Der Gang des Lebens

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Peter Paul Rubens ist für viele schon eine museale Zumutung – einfach „too much“. Und dann erst der „katholische“!? Willibald Sauerländer, der 2018 verstorbene Kunsthistoriker hatte dazu ein schönes Buch geschrieben. Es schwärmt ein wenig, ordnet ein und schließt eine kunstgeschichtliche Lücke. PzZ nähert sich dem „katholischen Rubens“ philosophisch und tut dies mit Hilfe von drei Meisterwerken von Rubens. Das erste ist sein Heiliger Christopherus.

Kunsthistorische Rekonstruktion oder Aggiornamento?

Der Hl.Christopherus von Peter Paul Rubens, linke Außenseite des Altars in der
Kathedrale Unsere Liebe Frau in Antwerpen

Ein schönes Beispiel für die Bild erschließende Kraft von Willibald Sauerländers kunsthistorischen Erläuterungen ist der Altar, den Rubens für die Kathedrale Unsere Liebe Frau in Antwerpen gestaltete. Der Seitenaltar gehörte der Antwerpener Schützengilde und wurde im Zuge des calvinistischen Bildersturms von 1566 zerstört. Er war dem Schutzpatron der Gilde, dem Heiligen Christopherus gewidmet. Und sollte nun durch Rubens neugestaltet werden.

Der Hl.Christopherus von Peter Paul Rubens in der
Alten Pinakothek München

Der Flügelaltar ist ein Triptychon, der zu Festzeiten aufgeklappt drei Teile hat: das mittlere Hauptteil und die beiden Innenseiten der beweglichen Seitenflügel. Im großen Mittelstück ist eines der herausragenden Meisterwerke von Rubens zu sehen, nämlich die Kreuzabnahme. Eingefasst wird die Kreuzabnahme Jesu von der sogenannten Heimsuchung, also dem Besuch der schwangeren Maria bei der ebenfalls schwangeren Elisabeth (Lk 1)[1] auf dem linken Seitenflügel, und der Darbringung Jesu im Tempel (Lk 2, 22-40)[2] Geschlossen zeigt der Altar auf der Außenseite des linken Seitenflügels die berühmte Abbildung des Heiligen Christopherus, deren Ölskizze in der Alten Pinakothek zu sehen ist. Der Altar wurde zum Fest des Heiligen am 25. Juli geschlossen, so dass Christopherus für seine Verehrung auf der Außenseite der Seitenflügel zu sehen war.

Kreuzabnahme von Peter Paul Rubens, Innnenseite des Altars in der
Kathedrale Unsere Liebe Frau in Antwerpen

Die Motive der Innenseite sind nun mit der Christopherus Darstellung der Außenseite aufs Engste verknüpft. Sauerländer spricht von „Christophoren“, Christus-Trägern (von Χριστόφορος). Die schwangere Maria (links) trägt Jesus unter ihrem Herzen, den sie (rechts) nach seiner Geburt in den Tempel trägt, um ihn Gott darzubringen und ihn durch Gott weihen zu lassen. Das Kernstück ist die Kreuzabnahme im Mittelteil, in der der Leib Christi herabgereicht und von den Gläubigen, Maria, Johannes und Maria Magdalena, empfangen wird. „Das ist mein Leib, der für Euch hingegeben wird. Tut dies zu meinem Gedächtnis“, so lauten bei Lukas 22, 19 die Einsetzungsworte der Eucharistie. Mit dem Tod am Kreuz erfüllt sich seine Verheißung. Die Kreuzabnahme wird zum heilsgeschichtlichen Fundament der Eucharistie.

