Was wurde da nicht gefeiert?

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Mauerfall 1989

Nicht alle haben die deutsche „Wiedervereinigung“ gewollt. Einige Nachbarn waren nicht so begeistert. Und auch nicht alle Deutschen – in West wie in Ost – sahen sie als ihr vorrangiges Interesse an. Woran lag die Skepsis selbst bei vielen politischen Freunden – man denke ans England Thatchers oder Frankreichs Zurückhaltung. Auch die Euphorie in unsere kleineren Nachbarstaaten war doch eher begrenzt. Der „Wiedervereinigung“ ging schließlich eine „Vereinigung“ voraus, mit der Europa nicht unbedingt die beste Erfahrung gemacht zu haben glaubte. Für diejenigen, die die Wiedervereinigung im letzten Jahr freilich überschwänglich gefeiert und uns mit einer medialen Flut von historisch-politischen Einordnungen und „Gedenklichkeiten“ überzog, müsste doch der 150. Jahrestag der deutschen Einigung zumindest einen Grund zu feierlichem Nachdenken geben. Davon ist nichts zu spüren

18. Januar 1871

Bismarck

Der 18. Januar 1871 gilt allgemein als der Gründungsakt des Deutschen Reiches.[1] Er wurde in Folge als „Reichsgründungstag“ begangen. Das ist am 18. Januar 2021 150 Jahr her. Das scheint der „kulturellen“ Öffentlichkeit keiner großen Aufmerksamkeit wert. Haben sie ihn vergessen? Oder wollen sie darüber einfach nicht reden und schreiben? Warum eigentlich nicht? Man hätte sich doch aufwändige Ausstellungen vorstellen können, Sonderbriefmarken, „History“ Sendungen rauf und runter und natürlich werbewirksame Sonderbeilagen in unseren Qualitätsmedien. Ganz anders sah das beim Jubiliäum des gescheiterten Vorgängers aus: als die 48iger Revolution sich 1998 zum 150zigten und das Hambacher Fest 2007 zum 175zigsten Mal jährte, feierte man geschichtsbewusst und kritisch feierlich, aber mit einem guten Schuss (uups) Begeisterung.

History Today

Ich gestehe, ich hätte nun die Reichsgründung auch fast übersehen. Ich will mal so sagen: So richtig im Thema drin bin ich nicht. Es musste erst History Today kommen, eine britische Zeitschrift zur Geschichte, um mich zu wecken: ach ja, stimmt, da war ja was. Sie stellt in ihrer Januar Ausgabe vier Historikern die Frage „Was German unification inevitable?“ Die Frage ist trickreich gestellt, weil sie zwar in der Erläuterung auf die „Vereinigung“ von 1871 anspielt, aber zugleich bewusst dazu einlädt, sie mit Blick auf die Wiedervereinigung von 1990 zu beurteilen. Und natürlich fragt sich der Brite: war denn das wirklich nötig und „unvermeidbar“?

Und tatsächlich reden Helene von Bismarck (welch’ ein Name zu dieser Frage!) und Joachim Whaley fast ausschließlich von 1990:

  • Helene von Bismarck möchte für 1990 gar nicht von einer „Wiedervereinigung“ sprechen[2] – vermutlich auch weil sie nicht von 1871 und 1919 sprechen möchte.[3] Nicht im Fall der Mauer 1989, sondern in der Entscheidung der Alliierten gründe die „Vereinigung“ von BRD und DDR. Puh, langweilig.
  • Was Joachim Whaley[4] sagen will, hab’ ich so recht nicht verstanden. Jedenfalls wollten viele inner- und außerhalb Deutschlands keine Wiedervereinigung „to prevent a return to the nationalism of the past“, dann ging aber alles ganz schnell. Bums. Wenn ich nichts zu sagen habe, paraphrasiere ich die Frage. Gut gemacht.

