Unterschiede der Kultur in Ost und West

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Für den 22. Juli war eine Premiere geplant. Man hatte das lange vorbereitet, einstudiert und geprobt. Das Kollektiv des Kirow-Theaters in Leningrad wollte Wagners Lohengrin geben. In deutscher Sprache. Man schreibt das Jahr 1941. Und dann? Die geschichtskundigen AntiFas dieses Landes wissen es natürlich: Die deutsche Wehrmacht griff am 22. Juli 1941 ohne Kriegserklärung die Sowjetunion an. Die Wehrmacht überschritt mit drei Millionen deutschen Soldaten die Grenze, brachte ca. 3.500 Panzer, 7.000 Geschütze und 3.000 Kampfflugzeuge zum Einsatz und führte noch in den Morgenstunden massive Kampfeinsätze gegen die sowjetische Militärflugplätze durch, bei denen rund sowjetische 1.500 Flugzeuge am Boden zerstört und die Lufthoheit gewonnen werden konnte. Das Ganze war wie die Leningrader Wagner Aufführung von langer Hand vorbereitet. Während das deutsche militärische Vorhaben gnadenlos voran stürmte, wusste man in Leningrad nicht, wie man mit dem künstlerischen umgehen sollte. 

Das Künstler-Kollektiv und die Stadtverwaltung wollten nichts falsch machen. Soll die Aufführung stattfinden oder doch lieber angesichts der dramatischen Entwicklung ausfallen. Man bemühte sich um eine Entscheidung von höherer Stelle und versuchte die Entscheidung durch einen hohen Partei- bzw. Militär entscheiden zu lassen. Alexander Kluge gibt in Lohengrin in Leningrad ein solches Gespräch exemplarisch wieder:

„Genosse Antonow [der Erste Sekretär des Stadtbezirks], wir sind bestürzt über das Unglück, das über unser Land gekommen ist.“ – 
„Nicht ganz richtig, Genossen Opernleiter, es wird ein Unglück über die Eindringlinge kommen. So muss man es weitergeben. ‚Sie haben sich auf etwas eingelassen, was sie noch nicht überschauen.“
„Sie sehen das optimistisch?“ –
„Unbedingt. Mehr weiß ich auch nicht.“ –
„Heute abend ist Premiere des ‚Lohengrin‘.“ –
„Ich weiß. Ich komme.“ –
„Ich frage deshalb, weil es ein deutsches Stück ist, gesungen in deutscher Sprache.“ –
„Wir sind nicht von Deutschen überfallen worden, sondern von Faschisten und Militaristen, die ihrerseits ihre Menschen unterdrücken. So muss man es weitertragen. Man könnte das vor Beginn der Vorstellung in einer Ansprache klarstellen. Eine Orientierung sozusagen.“

Aber auch der Parteisekretär will sich rückversichern. Die Aufführung droht in einem nächtlichen deutschen Luftangriff unterzugehen. Und dann ist der Lohengrin ja nicht irgendeine deutsche Oper. Seine Story ist gerade angesichts des Angriffs der Deutschen, na sagen wir mal, nicht unproblematisch. Sie spielt nämlich am Hof Heinrichs I., der gerade Truppen für einen Feldzug nach Osten gegen die Hunnen sammelt! Und Wagner gilt als Antisemit und wird von Hitler geschätzt. Zugleich ist der Lohengrin aber ein Entwicklungsschritt vom politischen Wagner zum Wagner des Gesamtkunstwerks, in dem die politische und soziale zu einer neuen künstlerischen Wirklichkeit aufgehoben wird. Der Lohengrin will vor allem eins sein: Kunst, große Kunst. Und so nennt Joachim Kaiser in seinem Leben mit Wagner von 1990 den Lohengrin, die Oper der Opern (Kapitel 3). Antonow sucht also vorsorglich den Genossen Shdanow auf, den starken Mann Leningrads, der freilich gerade mit anderen Dingen beschäftigt ist, nämlich zum Oberbefehlshaber der nördlichen Streitkräfte unterwegs ist. Im Laufen gibt er ihm schließlich ziemlich unverbindlich reichlich merkwürdige Dinge zu bedenken. 

Antonow meistert die Lage. Er lässt die Aufführung mit einigen kuriosen Vorsichtsmaßnahmen stattfinden. Trotz des nicht uneingeschränkten Kunstgenusses ist die Aufführung ein Statement. „Es schien Antonow […] ein Zeichen des künftigen Sieges, daß der Krieg nicht sofort alles und jeden in Freund und Feind aufzuspalten vermag, sondern wenigstens für kurze Zeit, d.h. für einen Tag, ein besonderes Unterscheidungsvermögen erarbeitet werden konnte, das für einen Abend ins Leben trat: ein Raum zwischen Aggression und Kunst.“ Dazu war Deutschland im Jahre 2022 nicht mehr in der Lage. Alles Russische wurde verteufelt, gecancelt und entfernt – obwohl nicht die Deutschen angegriffen wurden und es für sie nicht ums Überleben ging. Das mag man ärmlich nennen oder gar erbärmlich. 

Cf. Alexander Kluge, Lohengrin in Leningrad, Premiere des Lohengrins am 22. Juni 1941 in Leningrad, in: ders., Chronik der Gefühle, Bd. 1 (2000), S. 60ff.