Was ist denn das für eine Frage? Eine philosophische? Jedenfalls beschäftigt sich die Zeitschrift „Information Philosophie“ in ihrer aktuellen Ausgabe (3/2020) mit der darüber inzwischen ausführlich geführten Diskussion. Wir reden nämlich von Immanuel Kant, dem Aufklärer! Kant gilt wohl ganz zurecht als Philosoph – und deshalb ist schon philosophisch interessant, ob Kant rassistisch war, oder?
Natürlich will ich den Leserinnen und Lesern eine der zentralen Stellen nicht vorenthalten, die Kant als Rassisten ausweisen könnten. Aber, wichtiger Disclaimer: Ich tue das ausschließlich in (popular-)wissenschaftlicher Absicht und nicht etwa um selbst zum Verbreiter rassistischer Theorien zu werden. Ich sage das deshalb, weil ich vor Jahrzehnten über Kant promoviert wurde, mich damit selbst bei der Verbreitung rassistischen Gedankenguts beteiligt haben könnte und mich damals – vermutlich aus karrieristischer Verblendung oder fanatischer Hingabe – nicht ordnungsgemäß vom Rassismus distanziert hatte, der bei Kant gesehen werden kann.
Hier also einer der Stellen, die als Beleg für Kants Rassismus gelten: „Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Race der Weißen. Die gelben Indianer haben schon ein geringeres Talent. Die Neger sind weit tiefer und am tiefsten steht ein Theil der amerikanischen Völkerschaften.“[1]
Marcus Willaschek folgert aus solchen Stellen: „Kant war ein Rassist.“[2] Michael Zeuske, Historiker und Autor von Sklaverei. Eine Menschheitsgeschichte von der Steinzeit bis heute (2018), hatte die Diskussion wohl ins Rollen gebracht und geht noch einen Schritt weiter, als er (laut Information Philosophie in einem Interview im Deutschlandradio Kultur)[3] meinte, man dürfe, „wenn man die Denkmäler von Rassisten stürzen wolle, nicht vor Kant haltmachen, der ‚den europäischen Rassismus mitbegründet habe‘“.
Natürlich wird das jetzt heftig diskutiert, die herangezogenen Stellen auf alle erdenklichen Formen „kontextualisiert“ und mit einem großen „Aber“ versehen: „Wer die entsprechenden Texte liest, kann kaum ernsthaft bestreiten, dass diese Positionen nach allen gängigen Kriterien als rassistisch zu bezeichnen sind. Doch …“ Die relativierenden Bewertungen reichen von schwachen Entschärfungen, wie z.B. dem Hinweis, die zitierte Stelle sei ein Zitat aus Buffons „Allgemeine Historie der Natur“ (1752) – ohne dass man sagen könne, wie Kant die Stelle in der Vorlesung kommentiert hatte, über allgemeine historische Einordnungen („Kant als Kind seiner Zeit“) bis hin zu apodiktischen Klarstellungen, es sei „apriori“ (!) ausgeschlossen, dass „Kants Universalismus“ mit einem Rassismus vereinbar sei.[4] Man könnte auch sagen „Kants Vernunft“ – wie die jedes vernunftbegabten Wesens – sei mit Rassismus („eigentlich“) „apriori“ unvereinbar – also ohne die Notwendigkeit auf empirische/aposteriorische Tatsachen zurückgreifen zu müssen. Das ist doch ein gutes Argument, oder?
Was wenn Kant Rassist war?
Worauf richten sich diese Versuche, der richtigen Einordnung? Oder anders gefragt, was wenn Kant tatsächlich Rassist gewesen ist. Müssten wir uns dann von der Philosophie Kants abwenden, Kants Kritiken auf den antirassistischen Index geben oder wenigstens alle seine Schriften mit einem Wasserzeichen versehen, das den Leserinnen und Lesern einen warnenden Hinweis gibt – ähnlich dem Aufdruck auf Zigarettenschachteln: „Achtung, Texte dieses Autors enthalten rassistische Inhalte und gefährden ihre geistige Gesundheit!“?
Oder können und sollten wir die Qualität einer philosophischen Theorie von den Eigenschaften der Personen trennen, die sie aufgestellt haben. Was, wenn Kant kurzsichtig oder „farbenblind“ war, war es dann „seine“ Philosophie auch?
Eine der offenen Frage der Philosophie gilt tatsächlich den Farben, was Farbe eigentlich „ist“ und ob wir sie als Eigenschaft der Objekte oder als subjektive Wahrnehmungen betrachten sollten. Können nun farbenblinde Philosophen über Farben schreiben? Wissen wir, dass ein Autor „farbenblind“ war, dann glauben wir jedenfalls zu verstehen, warum er zu Aussagen kommt, die wir nicht teilen.[5] Wir erklären uns seinen Fehler, den er in unseren Augen begangen hat, durch seine Blindheit (LOL). Wahr oder falsch werden Behauptungen durch die Tatsachen, die sie bestätigen. Eigenschaften einer Person machen ihre Behauptungen nicht wahr oder falsch, es sei denn sie richten sich ausdrücklich auf diese.