Len Scales und Maiken Umbach sprechen dann doch über 1871, aber nur Maiken Umbach will dazu wirklich was sagen.

  • Len Scales ist Professor für „Late Medieval History“[5] und sieht die Sache etwas „mittelalterlich“. Er führt die Zahlenreihen 1990, 1945, 1933,[6] 1919 und 1871 dann mit 1806 und 962 fort. Ja, ja: 1871 könnte man als „Wiedervereinigung“ verstehen, nämlich der Erneuerung des 962 von Otto I geschaffenen Heiligen Reichs Deutscher Nation, dem sogenannten Alten Reich, das 1806 mit der durch Napoleon erzwungenen Niederlegung der Reichskrone endete. Ob das alles wirklich „inevitable“ war, kann Len Scales auch nicht sagen, aber dass die deutschen Reiche immer – natürlich seit seiner „medieval history“, also immer – durch Pluralität von Herrschaftszentren geprägt war, das scheint ihm herausragend. „Disunited but stable unity, federated commonality, appears as a scarlet thread through centuries of German history.” Und 1990: “Disunited unity has come home.
  • An die föderale Länderstruktur knüpft auch Maiken Umbach an.[7] Aber sie spricht jetzt tatsächlich zum Thema. Nein, genau 1871 sei die Einigung nicht „inevitable“ gewesen. Das hing an geschichtlichen Ereignissen, die sich auch anders hätten ereignen können. Aber im größeren Zusammenhang des letzten Viertels des 19. Jahrhunderts sieht sie doch Kräfte am Werk, die auf eine staatliche Einheit drängten: neben wirtschaftlichen und infrastrukturellen (z.B. dem rasanten Ausbau der Verkehrsmittel) sind es nicht zuletzt die kulturellen Leistungen, die zu einem engen Zusammenschluss der einzelnen Länder drängten („so did the emergence of German print culture [and] a highly innovative education system“). Weniger die Staatsgründung „von oben“ als vielmehr „the dynamism of its constituent parts: individual German states such as Bavaria, Hamburg or Prussia“ war die eigentlichen Erfolgstreiber. Darin liegt nach Ansicht von Maiken Umbach auch der deutsche Erfolg nach 1945 begründet: „the success story after 1945… owes more to its federal traditions“.

Success story – made in Germany

Darin schwingt mit: es gibt eine deutsche Erfolgsgeschichte auch vor 1945 – oder sagen wir besser vor 1933. Und sie liegt zweifellos auch in der Zeit zwischen 1871 und 1914. Man nennt sie auch Gründerzeit. Sie ist eine Zeit der „Verwandlung der Welt“.[8] Eine Zeit, die von Großindustrie, modernen Städten, Sozialdemokratie und Nationalismus geprägt wurde; sie ist aber auch die Zeit, in der Natur- und Geisteswissenschaften in Deutschland höchsten Weltrang hatten. Unsere politische, soziale und kulturelle Lebenswelt wurde hier entscheidend gestaltet. Heinrich August Winklers grundlegendes Werk zur Deutschen Geschichte hat den Titel: Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reichs bis zum Untergang der Weimarer Republik (2000). Schon die einschlägigen Kapitelüberschriften zeigen, was hier reflektiert, historisch kritisch be- und überdacht und diskutiert werden sollte: „Einheit vor Freiheit“, „Die Wandlung des Nationalismus“ und „Weltpolitik und Weltkrieg“ – oder besser vielleicht „Der Weg in den Krieg“.