Die gegenreformatorische Botschaft der zentralen Rolle der Eucharistie und der Realpräsenz des Leibes Christi in ihr wird nun mit dem Heiligen Christopherus in Beziehung gesetzt. Seine heilsgeschichtliche Bedeutung eröffnet der an Werktagen verschlossene Altar an Fest und Feiertagen zu seiner eigentlichen Bedeutung. Der innere Kern des Heiligen Christopheros ist das In-die-Welt-Tragen des Leibs Christi und also das Sakrament der Eucharistie. Auch das ist gleich in doppeltem Sinne ein gegenreformatorisches Bekenntnis.

Christopherus gehört zu den vierzehn Nothelfern und ist ein im Volksglauben festverwurzelter Heiliger. Er ist der Schutzheilige der Reisenden und damit der irdischen Pilgerschaft.[3] Dem Volksglauben gilt er als Patron gegen einen plötzlichen und jähen Tod – und damit ist gemeint einen Tod, auf den sich der Sterbende nicht durch letzte Ölung und die „Eucharistie als Wegzehrung“ vorbereiten konnte. Christopherus soll die Gläubigen vor dem schützen, was heute gemeinhin als besonders wünschenswerte Todesart gilt, nämlich der schnelle und „unbewusste“ Tod, das friedliche Einschlafen ohne wieder aufzuwachen. Christopherus bringt den Sterbenden, so die Hoffnung der Gläubigen, Christus selbst.

Zugleich ist Christopherus ein durchaus umstrittener Heiliger, deren Verehrung die Amtskirche immer wieder zu begrenzen suchte. Die historischen Belege seiner Existenz sind überaus dünn. Man mag durchaus an das von Luther geprägte Wortspiel denken, dass es sich bei Heiligenlegenden doch im Wesentlichen um Lügenden handelt. Christopherus steht in gewissem Sinne für die auch von katholischer Seite eingeräumte Gefahr einer Verirrung der Aufmerksamkeit, die der protestantischen Kritik des Heiligen-(Un-)Wesens zugrunde liegt.

Rubens’ Altar ist aus meiner Sicht unstrittig Teil der gegenreformatorischen propaganda fidei, der Verbreitung und Durchsetzung des rechten Glaubens. Hier hat Willibald Sauerländer völlig recht und er kann das kunsthistorisch gut belegen. Und ihm ist wohl auch zuzustimmen, dass die Inhalte der „katholischen Reformation“ für viele der heutigen Betrachter kaum mehr eine Bedeutung für ihr Welt- und Selbstverständnis haben. Das Kunstwerk des „katholischen Rubens“ wäre dann in der Tat nur noch kunsthistorisch und ideologiekritisch interessant. Eine Kunst, die die Richtigkeit der „katholische Reformation“ als Bedingung für ihre Wirkung voraussetzt, hätte vermutlich nur noch wenigen etwas zu sagen – und auch die Mehrheit der heutigen Katholiken wird sich nicht ausdrücklich gegenreformatorisch begreifen.

Aber dem liegt eine falsche Vorstellung von Kunst zugrunde. Sie ist keine Veranschaulichung von etwas, das man auch ohne sie haben könnte. Sie ist eben keine Propaganda. Ihre Wirkung schöpft sie aus sich selbst. Das Bild soll vielleicht den Glauben stärken, zur Besinnung einladen, Ruhe und Trost spenden oder zu Freude, Begeisterung und Aufbruch inspirieren. Das Bild muss sichtbar machen, was wirklich ist und worauf es wirklich ankommt. Es inspiriert und versetzt den Betrachter in eine Stimmung und das heißt in ein unmittelbares Welt- und Selbstverhältnis.

Wenn der „katholische Rubens“ propagandistisch wirken soll, dann muss er etwas ins Bild setzen, was die Wahrheit des Glaubens sicht- und spürbar macht und darf sie nicht als Bedingung seines Verständnisses voraussetzen.[4]

Betrachten wir also Rubens Christopherus etwas genauer. Rubens folgt in seiner Darstellung der traditionellen Ikonographie: Christopherus wird meist als große, kräftige Figur gezeigt, der das Jesus Kind durch einen Fluss trägt. Die Kunstgeschichte wird uns beim Rubensschen Christopherus auf die Darstellung der barocken, muskulösen Körperlichkeit verweisen und die Referenz zu antiken Herkules- oder Atlas-Skulpturen heranziehen: Rubens Christopherus ist also ein christlicher Herkules!? Wissen wir damit mehr? Und ist der Vergleich wirklich stimmig – oder worin ist der Vergleich wirklich produktiv, weil er etwas wirklich Unterschiedliches in Beziehung setzt? Ich komme darauf gleich zurück.

