Adolph von Menzel: Ratte in der Gosse– Gouache, 1863 – (Wikimedia) – Vergrößern
Europa hat sich im Kampf gegen eine Pandemie in eine gesamtgesellschaftliche Quarantäne versetzt. Ein literarisches Vorbild ist Albert Camus’ Roman die Pest. Er erzählt, wie in einer „modernen“ Stadt die Pest ausbricht und ihre Bewohner, zur städtischen Quarantäne verurteilt, versuchen der Seuche und ihrem Leben mit ihr Herr zu werden. Der Roman ist ein Kammerspiel in fünf Akten und konzentriert das Geschehen auf wenige („grund-sätzliche“) Akteure. Die Entwicklung, Steigerung und Auflösung der dramatischen Ereignisse folgt dem Ablauf eines „mythologischen“ Jahres: Die Exposition mit dem Beginn der Pest im Frühling (I), ihrer sommerlichen Steigerung (II) und ihrer spätsommerlichen Krisis (III) („Es ist Zeit, dass es aufhört.“ (119)), der herbstlichen Abkühlung im schmerzlichen Verlust der letzten (menschlichen) Wärme (IV) und der Auflösung der Pest in der winterlichen Erstarrung einer neuen Normalität (V). Der „mythologisch“-allegorische Charakter des Romans wird seinem Motto ausgewiesen: „Es ist ebenso vernünftig, eine Art Gefangenschaft durch eine andere darzustellen, wie irgendetwas wirklich Vorhandenes durch etwas, das es nicht gibt.“
„Pest“ steht für etwas Anderes als „nur“ für die durch das Bakterium Yersinia pestis ausgelöste Krankheit; sie „ist“ eine Metapher für einen Weltzustand, der dem durch die verheerende Krankheit ausgelösten gleicht. Die Pest ist das, was wir aus uns machen, wenn so etwas wie die Pest über uns kommt. Bereits den ersten Lesern im Jahr 1947 haben die „Pest“ als Auseinandersetzung mit der Besetzung Frankreichs durch Nazi-Deutschland verstanden, ein Bild für ein „Überlebens“-Konzentrationslager unter der unmenschlichen Herrschaft einer technischen Bürokratie. Die „Pest“ stellt dabei vor existentielle Entscheidungen, die zeigen, wie wir uns und unser Zusammenleben verstehen.
Leben und Sterben
Was ist das für eine Stadt, in der die Pest ausbricht? „Eine bewährte Art, eine Stadt kennenzulernen, besteht darin, herauszufinden, wie ihre Bewohner arbeiten, wie sie lieben und wie sie sterben.“ Vieles von dem, was Camus beschreibt, ist uns „Modernen“ nur zu vertraut. „Unsere Mitbürger arbeiten viel, aber nur, um reich zu werden… Sie sparen das Vergnügen sehr vernünftig für den Samstagabend und den Sonntag auf und versuchen, während der übrigen Woche viel Geld zu verdienen.“ Jenseits der Arbeit ist organisierte Vergnügung, Kulturindustrie. Die Bewohner der Pest-Stadt vertreiben sich die Zeit, die ihnen zum Leben bleibt „,beim Kartenspiel, im Café oder im Geschwätz“ – heute würde man wohl Fernsehen und Internet-Vergnügen aller Art ergänzen. Es ist „offensichtlich eine Stadt ohne Ahnungen, das heißt eine ganz moderne Stadt“.
Die Liebe ist klein, privat und modern. Männer und Frauen „verzehren sich … hastig im sogenannten Liebesakt oder sie geraten in die Gleichförmigkeit eines langen Lebens zu zweit“. Sie ist triebhaft gleichgültig – keine Lebensform, eher eine Umweltbedingung.
Und das Sterben? Sterben die Menschen in dieser Stadt gelassen oder gehetzt, liebend oder technisch vermessen? Hand in Hand mit menschlichem Antlitz oder als Gegenstand einer Überlebensmaschine? Sterben oder verenden sie? Das Sterben ist „schwierig“ in dieser Stadt. „Krank sein ist nie angenehm; aber es gibt Städte und Länder, die einem in der Krankheit beistehen, wo man sich gewissermaßen gehenlassen kann.“ „Ein Kranker“, meint der Erzähler, der sich am Ende als Dr. Rieux zu erkennen gibt, „ein Kranker braucht Freundlichkeit“ – in dieser modernen Stadt freilich, „verlangt alles Gesundheit“ und so „wird man verstehen, wie ungemütlich [inconfortable] der Tod, auch der moderne Tod sein kann, wenn er einen an solch gefühllosem Ort ereilt“. Darum also geht es: um die Heimatlosigkeit des Lebens und Sterbens, die diese Stadt hervorbringt.
