Inside Kakanien I 56: Familienähnlichkeiten

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Apropos Parallelaktion. Man muss gerade heute vorsichtig sein, darüber zu sprechen. Parallelaktionen sind beliebt. Was soll auch anderes gegen den Wahnsinn helfen?! Milliardäre werden immer reicher und die Armut wächst. Der Krieg wird zur Friedensmacht, die Grundrechte werden durch ihre Aufhebung verteidigt und der Kampf gegen Amalek zur Staatsräson[1] erhoben (Dtn 25, 19). 

lechts und rinks 
kann man nicht velwechsern:
werch ein illtum!

Echte oder gar große Probleme sind natürlich nichts für Parallelaktionen. Per definitionem. Parallelaktionen laufen parallel dazu, sind nebensächlich. Sie hängen in der Luft und schweben über der rauhen Wirklichkeit, ohne freilich grundlos zu sein. Die wahren Probleme sind in ihnen da, indem sie umgangen werden. 

Man sucht mit großer Geste Gemeinsamkeiten jenseits der gesellschaftlichen Konflikte. Alle, die es gut meinen, tun sich zusammen, um das Gute voranzubringen. Was immer das ist. Es gibt so viele gute Ideen. Sie fließen im Parallelaktionshauptausschuß der öffentlichen Meinung zusammen, um der guten Sache „die ‚haupsächlichsten‘ moralischen Kräfte des Landes geordnet und zusammengefaßt zuströmen zu lassen“. Wir TAZen uns, Sternchen für Sternchen, voran und canceln öffentlich rechtlich Dinge, die nicht wirklich gut, weil strittig sind. 

Aber es will so recht kein Ende nehmen: „Das ist alles ausgezeichnet“, muss man dann als Parallelaktionswilliger einräumen, „aber man kann nicht ja und nein sagen, solange wir über den Mittelpunkt unserer Ziele nichts Grundsätzliches wissen.“ Inside Kakanien vermerkt man die eingehenden Ideen mit dem Kürzel „Ass.“. „Diese Zauberformel Ass., die in den kakanischen Ämtern in Gebrauch war, hieß ‚Asserviert‘, auf deutsch soviel wie ‚Zu späterer Entscheidung aufgehoben‘ und war ein Vorbild der Umsicht, die nichts verloren gehen läßt und nichts übereilt. Asserviert wurde zum Beispiel die Bitte eines kleinen Beamten um eine außergewöhnliche Wöchnerinnenbeihilfe so lange, bis das Kind erwachsen und selbständig erwerbsfähig war, aus keinem anderen Grund als dem, daß die Materie bis dahin vielleicht gesetzlich geregelt sein konnte und das Herz der Vorgesetzten vorher die Bitte nicht abschlagen wollte; asserviert wurde aber auch die Eingabe einer einflußreichen Person oder Amtsstelle, die man durch Ablehnung nicht kränken durfte, obgleich man wußte, daß eine andere einflußreiche Stelle gegen ihre Eingabe war, und grundsätzlich wurde alles, was zum erstenmal an ein Amt herantrat, solange asserviert, bis ihm ein ähnlicher Fall voranging.“ Das Ringen um eine Parallelaktion ist selbst schon eine. „So ist Asservation eine der Grundformeln unseres Lebensgebäudes.

Gibt es überhaupt Aktionen, die keine Parallelaktionen sind? Ja, natürlich. Es gibt die Milliardäre, die immer reicher werden, die Kriege, die hunderttausende von Toten fordern und Milliardäre immer reicher machen, und die Pipelines, die in die Luft gesprengt werden, was viele ärmer und Milliardäre wieder reicher machen. Es gibt die Stoffe, zu deren Impfung genötigt wird, wenig helfen, vielen schaden, aber Milliardäre immer reicher machen. Aber das alles wird durch Parallelaktionen perfekt umgangen. Wenn ein Streifen Land totgebombt wird, dann kann man gegen Antisemitismus auf die Straße gehen. Und für LGBTQ+. Und gegen Asylrecht und Migration. „Rückführungsoffensiven“ und Remigration sind hübsche Parallelaktionen, die die guten Geister beschäftigen und die Milliardäre kalt lassen. Immer schön lechts gegen rinks.

