Natürlich war ich Mitherausgeber einer Schülerzeitung. Es gab eigene Gedichte – oder sagen wir besser in verkürzten Zeilen formulierte Empfindungsfeierlichkeiten. Ich dachte und schrieb – jedenfalls versuchte ich es – wie Arno Schmidt. Der freilich galt als unpolitisch. Anders als Enzensberger. Der war als Vorbild tauglich. Nur Vorbilder waren aus der Mode – als intellektuelle Avantgarde aber war er OK.
Das waren die späten Siebziger. Und deshalb musste natürlich auch das Oberstufen-Gedicht von Enzensberger besprochen werden. Das müsste damals im sogenannten JUSO-Biber erschienen sein – im Kulturteil, den’s natürlich nicht gab, weil alles politisch war, und deshalb auch auf der mittigen Doppelseite des im Offset-Drucks produzierten Hefts erscheinen durfte. Das war ziemlich überflüssig. Denn auch unsere Deutschlehrer waren mehrheitlich links und Enzensbergers Lob der Fahrpläne wurde natürlich (!) auch im Unterricht behandelt. Enzensberger hat später selbst angedeutet, dass er selbst darauf spekuliert hatte, „Ins Lesebuch für die Oberschule“ zu kommen. Das war schließlich ein Selbstvermarktungsgedicht für links-liberale Deutsch-Leistungskurs-Lehrer.
Das Gedicht war 1959 in der „Verteidigung der Wölfe“ erschienen. Wir waren also nicht gerade zeitgemäß. Wir arbeiteten nach, was Enzensberger den 68iger „vorgeschrieben“ hatte und was wir nun im Chor mit unseren 68iger Lehrern wiederholten. „Die Furie des Verschwindens“ hält uns 1980 entgegen, wir hätten’s wohl nicht verstanden:
„Die furchtbare Nachricht lief über den Ticker,
wurde zur Kenntnis genommen und archiviert.
Widerstandslos, im großen und ganzen,
haben sie sich selber verschluckt,
die siebziger Jahre …“
Unserer mit „Nachsicht zu gedenken“ wäre laut Enzensberger deshalb wahrlich „zuviel verlangt“.
Wenn ich heute seinen Gedichtband von 1980 wieder lese, dann bringe ich die Nachsicht mit, die ihm gebührt. Vieles liest sich heute … na, sagen wir … schon etwas verbraucht. Aber den Hinweis auf die Alterserscheinungen würde Enzensberger vermutlich als Kompliment nehmen, In „Früher“ rät er dazu, die Fotos, die das Alte konservieren wollen einzupacken:
„Ich verlasse mich lieber
auf die Vergänglichkeit:
Sie lässt keine Rührung
aufkommen, ist beharrlich
und macht vor nichts halt“
Vieles von dem, was „Die Furie des Verschwindens“ zum Ausdruck bringt, ist vielleicht tatsächlich frei nach Hegel die „Zeit in Versen erfasst“. Aber anderes weist weit über sie hinaus. Es gibt ganz wunderbare, unschuldige Zeilen, die wie die ersten des „Ein Treppenhaus“ in nuce eine ganze Geschichte erzählen:
Wenn Du nach Dublin kommst, sagte sie damals,
die Adresse hast Du ja. Also sitze ich hier
…
Am liebsten bliebe ich hier, summend,
im Treppenhaus, bis der Bulldozer kommt.
In „Die Dreiunddreißigjährige“ sagt er von ihr
Von Männern lässt sie sich nichts gefallen.
Jahrelang war sie Trotzkistin, aber auf ihre Art.
Er mag die Vergänglichkeit noch so loben, sich noch so sehr wehren, etwas „Überzeitliches“ geschrieben zu haben, Gedichte wie „Der Ablaß“, „Das Falsche“ oder das Titelgedicht „Die Furie“ gehören dazu. Sie sind politisch, weil sie das zeitlos Politische in Verse schicken.
Ihr wisst nicht, wovon ich rede. Klar.
Ihr glaubt, es hätte etwas mit Raten zu tun,
mit dem Numerus clausus oder mit dem Finanzamt.
Kein Wunder. An den Tankstellen und im Knast
und in der Diskothek wird kein Ablass gewährt.
…
Eine veraltete Redensart,
weiter nichts. Und dennoch möchte ich sie
euch gern überliefern, nur so, diese Zauberformel,
weil sie beinah vollkommen ist: Vollkommener Ablass
aller zeitlichen und ewigen Strafen.
Übrigens, wenn es an mir wäre, ihn zu gewähren,
ihr armen Schweine, er wäre euch sicher.
Brauchen wir’s nicht, das neue Forschungsfelds des im Gedicht genannten Freunds
die Fehlerlinguistik. Ja,
da hätte man viel zu tun.
Als Laie kann ich mir kein Urteil erlauben,
doch ich habe den Eindruck;
die Fehler vermehren sich
…
Falsches Bewusstsein, sagen die Philosophen.
Wenn es nur das wäre.
Enzensberger unterscheidet bei Intellektuellen zwischen Maulwürfen und Störchen. Den einen geht es nur um eins: sie graben beständig und fokussiert der einen Sache nach, die sie gefangen hält. Kafka ist so ein Maulwurf. Enzensberger sieht sich als Storch. Er stakst etwas stolzierend den Deich entlang, holt sich die fettesten Frösche und gibt bei Gelegenheit, das eine oder andere Gedichte zum Besten, das dann bei uns aufwachsen muss. Unter diversen Pseudonymen hat er sich dabei versteckt. Schmuzelnd zum Teil und zum Teil schenkelklopfend lachend haben wir Andreas Thalmayrs Fake Poems im Wasserzeichen der Poesie gelesen und uns dann doch geärgert, wenn er mit seiner gewitzten Feder auch die eigenen Poesie-Helden nicht außen vor gelassen hat.
Adorno hat Enzensberger als einen der wenigen „Dichter in dürftiger (Nachkriegs-)Zeit“ anerkannt. Aber Enzensberger lässt sich nicht auf die, wie er sagt, „asoziale Arbeit“ des Dichtens reduzieren. Das Gedicht ist ihm als Form der Begrenzung der Kern seines Schreibens. Aber er ist in Nebenberufung Essayist, Übersetzer und nicht zuletzt Herausgeber. Er war es z.B., der das „Kursbuch“ des Aufbruchs in ein neues bundesrepublikanisches Selbstverständnis herausgegeben hat.
In „Die Furie des Verschwindens“ findet sich ein Gedicht, das, weil es leider wohl nicht auf mich passt, ganz gut das „Vorbild“ beschreibt.
Der Fliegende Robert
Eskapismus, ruft ihr mir zu,
vorwurfsvoll.
Was denn sonst, antworte ich,
bei diesem Sauwetter! –,
spanne den Regenschirm auf
und erhebe mich in die Lüfte.
Von euch aus gesehen,
werde ich immer kleiner und kleiner,
bis ich verschwunden bin.
Ich hinterlasse nichts weiter
als eine Legende,
mit der ihr Neidhammel,
wenn es draußen stürmt,
euern Kindern in den Ohren liegt,
damit sie euch nicht davonfliegen.
Es dauert ja nicht mehr lange, nur noch ein paar Tage, dann bist Du 90, parteiloser Genosse. Ich schreib’ schon mal. Google findet’s dann eh erst später. Und es bleibt uns dann die Zeit, etwas von Dir zu lesen: Dir zur Ehre und uns zur Belehrung. Am 11. November müsste es dann für die Furie des Verschwindens zum Fraß bereitstehen.
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