Inside Kakanien I 60: Auch das Elend muss rein sein

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Das Elend, soll ihm geholfen werden, muss schon ein wenig mithelfen. Es muss sich als unschuldiges Elend zeigen. Die Guten suchen nach einer wirklich guten Sache, um sich hervorzutun. Es gibt das „reine“, unschuldige Unglück und die Masse der anderen, für die es bezeichnend ist, „daß sie nicht nur eine minderwertige Gesundheit, sondern auch noch eine minderwertige Krankheit haben“ und also nichts, an dem man sich auszeichnen kann. Die Natur ist per se unschuldig, der Mensch – mit wenigen Ausnahmen – für sein Tun verantwortlich. Bei krebskranken Kindern oder Naturkatastrophen, da ist alles klar, da muss man helfen und braucht sich keine Gedanken zu machen, was in den Häusern, die von sich auftuenden Erdspalten verschluckt werden, alles passiert ist. Aber bei Prekariatsfamilien? Da muss man fördern und fordern und durch Strafen helfen. “It’s a damn shame what the world’s gotten to”, beklagt sich so mancher Trump Wähler und schiebt es dann auf „these rich men north of Richmond”. Davon grenzen wir uns klar ab. Wir sind klar gegen Rechtsextremismus, transphobe Einstellungen und aktive und passive Klimaleugnung. Dass es ihnen nicht gut geht, das mag sein, aber dann müssen sie halt selbst mal „aufwachen“.

Die Natur“, meint Musil, „hat eine merkwürdige Vorliebe dafür, solche Personen“, die weder ganz unschuldig noch ganz schuldig sind, „in Hülle und Fülle hervorzubringen; natura non fecit saltus, sie macht keinen Sprung, liebt Übergänge und hält auch im großen die Welt in einem Übergangszustand zwischen Schwachsinn und Gesundheit.“ Das prägt auch die „Natur“ der Gesellschaften à la Kakanien. Die Guten und Gerechten, vor allem „die Jurisprudenz“ nimmt davon keine Notiz. Sie sagen: „non datur tertium sive medium inter duo contradictoria, zu deutsch: der Mensch ist entweder imstande, rechtswidrig zu handeln, oder er ist es nicht, denn zwischen zwei Gegensätzen gibt es nichts Drittes und Mittleres. Durch diese Fähigkeit wird er strafbar, durch diese seine Eigenschaft der Strafbarkeit wird er Rechtsperson, und als Rechtsperson hat er teil an der überpersönlichen Wohltat des Rechts.

Denen in ihrem Leben übel mitgespielt wird, sind immer noch „zurechnungsfähig“ und damit straffähig. Sie leben in „Zuständen“, die „es ihnen erschweren, ‚unsittlichen Antrieben‘ zu widerstehen und den ‚Ausschlag zum Guten‘ zu finden“, aber entscheidend ist doch der „Entschluß zur Straftat“ und der Mangel an Einsicht. Musil und Frau Herrmann, Richard David Precht, Ta-Nehisi Coates und Judith Butler kann man sich auf Bildungsgutschein auch in der Stadtblibliothek ausleihen und muss nicht zu Instagram, TikTok oder gar Telegram flüchten. Die „Nicht-Priveligierten“ müssen einfach wach werden, sich der politischen Rechtsordnung und damit in ihr Elend zu fügen, dann könnte man sie vielleicht durch Sozialhilfe unterstützen. Aber so … kein Bürgergeld für Ungeimpfte, Carnivoren und Leute, die behaupten es gäbe nur zwei Geschlechter. Wir würden ihre „unsittlichen Antriebe“ und die Delegitimierung der Guten nur unterstützen.

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