Die Stadt der Pest
Die Pest ereilt die Stadt, die sie hervorbrachte und der sie angehört. „Es war, als wolle die Erde, auf der unsere Häuser standen, sich selber von der Last ihrer Säfte befreien, so dass die Eiterbeulen, die sie bisher innerlich geplagt hatten, nun aufbrachen. Man stelle sich das Entsetzen in unserer kleinen Stadt vor, die bis jetzt so ruhig gelebt hatte…“ Und nun kommt die Pest in dieses städtische Gemeinwesen. Die Todeszahlen steigen. Man ahnt Schlimmes, hält aber für undenkbar, dass sich so etwas in einer modernen Stadt in modernen aufgeklärten Zeiten ereignen könne. „Man muss die Dinge beim Namen nennen!“, hieß es schließlich. „Aber bei welchem Namen?“ Man diskutierte unter den Fachleuten und fand zunächst „dass man sich nicht ins Bockshorn jagen lassen dürfe: es handle sich um ein Fieber mit Komplikationen in den Leisten, das sei alles, was man sagen könne, da in der Wissenschaft wie im täglichen Leben alle unbegründeten Annahmen gefährlich seien“.
Die einen mögen sich dabei vielleicht an die „verharmlosenden“ Anfänge der COVID-19 Epidemie erinnern. Die anderen an die Selbstsicherheit der modernen Gesellschaft, die es möglich machte, dass der Faschismus sich auf leichten Füßen im Land der „Dichter und Denker“ und nach der Besetzung Frankreichs im Land des „Esprit“ einnistete.
Aufschluss gibt das Ende der Pest-Geschichte im Roman. Im Winter zieht sich die Pest so plötzlich zurück wie sie im Frühjahr gekommen war. Was Camus beschreibt erinnert ans befreite Paris von 1944: „Auf allen Plätzen wurde getanzt… Die Glocken der Stadt läuteten den ganzen Nachmittag mit aller Kraft.“ Die Ausgelassenheit des Jubels wird allerdings „der Ungerechtigkeit des Glücks“ nicht gerecht und geht mit einer Leugnung einher, die „die wahre Befreiung“ nicht zu sehen vermag: „Sie leugneten in aller Ruhe und wider jeden Augenschein die Tatsache, dass wir je die wahnwitzige Welt gekannt hatten, in der die Ermordung eines Menschen ebenso alltäglich war wie der Tod der Fliegen. Sie leugneten jene ganz besondere Verwilderung, jene berechnete Raserei, jene Gefangenschaft, die eine entsetzliche Freiheit gegenüber allem, was nicht die Gegenwart war, mit sich brachte, jenen Todesgeruch, der alle, die er nicht tötete, betäubte. Sie leugneten schließlich, dass sie jenes erstarrte Volk gewesen waren, von dem jeden Tag ein Teil in den Rachen eines Ofens geschmissen wurde und in zähem Qualm aufging, während der andere Teil, von Ohnmacht und Angst gekettet, wartete, bis die Reihe an ihn komme.“
Auf der Suche nach Sinn
Im Mittelpunkt des Geschehens steht der Arzt Dr. Rieux, der sich aufopferungsvoll um die Erkrankten kümmert. Dem sinnlosen Sterben will er als Mensch entgegentreten. Es geht ihm nicht um Heilung, denn die ist nicht in Sicht. Es geht um Linderung und palliative Zuwendung. Er kann und will nicht auf die Rettung von „außen“, durch ein Serum oder eine Geheimwaffe warten. Das Leben ist jetzt – und vor allem ist jetzt Sterben. Das Absurde lässt sich nicht totwarten. Der Kampf gegen das unsägliche Leid und Elend fordert Anteilnahme und liebende Begegnung im Kampf gegens Absurde.
Rieux verkörpert den „Menschen in der Revolte“, dessen Dasein von seelenlosen Kräften umhergeworfen wird, denen kein Sinn abzugewinnen ist. Er kann seinem Dasein nur durch die Revolte Sinn „verleihen“, sich gegen die Sinnlosigkeit des menschlichen Elends aufzulehnen. „Ich revoltiere also bin ich“, heißt es in Camus „Der Mensch in der Revolte“ Menschsein „heißt“ sich gegen den Un-Sinn des Daseins zu stemmen.
