollen „bessere Menschen“ werden, nämlich Menschen, denen es besser gelingt, ihr Leben wunschgemäß zu führen. Das wollen wir, weil wir das, was uns ausmacht, verwirklichen wollen. Nicht, weil wir unser Menschsein abstreifen und zu anderen Wesen werden wollen.
Wir brauchen dafür wohl einen Great Reset!? Aber der ist bekanntlich eine Verschwörungstheorie, oder? Also eine Verschwörung mit einer Theorie über eine Verschwörung, die doch nur die in einem Buch entworfene Vision philanthropischer Milliardäre ist.[3] Diese Vision verficht offen den Transhumanismus. Der ist längst auf dem Weg Realität zu werden. Er ist die Wahrheit der Leistungsgesellschaft. Die Borg aus dem Delta-Quadranten Davos lassen grüßen: Wir sind die Borg. Deaktivieren sie Ihre Schutzschilde. Sie werden assimiliert. Widerstand ist zwecklos. Dagegen hilft nur der Great Reset, den we set.[4]
[1] Michael Nehls, Das erschöpfte Gehirn, Der Ursprung unserer mentalen Energie – und warum sie uns schwindet, 2022. Hätte nicht gedacht, dass ich das mal anführe und kann als Disclaimer nur sagen, dass ich es selbst (noch?) nicht gelesen habe. Michael Nehls hat aber in einem Interview die These seines Buchs so erläutert, dass ich nach anfänglichem Hadern doch mit Interesse zuhören konnte.
[2] Wie für -ung-Substantivierungen typisch bezeichnen sie sowohl den Prozess als auch das Resultat. „Asphaltierung“ bezeichnet einmal den Vorgang des Asphaltierens, aber auch das Ergebnis den fertigen Straßenbelag. Ähnlich bei „Dienstleistung“: sie meint das Vollbringen wie das Vollbrachte.
[3] Klaus Schwab, Thierry Malleret, COVID-19: The Great Reset (dt.: COVID-19: Der Große Umbruch), 2020.
[4] Walter van Rossum setzt dem Great Reset den Great WeSet entgegen. Unter diesem Motto führt er seit zwei Jahren regelmäßig Gespräche, die die „geistige Situation der Zeit“ und ihre politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen besprechen. Jetzt, 2023, hat Walter van Rossum im massel Verlag unter dem Titel The Great WeSet, Alternativen in Medien und Recht dazu ein Buch veröffentlicht
[5] Siehe dazu: David Graeber, Bullshit Jobs, A Theory, 2018.