Aber fragen wir uns zunächst, warum der Hintergrund des Bilds so dunkel ist? Gelehrte Kunsthistoriker werden uns sagen, es soll die irdische Nacht zeigen, in der das Christuskind, das Christopherus uns entgegenträgt, Licht bringen soll. Es „soll die irdische Nacht zeigen“ oder zeigt es sie? Was sehen wir denn? Zunächst etwas äußerst Paradoxes. Ein kraftvoller Riese, eben ein „christlicher Herkules“, trägt unter erstaunlichen Anstrengungen ein Kleinkind. Was soll an dem Kleinen schwer sein? Die zwölf Arbeiten des antiken Herkules waren übermenschlich. Die Aufgabe des Christopherus ist von völlig anderer Art. Sie ist keine Arbeit, sondern eine „innere“ Ausrichtung, das Gewinnen einer neuen Art zu sein, eines anders gestimmten In-der-Welt-Seins. Die Legende besagt, dass das Kind im Laufe der Zeit immer schwerer und schwerer wurde. Auf die Klage des Riesen, ihm käme es vor, die ganze Welt würde auf seinen Schultern lasten, soll der Kleine geantwortet haben, indem er ihn nun als Christopherus anspricht, er trage nicht nur die Welt, sondern auch den, er sie erschuf. So – um Himmels Willen – ist das mit uns.

Aber müssen wir die Legende kennen und gar an sie glauben, um das Bild zu verstehen? Ja und nein. Wir verstehen dann, warum es als Außenseite eines Flügelaltars von der Antwerpener Schützengilde in Auftrag gegeben und schließlich in der Antwerpener Kathedrale zur Wirkung kommt.

Aber was, wenn wir vom Heiligen Christopherus nichts wüssten oder uns methodisch einfach mal dumm stellten. Wer sagt uns, dass der Kleine, der da auf der Schulter eines kraftvollen Mannes reitet und sich in dessen Haar festhält, tatsächlich Jesus ist? Gibt es Zeugen, sind sie vertrauenswürdig? Würde es das Bild „besser“ machen, wenn wir verlässliche Zeugen dafür fänden, dass es sich in etwa so abgespielt hat, wie die Legende es erzählt. Ist der erfolgreiche Faktencheck also für die Wirkung des Kunstwerks entscheidend? Ich meine: nein.

Wir sehen einen starken Mann, der durch die Nacht stapft und dem klar wird, dass die leichte, unbedeutend und belanglos scheinende Aufgabe, ein Kind irgendwo hinzutragen, zu einer für ihn alles entscheidenden Aufgabe geworden ist. Wir sehen, die für ihn selbst durchaus irritierende Entschlossenheit, die ihn nun ergriffen hat. Das Kleine ist zum alles Entscheidenden angewachsen. Es ist existentiell, es bestimmt sein Dasein. Etwas hat ihn ergriffen, und wir Betrachter wissen, dass es das gibt, dass das wahr ist und richtig.

