Nicht-Wählen – oder: Was ist eigentlich Surströmming?

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Mögen Sie Surströmming? Nein?! Gut, er riecht etwas streng und ist nicht mehr ganz frisch, aber eine echte Spezialität aus Schweden. Der in Salzlake vergorene Hering wird in Konservendosen aufbewahrt und setzt dort seinen Gärungsprozess unter Aufblähung der Deckenplatten fort. Kurz bevor die Blechdose platzt wird er von begeisterten Schweden mit Fladenbrot genossen. It smells? Nein es stinkt zum Himmel! Einer Mieterin wurde irgendwo in Deutschland fristlos gekündigt, weil sie Surströmming-Lake in den Hausflur gegossen hatte. Sie beabsichtigte wohl, ihre Nachbarn ganz eklig zu ärgern. Das war ihr damit gut gelungen. Ein Einspruch gegen das klare Urteil wäre aussichtslos gewesen.

Kann man denn da nichts machen? Schweden ist doch kein exotisch-unterentwickeltes Land wo Natureinwohner Schrumpfköpfe sammeln, lecker Rattenbrust am Lagerfeuer grillen und sich um Hunderagout streiten. Eine Aufklärungskampagne z.B. wäre da schon hilfreich. Also jetzt nicht so etwas Isoliertes mit ein paar Werbespots hier und ein paar Anzeigen dort. Nein. Es müsste schon etwas Übergreifendes und Umfassendes sein. Schließlich geht es ja darum, den unvermittelten Brechreiz zu überwinden und den tiefsitzenden Widerwillen abzubauen, der sich schnell einstellt, wenn man etwas Widerlichem schlechterdings nichts abgewinnen kann. Wir bräuchten eine Kampagne, die sich ins öffentliche Leben einfrisst und an allen denkbaren Stellen festsetzt. Es geht ja nicht um Werbung für den einen oder anderen Anbieter. Um Himmels Willen! Sicher gibt es bei den Herstellern/Händlern einige Unterschiede: Aber das tut wenig, wenn’s nur Surströmming! Es geht schließlich bei Surströmming um ein uraltes Kulturprodukt, mit der eine ganze Philosophie der Selbster- und -bemächtigung verbunden ist. Surströmming ist kein isolierbares Produkt, es ist ein Teil der Volksgesundheit, des Gemeinwohls und der Zukunft unserer Kultur. Gut, Surstömming ist vielleicht nicht das beste aller denkbaren Lebensmittel – das wäre ja eine unzulässige ideologische Vereinfachung. Das wollen wir nicht behaupten. Aber es ist zumindest das beste unter den Schlechten! Das Allerbeste der Schlechten sogar!

Zugegeben, die Sache ist nicht einfach. Denn Surströmming ist eben Surströmming und schmeckt einfach nicht nach Haribo und Weizenbier. Es kann nur gelingen, wenn alle zusammenarbeiten. Die Hersteller, der Handel und natürlich die Medien. Die Hersteller und Händler brauchen die Medien, die Medienvertreter Themen. Wenn der Kreislauf erst einmal gestartet ist, dann müsste er sich schnell stabilisieren und immer größer und größer werden. Ärzte bringen sich ein und Sozialpädagogen werden befragt. Es gibt quer durch die Gesellschaft kritische Positionen, mit denen die Hersteller/Händler durch investigative Journalisten konfrontiert werden. Köche treten auf, die die Integration von Surströmming in eine ausgewogene, in eine günstige und schnelle und in eine exquisite Küche vorführen. Lebensmittelproduzenten entwickeln Ergänzungsprodukte und stellen ihr Angebot Surströmming optimiert um. Jeden Tag wird in den Nachrichten von neuen Entwicklungen berichtet und die Aktionen für oder gegen Surströmming in Talk-Shows reflektiert. Konsumentenbefragungen werden regelmäßig durchgeführt, die zeigen, welcher Händler/Hersteller aktuell besonders beliebt ist und warum. Dazu äußern sich die Hersteller/Händler mal kritisch mal zustimmend und betonen, dass sie bei aller Rivalität natürlich das gemeinsame Ziel verfolgen, das Allerbeste vom Schlechten zu liefern, den einigermaßen genießbaren Surströmming. Natürlich bekommen Surströmming Hersteller und Händler prozentual zu ihrem Marktanteil Subventionen zur Stärkung ihres schwer verträglichen Produkts und eine flächendeckende Vermarktungsinfrastruktur mit tausenden von Staatsbediensteten wird bereitgestellt. Der selbstlose Einsatz von Herstellern und Händlern in den verschiedenen Surströmming Gremien wird mit sogenannten Diäten entlohnt (- bei Surströmming ja durchaus empfehlenswert!).