Sein „Gegenspieler“ ist der gottesfürchtige Jesuitenpater Paneloux, der in der Rolle des Bußpredigers die Pest als Strafe Gottes versteht: „Bedenkt das und fallt auf die Knie.“ Das ist uns denkbar fremd. Wie könnten Kinder für etwas bestraft werden, was sie nicht begangen haben? Wie könnte man mit Blick auf die Pest überhaupt von Schuld sprechen? Das ist die alte Rede von der Erbschuld. Für Rieux ist das unerträglich,
Tatsächlich sind die beiden weit weniger voneinander entfernt als sie meinen und nicht zuletzt der Leser glaubt: Der Prediger sieht im Arzt den Gesundheitstechniker, der den Menschen ent-seelt, ihn zu einer seelenlosen Masse reduziert, die „behandelt“ werden müsse. Die „Pest“ ist ein Teil seiner Existenz, etwas, das zur conditio humana gehört. Bezwingen lässt sie sich nur durch Erhebung und das heißt einer Anerkennung der eigenen Sterblichkeit, der man einen unsterblichen Sinn entgegensetzt.
Rieux hält das für Gerede und fordert dagegen tätige Zuwendung. Doch Rieux ist nicht als Arzt, sondern eher als Seelsorger tätig. Seelsorge ist tätig, sie ist wirkliche Zuwendung im Aushalten der Unsinnigkeit des qualvollen Sterbens. Seelsorge – auch die des predigenden Paters – muss die Kanzel verlassen und sich dem Elend der Sterbenden zuwenden. Paneloux stellt sich schließlich mithelfend an die Seite Rieux und Rieux‘ ärztlicher Dienst ist vor allem einer für die Seele. Die Heilung kann nicht von außen kommen. Wenn Paneloux die Pest als Strafe Gottes versteht, dann sagt er damit nichts anderes als Rieux: es geht um den Aufstand gegen die Entwürdigung: in der Revolte des Glaubens oder in der Revolte des Sinns, der gegen die unsinnige Existenz zu setzen ist. Es gilt in der Aussichtslosigkeit der Existenz die Würde zu wahren, die der Mensch seinem Sein zu geben vermag.
Die politische Pest
Die Pest fordert das heraus. Das gilt für die „natürliche“ und die „gesellschaftliche“ Pest gleichermaßen. Rieuxs alter ego ist der „politische“ Tarrou. Er organisiert die „Resistance“ der Freiwilligen, die schnell Zulauf bekommt und erfolgreicher agiert als die per Verordnung verpflichteten Hilfskräfte.
Eine der eindringlichsten Passagen des Romas ist die Schilderung des Todeskampfes eines Kinds, dem Rieux hilflos zusehen muss. Der schmerzhaften Eindringlichkeit der Schilderung kann sich der Leser nicht entziehen. Tarrou stellt dem ein Erlebnis zur Seite, mit der er Rieux seine Haltung zur Pest verständlich machen will und das den Leser nicht weniger erschüttert: in der Hinrichtung Verurteilter, der er beiwohnt und die er in so „gnadenlos“ wahrhaftiger Form schildert, dass dem Leser die Absurdität förmlich anspringt. Die Pest des Absurden zeigt sich im Politischen und erklärt seine Form der Revolte: „Sagen wir der Einfachheit halber, Rieux, dass ich an der Pest litt, lange bevor ich diese Stadt und diese Epidemie kennenlernte. … Deshalb ging ich zur Politik … Ich wollte kein Pestkranker sein …“ Für ihn sind nicht die Ratten die „Superspreader“, „die großen Pestträger“ sind andere, nämlich „jene, die rote Talare anziehen“. Aber auch die kommen nicht von ungefähr: „ich habe gelernt, dass wir alle in der Pest sind … dass jeder die Pest in sich trägt, weil kein Mensch, nein, kein Mensch auf der ganzen Welt frei davon ist“.
Der politische Charakter der Pest wird von Camus durch sein im Folgejahr erschienen Stück „Belagerungszustand“ noch deutlicher gezeigt. Hier ergreift die Pest das Gemeinwesen durch Verordnungen und errichtet eine Tyrannei der Furcht. Einzig Diego stellt sich dem Regime entgegen. Er ist Arzt und zugleich Kopf der politischen „Resistance“ und vereinigt in einer Person, was sich im Roman durch das Verhältnis von Rieux und Tarrou kundtut: aus den „Nachbarn“ werden Freunde und damit gleichsam „eins“. Die Pest ist eine politische Krankheit.
Verpestete Lebensformen
Die Menschen verfallen ihr durch ihre Lebensangst und durch die Leugnung, dass sie aus ihrer Lebensform erwächst. Wurde die Pest anfänglich unterschätzt wurde, so hoffen im Sommer viele, „die Seuche werde aufhören und sie und die ihren verschonen…“, sie fühlen sich „zu nichts verpflichtet“: „Die Pest war für sie nur ein unangenehmer Besuch…“
Man hofft auf ein Serum und auf ein wirksames Medikament, um der Sache „von außen“ technisch Herr zu werden und sein Leben unverändert fortführen zu können. Alle „schlossen sich ein in die Pest“. Sie waren der Pest… anheimgefallen…“ und „die Pest hatte die Werturteile abgeschafft“. Das eigentliche „Unglück“ besteht nach Rieux darin, „dass die Gewöhnung an die Verzweiflung schlimmer ist als die Verzweiflung selbst.“ Camus zeigt uns den alten Cottard, der am Leben verzweifelt einen Selbstmordversuch beging und in der Pest als Schmuggler zum nihilistischen Pest-Gewinnler wird. Die Pest entspricht seiner Lebensform.