Nehmen wir doch mal – ohne blasphemischen Hintergedanken – an, es wäre sein eigenes Söhnlein. Wie hätten wir ihn uns vorzustellen? In einer Entschlossen- und Entschiedenheit, die alles andere bestimmt? Denken wir ihn uns auf der Flucht aus einer der vielen kriegerischen Höllen, die es da in der „irdischen Nacht“ gibt. Wäre es wirklich dasselbe, wenn wir ihn bei wolkenlosem Sonnenaufgang oder strahlendem Sonnenschein voranschreiten sähen? Wohl kaum. Er wäre immer noch entschlossen, den Sohn zu retten, immer noch hätte er das untrügliche Gefühl, das Zentrum seiner eigenen Existenz gefunden zu haben, aber wir könnten es nicht mehr sehen oder es müsste sich anders zeigen. Es ist nicht dunkle Nacht, weil die „katholische Reformation“ es so will, es ist Nacht, weil nur sie sichtbar macht, was Rubens uns zeigen will und wir nur begreifen, was ist, wenn wir sie sehen.

Christopherus schreitet auf uns zu. Wie sähen wir uns gerne? Ohne zu wissen, ob wir Christopherus gleichen könnten, vielleicht die Kraft oder den Willen verlören, wir würden doch hoffen, genau so zu sein. Christopherus ist der Christus-Träger, weil er so ist, wie Rubens ihn zeigt. Wir wissen nicht, ob die Legende eine Lügende ist, aber dieser Christopherus, der steht klar und deutlich vor uns.

Der Rubenssche Christopherus bringt uns etwas, er trägt es uns zu, weil er ist, was er ist und das für uns Realität gewinnt. Er trägt sich uns und damit das zu, was ihn leitet und ausrichtet. Christopherus ist ein role model, die Darstellung einer uns existentiell ergreifenden, inspirierenden Lebensform. Wir müssen auf die Sache selbst sehen, die uns die (Rubenssche) Kunst zeigt. Sie ist im besten Fall Inspiration, heiliger Geist.

 

Fortsetzung folgt …

Der nächste Schritt führt uns zum Heiligen Franziskus. Er ist ja auch bei den Modernen durchaus beliebt: Armutsregel, äh … Konsumverzicht und nachhaltiges Wirtschaften zur Wahrung der Schöpfung. Aber das, was Rubens zeigt, scheint unzugänglich – kann aber philosophisch geläutert werden. Rubens zeigt nur, was uns menschlich angeht.  

[1]Maria aber machte sich auf in diesen Tagen und ging eilends in das Gebirge zu einer Stadt in Juda und kam in das Haus des Zacharias und begrüßte Elisabeth. Und es begab sich, als Elisabeth den Gruß Marias hörte, hüpfte das Kind in ihrem Leibe. Und Elisabeth wurde vom Heiligen Geist erfüllt und rief laut und sprach: Gesegnet bist du unter den Frauen, und gesegnet ist die Frucht deines Leibes! Und wie geschieht mir, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt? Denn siehe, als ich die Stimme deines Grußes hörte, hüpfte das Kind vor Freude in meinem Leibe. Ja, selig ist, die da geglaubt hat! Denn es wird vollendet werden, was ihr gesagt ist von dem Herrn.“ (Lk 1, 39-45)

[2]Und als die Tage ihrer Reinigung nach dem Gesetz des Mose um waren, brachten sie ihn hinauf nach Jerusalem, um ihn dem Herrn darzustellen, 23 wie geschrieben steht im Gesetz des Herrn (2.Mose 13,2; 13,15): »Alles Männliche, das zuerst den Mutterschoß durchbricht, soll dem Herrn geheiligt heißen«, und um das Opfer darzubringen, wie es gesagt ist im Gesetz des Herrn: »ein Paar Turteltauben oder zwei junge Tauben« (3.Mose 12,6-8).“ (Lk 2, 22-24)

[3] In neueren Zeiten wurde Darstellungen in Kraftwagen mitgeführt, die Fahrer und Mitreisende vor Unfall und Pannen schützen sollen. Christopheros hat hier eine ähnliche Rolle wie der allgegenwärtige Ganesha im Straßenverkehr der (hinduistischen) Inder.

[4] Das Bild soll zeigen, heißt so viel wie, es zeigt und wirkt eben nicht.

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