Inzwischen sind Jahrzehnte Surströmming-Einführung vergangen. Ganze Berufsgruppen haben sich ihr gewidmet. Das Ergebnis ist bei allem gigantischen Aufwand immer noch verbesserungsfähig. Es muss immer noch viel populistischer Widerwille überwunden werden, um das, was zum Himmel stinkt, genießbar erscheinen zu lassen. (Wie sich populistischer Unwillen freien Lauf lässt, kann man z.B. hier sehen:

Was hat das alles mit Nicht-Wählen zu tun? „Was man nicht selber weiß“, lieber Leser, „das muss man sich erklären!“ Und wer Surströmming liebt oder ihn zumindest aus Pflicht mit aufgesetztem Lächeln isst, der kann sich da vielleicht wirklich keinen Reim drauf machen.

Aber apropos: Berufsgruppen. Noch ein Wort zu etwas ganz anderem, nämlich einer mit Surströmming völlig unvergleichlicher Abneigung, der gegen bestimmte „Berufsgruppen“. Welchen Leuten misstrauen wir am meisten? Söldnern und Waffenhändlern, Immobilienspekulanten und milliardenschweren KGB-Gewinnlern? Hmm, natürlich, aber weltweit stehen andere „Leute“ in unserer Verachtung besonders hoch: Politiker. Vielleicht auch deshalb, weil sie manches in Personalunion ausüben oder jedenfalls oftmals kräftig fördern und bestärken. Nehmen wir die Waffenhändler. Wir müssen hier gar nicht auf die National Rifle Association in Trump-di-dump gucken. Unsere Experten von Rheinmetall, Knaus-Maffei, Heckler & Koch und wie sie alle heißen sind auch nicht schlecht vernetzt. Mit gigantischem Aufwand suchen sie Einfluss zu nehmen. Bei wem? Ach so, „der Politik“?! Einfluss haben sie natürlich keinen – und wenn dann nur auf gewissenlose Populisten. Worin besteht noch mal der Unterschied zwischen demokratischen Politikern und Populisten? Solche die durch gute Wähler und solche die durch schlechte gewählt werden?

Die Verachtung der Politik findet sich übrigens nicht zuletzt in den westlichen Demokratien. Komisch, wo doch gerade in ihnen die Macht vom Volke ausgeht und Politiker doch Volksvertreter sind, oder? Komisch. Das soll ja am Populismus liegen. Trump und Erdogan, HC, Le Pen und all die anderen Knalltüten reden, sagt man, dem Volk nach dem Mund und gewinnen dann plötzlich – man kann sich einfach nicht erklären warum. Die repräsentative Demokratie ist ja „alternativlos“. Na ja, auch wieder nicht. Denn die Populisten gefährden sie ja mit irgendwas. Und dann gibt es ja andere Möglichkeiten. Aber eben keine guten? Gut für wen? Für das Volk, von dem die Macht ausgeht – hihihi? Dem Volk muss geholfen werden, es muss repräsentiert werden. Es geht ihm gut, wenn es seinen Volksvertretern gut geht. Deshalb müssen wir wählen und die Abgabe der Macht bestätigen. Alle vier fünf Jahre wieder. Wie gesagt: unsere Volksvertreter versichern uns, dass es ohne sie als „Repräsentanten“ nicht ginge. Darauf können wir uns verlassen. Die Frösche würden, wenn es zum Wohl des Volkes sein müsste, den Teich bestimmt trocken legen. Dafür haben wir sie ja schließlich gewählt, oder?

Ganz ehrlich, das alles ist absurder als vergammelter Fisch in Dosen, und stinkt noch mehr als Surströmming. Wir glauben den Volksvertretern vor der Wahl nicht, wir durchschauen ihre Ausreden nach der Wahl und wissen, was wir von ihnen zu halten haben: jedenfalls nicht viel. Dabei machen wir keinen Unterschied zwischen den populistischen und den „anti-populistischen“ Volksparteien Volksvertretern. Die populistischen Prols wählen wir nur, um den anti-populistischen zu zeigen, was wir von ihnen halten. Von allen Wahlen ist die Europawahl vielleicht die absurdeste. Natürlich ist die nächste immer eine Richtungswahl. Es geht verantwortungslos um alles. Kommt lasst uns Brexit toppen: Eurexit? Universexit! Und weil’s so wichtig ist, wählen wir am besten nicht. Man darf einem Verwirrten keine Waffe in die Hand geben, meinte Platon. Und er hat wie fast immer recht. Das meint wohl auch sein Freund und Bewunderer Serdar Somuncu:

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