Flucht ins Exil
Wer sich nicht einrichten will, der denkt an Flucht: „Und während die einen ihr kleines Leben weiterlebten und sich der Einkerkerung anpassten, begann der Gedanke an Flucht aus diesem Gefängnis andere völlig zu beherrschen.“ So den Journalisten Rambert, der im Roman die größte Entwicklung durchleidet. Er ist fremd in der Stadt und will zurück zu seinem alten, glücklichen, pestfernen Leben mit seiner geliebten Frau. Zwischen ihm und Rieux entspinnt sich die Auseinandersetzung um den Anspruch auf persönliches Glück und der Verpflichtung fremdes Elend zu lindern. Die Zahl der Erkrankten und Hilfsbedürftigen steigt wie die Anzahl der Toten. Doch der Blick auf die Zahl ist abstrakt. Jeder Tote zählt, aber er zählt „abstrakt“ unter Absehung dessen, was ihn und sein Leben, sein Glück oder Unglück ausmacht. Die Frage, wie ich leben will, kann sich nicht aus der Anzahl der Opfern von politischen oder natürlichen Katastrophen herleiten. Für Intellektuelle in und außerhalb Frankreichs bot sich die (innere oder äußere) Emigration gegenüber der aktiven Resistance an. Welche Verpflichtung sollte ein französischer Lyriker haben, sich den deutschen Besatzungsmächten entgegenzustellen, wenn er emigrieren konnte?
Rambert hat Recht, dass das Elend sich nicht aus der Zahl der Toten versteht, sondern nur aus der Erfahrung gelebten Glücks. Wer Freiheit und Glücks nicht zu erfahren vermag, dem wird auch das Elend nicht angehen. „Für die Verpesteten ist der menschliche Schlaf wichtiger als das Leben.“ Rieux freilich hat darin Recht, dass sich wirkliche Freiheit und wirkliches Glück nur in der menschlichen Existenz finden, die ihre Sterblichkeit und das Ausgeliefertsein ans unsinnige Elend annehmen kann. Menschliches Glück ist wirklich nur „in der Revolte“ gegen die Pest. Rambert schließt sich deshalb Rieux an, erkrankt wie Rieux nicht an der Pest und überlebt „gereift“.
Ende gut – alles gut?
Schließlich versiegt im Winter die Pest. „Alle waren sich darin einig, dass die Annehmlichkeiten des früheren Lebens kaum mit einem Schlag zurückkehren würden und dass es leichter sei zu zerstören, als wieder aufzubauen.“ Alle reden von der „Rückkehr zu einem normalen Leben“ – „’aber was heißt Rückkehr zu einem normalen Leben?’ ’Neue Filme im Kino’, antwortete Tarrou lächelnd.“ Alles könnte schon im nächsten Jahr wieder von vorne losgehen: „Während Rieux den Freudenschreien lauschte, die aus der Stadt empordrangen, erinnerte er sich nämlich daran, dass diese Fröhlichkeit ständig bedroht war. Denn er wusste, was dieser frohen Menge unbekannt war, und was in den Büchern zu lesen steht: dass der Pestbazillus niemals ausstirbt oder verschwindet, sondern jahrzehntelang in den Möbeln und der Wäsche schlummern kann, dass er in den Zimmern, den Kellern, den Koffern, den Taschentüchern und den Bündeln alter Papiere geduldig wartet und dass vielleicht der Tag kommen wird, an dem die Pest zum Unglück und zur Belehrung der Menschen ihre Ratten wecken und erneut aussenden wird, damit sie in einer glücklichen Stadt sterben.“
Wenn wir der „Pest“ für COVID-19 etwas abgewinnen können, dann dass wir sie nur bekämpfen können, wenn wir sie nicht technisieren, unsere Grundwerte in der menschlichen Begegnung bewahren und uns als sterbliche Menschen in Würde zu ihr verhalten. Besiegen lässt sich die „Pest“ nicht durch ein Serum oder technische Überlebensgestelle. Das gewährt allenfalls Aufschub. Sie wird durch Wahrung der menschlichen Nähe besiegt, zu der „der Mensch in der Revolte“ in seiner Lebensführung befähigt ist.
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