Was würde aus dem (hoffentlich fiktiven) Umstand folgen, James Clerk Maxwell könnte ebenfalls Rassist gewesen sein? Würden wir uns dann von seinen Gleichungen distanzieren und die Natur bitten, ihr Buch „antirassistisch“ umzuschreiben?
Was wüssten wir also (philosophisch), wenn wir wüssten, dass Kant Rassist war? Jedenfalls noch nichts über die Wahrheit seiner „Philosophie“, also z.B. vor allem seiner drei „Kritiken“. Wir wüssten vielleicht, dass wir ihn uns nicht zum Freund oder Ehemann nehmen würden, jedenfalls dann, wenn wir aus rassistischen Äußerungen einer Person auf ihren Charakter schließen können. „Rassistische“ Äußerungen sind vor allem Aussagen, die falsch sind. „Rassistisch“ sind sie, weil sie wesentlicher oder begründender Teil einer Weltanschauung sind, die wir „Rassismus“ nennen. Rassisten wiederum sind Leute, die sich zu dieser Weltanschauung bekennen und sich in ihrem Leben und Handeln daran ausrichten. Freilich ist nicht jede Handlung eines Rassisten rassistisch, sondern nur die, die sich aus – kantisch gesprochen – rassistischen Maximen begründet (sein Zähneputzen vermutlich nicht). Und nicht jede Person ist rassistisch, die einen Satz äußert, der einem rassistischen Kontext zugerechnet werden kann. Es käme darauf an, ob die Person ihre Handlungen mit Rückgriff auf rassistische Maximen rechtfertigt.
Ich will gerne einräumen, dass der „Universalismus“ Kants, die Vorstellung z.B., dass das Sittengesetz für jedes Vernunftwesen unbedingte Gültigkeit hat, sich dem Verdacht eines Euro-Zentrismus aussetzt und kolonialistische Verzerrungen annehmen kann. Darüber zu entscheiden bedeutet freilich, sich über die Begründbarkeit des Sittengesetzes zu verständigen und ob es transkulturelle Begründungen überhaupt geben kann – eine Diskussion, die ja spätestens seit dem Historismus geführt wird. Mit der Frage, ob Kant Rassist war, hat das nichts zu tun.
Ob Kant Rassist war ist philosophisch (weitgehend) uninteressant. Wenn wir auf Aussagen stoßen – die aus welchen Gründen auch immer – offensichtlich falsch sind (und davon gibt es in der Geschichte der großen Philosophie unzählige), dann können wir sie getrost beiseitelegen – wer sie noch etikettieren möchte, bitte. Philosophisch interessieren uns offene Fragen, für die sich aus guten Gründen mehrere Antworten anbieten. Welche Antworten mit welchen Gründen Kant auf diese Fragen gibt, wie wir ihre Gültigkeit einschätzen und wie wir uns im eigenen Denken und Handeln an ihnen ausrichten können, darüber lohnt es sich philosophisch nachzudenken. Alles andere ist philosophische Zeitverschwendung.
[1] Ich zitiere aus der Information Philosophie (Heft 3, 2020, S. 51f.), weil sich der Text in meiner Werk-Ausgabe nicht findet. Er entstammt der Sammlung „Physische Geographie“, die posthum von Theodor Rink aus dem Nachlass Kants rund um seine Vorlesungen zur Naturgeschichte zusammengestellt wurden. Ich hatte natürlich jetzt nicht vor, diese Textsammlung zu erwerben – wenn das (ohne den Nachweis eines antirassistischen Forschungsprogramms) überhaupt noch möglich ist? – musste aber feststellen, dass sich im einschlägigen Kant-Lexikon von Rudolf Eisler, das ich natürlich gleich zu Rate gezogen habe, die Stelle (neben einigen anderen „ver-dächtigen“!) auch aufgeführt findet. Will sagen: ich hätte es also wissen können!
[2] F.A.Z: vom 24.6.2020.
[3] Der Hinweis findet sich auch im Wikipedia-Artikel zu Michael Zeuske: https://de.wikipedia.org/wiki/Michael_Zeuske.
[4] So die Philosophieprofessorin Sabine Döring aus Tübingen in Die Welt am 20.6. 2020
[5] Sollte er „farbenblind“ die Sache dennoch – aus „unserer Sicht“ – richtig „sehen“, dann wäre der Hinweis auf seine Farbenblindheit „systematisch“ (sachlich) bedeutungslos und hätte nur den Sinn, seine besondere „Intuition“ zu loben.