In der Philosophie des 20. Jahrhunderts hat ein Ausdruck Karriere gemacht, dessen Bedeutung vielleicht immer noch unterschätzt wird: Familienähnlichkeit. Musil, der davon noch nichts wissen konnte und seine Bedeutung vermutlich auch nicht wirklich hätte beurteilen können, ist ihr doch bei der Beschreibung der Parallelaktion recht nahe gekommen. Im Zimmer eines Parallelaktivisten hängt ein Bild einer Dame, die offenbar „seiner Familie angehört“ und deren „junges gepudertes Gesicht“ dem des Aktivisten, der in die Jahre gekommen ist, „so ähnlich [ist] wie eine Fußstapfe in trockenem Schnee einer in nasser Lehmerde“. Aktion und Parallelaktion hinterlassen Abdrücke, die, wenn wir nicht genau hingucken und ihre Bedeutung in und für die Lebensform bedenken, links zu lechts und rechts zu rinks machen. 

 

[1] Weiß eigentlich irgendwer, was Staatsräson heißt? Ich fürchte nicht. Man redet halt so daher – vor allem die vom „Völkerrecht“ herkommen („Vom Hause her kommt er, Hühner, Schweine, ich weiß nicht, was haste? Kühe melken … ich komme eher aus dem Völkerrecht“). Das hatte man schon im 17. Jahrhundert beklagt: Man rede tagtäglich von Staatsräson, aber nur wenige hätten sich darüber Gedanken gemacht (de ratione status multi multa quotidie loquuntur et disserunt … sed, si rem ipsam inspicias pauci sunt, qui acu rem tangunt) (J. Textor, Tract. Iuris publici de vera et varia ratione status Germaniae modernae, 1667 – immerhin in Altdorf (!) erschienen, der damaligen Universitätsstadt Nürnbergs). Aber man kennt doch im Prenzlauer Berg Machiavelli, oder? Jedenfalls redet man, glaube ich, davon und wirft anderen vor „machiavellistisch“, gleich unmoralisch, zu sein. Im Anschluss Machiavelli bezeichnet Staatsräson nämlich den Vorrang des staatlicher Interessen gegenüber allen ethisch-moralischen Handlungsmotiven. Der Staat hat demnach das Recht (und – siehe unten – gar die Pflicht?), um Willen seiner Erhaltung alle anderen ethisch moralischen Werte hintanzustellen. Auf den Punkt gebracht: für den Staat heiligt der Zweck die Mittel.

In diesem Sinne hat am 18. März 2008 Angela Merkel in ihrer Rede in der Knesset dann auch von Staatsräson gesprochen: „Jede Bundesregierung und jeder Bundeskanzler vor mir waren der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels verpflichtet. Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar.“ Oh. Das ist ja schön gesagt. Die Bundesregierungen sind „der historischen Verantwortung“ verpflichtet … Es gibt also eine Pflicht zur Verantwortung!? Man hat nicht nur die Verantwortung, sondern muss sie übernehmen (auch wenn man vielleicht gar nicht will)? Die Verantwortung ist „historisch“? Das will wohl sagen, wir haben sie nicht „an sich“, sondern auf Grund unserer Vergangenheit. Weil etwas geschehen ist (getan wurde), muss nun für etwas die Verantwortung übernommen werden. Lassen wir das mal so stehen. Die „historische Verantwortung“ ist nun „Teil der Staatsräson“ und „nicht verhandelbar“, also unbedingt?! Die „Sicherheit Israels“ ist also bedingungsloses Ziel des staatlichen Handelns der Bundesrepublik?! Und als „Teil der Staatsräson“ verpflichtet sich die Bundesrepublik darauf, alles (!) für die „Sicherheit Israels“ zu tun – was auch kommen und was auch immer Israel tun möge?! Interessant, aber begrifflich jedenfalls korrekt.

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