Niemand zwingt uns die Deutsche Geschichte rückschauend zu feiern. Sie aber zu ignorieren, ist schlicht dumm, selbstgefällig und gefährlich. Wir brauchen nicht drüber zu reden, weil wir alles schon wissen?! Was ist Qualitätsvolles in den wenigen Beiträgen zu lesen, die sich in den „Qualitätsmedien“ überhaupt dazu aus- oder „herab“(?) -lassen? „Nie wieder Blut und Eisen“, „Ein autoritärer Machtstaat taugt nicht als Vorbild“ und „Ein fataler Glauben an die militärische Überlegenheit“. Richtig, wir wollen unsern alten Kaiser NICHT wiederhaben. Wir wollen keine Sozialistengesetze, keinen Militarismus und kein Junkertum. Und eben deshalb sollten wir verstehen, wie es dazu kam und wie daraus die Gestaltungsimpulse und Zerstörungskräfte fürs 20. Jahrhundert entstanden. Made in Germany – ist ein Grund zur unbefangenen, kritischen, aber auch kritisch würdigenden Rückschau.

Angst vor Reichsbü….?

Kann es sein, dass dies aus politischen Gründen nicht gewollt ist? Dürfen wir angesichts einer Bedrohung nationalen Ausmaßes mit bislang ungekanntem Zerstörungs- und Zersetzungspotentials fürs Erste nicht an die einladende Beschäftigung mit dieser Zeit unserer Geschichte denken? Nein, ich meine nicht die Pandemie, dieses massenmörderische SARS-CoV-2 Virus. Ich meine … ich wage es kaum auszusprechen … die „Reichsbürger“. Diese Massenbewegung der Rechtsradikalen … ähm -extremisten. Das sind jetzt, glaube (!) ich – und glauben heißt nicht wissen – keine Nazis, oder? Weil, die wollen doch einen anderen „Führer“, oder? Aber wie gesagt … da kenn ich mich nicht aus. Und gefährlich sind die, das sagen alle, weil sie so viele sind und dabei die Dunkelziffer noch gar nicht berücksichtigt sei.

Also kurzum: vielleicht liegt’s daran, dass wir aus Rücksicht, also Vorsicht, also sozusagen gefährdungsverhindernd, lieber nicht über „unsere“ Geschichte sprechen, damit die nicht meinen, das sei gar nicht Geschichte, sondern eine Zukunftsverheißung. Lächerlich.

Fontane

Aber ich bleib dabei: Darüber nicht offen und vielstimmig zu sprechen ist dumm und gefährlich. Und ich hätt’s fast nicht bemerkt. Vielleicht sollte ich mal Bismarcks Gedanken und Erinnerungen lesen, die hab’ ich glaub ich sogar – macht mich das jetzt verdächtig? Oder zumindest Fontane: es gibt wahrscheinlich keinen schlechten Grund, den Stechlin zu lesen. Glauben Sie mir!

 

[1] Das ist nicht wirklich exakt: Rechtlich ist der 1.1.1871 wohl verbindlich.

[2] „Unification is the term we should use to describe the events of 1990”.

[3] 1938 erwähnt sie erst gar nicht – nämlich der Ausrufung des „Großdeutschen Reichs“ nach dem „Anschluss“ Österreichs durch die Nazis.

[4] Joachim Whaley ist Professor in Cambridge für „German History and Thought” (interessanter Titel: “deutsches Denken” – erinnert mich an die alten Tage, in denen die Deutsche Zeitschrift für Philosophie noch Zeitschrift für deutsche Philosophie hieß, worunter man natürlich nur die Philosophie in Deutschland meinte … )

[5] Durham University in England.

[6] Frage an die Historiker: müsste da nicht eigentlich 1938 stehen? Mit 1933 bezieht man sich immer auf den 30. Januar als dem Tag der „Machtergreifung“, obgleich die Weimarer Republik erst in den nächsten zwei Jahren wirklich zu einem nationalsozialistischen Staat geworden ist. Oder täusch’ ich mich da? Vermutlich wäre dann das Gesetz gegen die Neubildung von Parteien vom 14. Juli 1933 das bessere Datum. Es erlaubt nur noch eine Partei, die NSDAP.

[7] Maiken Umbach ist Professorin für Modern History an der University of Nottingham.

[8] So auch der Titel des schönen Buchs von Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts von 2009.

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