Franz K. oder Franz Kafka und seine „Witwen“

Lesedauer 9 Minuten

Von Kafka hab‘ ich einiges gelesen. Nicht alles, aber doch auch nicht wenig. Die Tagebücher und Briefe habe ich gemieden. Die schienen mir zu „schwierig“, zu persönlich. Ich wollte mich nicht durch eine Lebensgeschichte, die in vielem eine Krankengeschichte war, physisch und „metaphysisch“, von seinem so unvergleichlichen Werk ablenken lassen, das mich gepackt hatte. Noch stärkeren Fluchtreflex hatte ich gegen die unvermeidliche Kafka-Erklärliteratur entwickelt, die vorgibt, mir sein Werk aus seinem Leben erklären zu können. Hätte ich den würgenden Brechreiz beherrschen können, der mich allein beim Gedanken an solche gelehrige Wichtigtuerei überkommt, hätte ich sicherlich einiges lernen können. Aber schon Wörter wie „Vater“ oder „Verlobung“, „Prag“ und „Ghetto“, lassen mich, wenn sie in Verbindung mit Kafka fallen, missmutig und nicht mehr aufnahmefähig werden. Ich erinnere mich an eine Studium Generale Vortragsreihe von Walter Jens und Hans Küng, die irgendwann Mitte der Achtziger in Tübingen stattfand. Natürlich war, wenn sie von Franz K. sprachen – wie bei den beiden fast immer –, viel von Nazi-Deutschland, Antisemitismus und Holocaust die Rede, und natürlich vom jüdischen Gesetzesglauben, Gottesferne und Gottessuche, von Freud und seiner Psychoanalyse, von Ödipus und Vatermord, von Entfremdung und dem gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang kafkaesker Verhältnisse. Das war nichts für mich. Mir schien das wie eine hilflose Beschwörung der Größe Kafkas im Versuch, das eigene Ergriffensein akademisch aufzuladen. Aber was soll man angesichts der Rothkoschen „Fenster“ schon anderes machen als sie kunsthistorisch einzuordnen, sie mit Turner und Cezanne, Matisse und Mondrian in Verbindung zu setzen, und Selbsttötung und Depression als Ausdruck gesellschaftlicher Wirklichkeit zu beleuchten? Man muss halt drum rumreden – ich weiß, wovon ich spreche 😉 

Ich hatte jedenfalls einen gewissen Vorbehalt, mich mit der Geschichte des Autors zu beschäftigen. Mir schien das wie eine Ersatzhandlung, die das Großartige mit einem Kammerdiener-Realismus entzaubert. Statt zu versuchen, sich auf seine Geschichten zu verstehen, also das eigene Leben im Licht von Kafkas Geschichten zu betrachten, hält man sie an Kafkas Lebensgeschichte und entfernt sie so aus der eigenen Welt. Man ent-fremdet sie. 

Jetzt im Kafka-Jahr 2024 hab‘ ich nun doch auf Kafka-Sekundäres zugegriffen. Der Autor, ein Kafka-„Verrückter“, war mir immer irgendwie sympathisch. Seine Roten Kalender „für Lehrlinge und Schüler“ im Taschenformat, die sich als „Versuch der Massenagitation“ (!) verstanden, waren für uns in den Siebzigern wie Parteibücher der echten, außerparlamentarischen Linken. Ich wusste auch, dass er ein einschlägiges Buch zu Kafka verfasst hatte. Aber da es seine Dissertation war, also von mir definitiv zur akademischen Kafka-Erklär-Literatur gerechnet werden musste, ließ ich es natürlich „rechts“ liegen. Nun, nach meiner neuerlichen „Schloss“ Lektüre, bin ich nun doch bei einem kleinen Bändchen hängengeblieben, dass er, also Klaus Wagenbach, schon 1993 im eigenen Verlag hat erscheinen lassen: Kafkas Prag. Ein Reiselesebuch. Zum Glück ist man im Leben nicht immer stur und bleibt den Vorsätzen, die man sich einmal in den Kopf gesetzt hat, nicht immer treu. Denn das kleine Bändchen ist wirklich in vielerlei Hinsicht eindrucksvoll. Es als „Reiselesebuch“ auszugeben ist ein unglaubliches Understatement. Oder vielleicht eine trickreiche Marketing-Camouflage, das wunderbare Buch in Reiseführergeschenkpapier zu verpacken, um ihm Leser zu verschaffen und selbige damit „einzuwickeln“ – also neuerlich der „Versuch der Massenagitation“, Kafka „Lehrlingen und Schülern“, vor allem aber auch reisesüchtigen Wohlstandsbürgern nahezubringen? 

Wunderbar ist das schmale Bändchen schon ob seiner im wahrsten Sinne des Wortes „bibliophilen“ Aufmachung: fadengeheftet, in rotes Leinen gebunden, dem der Titel eingeprägt und eine Abbildung aufgeklebt wurde. Schon äußerlich eine sinnlich taktile Wonne für den Bücherfreund. Er und natürlich auch die Bücherfreundin greift gerne nach ihm. Auf herrlich griffigem Papier führt uns Klaus Wagenbach durch das Prag Kafkas, seine Häuser, den Berufsweg des Beamten, seine Lieblingsspaziergänge und zu von ihm besuchten literarischen Orten und Vergnügungen. Sofort augenfällig die Fülle an Fotos aus Kafkas Zeit. Klaus Wagenbach ordnet sie bedachtsam an und lässt sie mal einzeln, mal in gelungener Zusammenstellung wirken. 

Klaus Wagenbach gelingt etwas ganz Wunderbares. Er tritt hinter Kafka zurück. Er sucht nicht steile Höhen der Kafka Exegese zu erklimmen, in denen sich schnell die Kafka-Höhenkrankheit einstellt. Deren Symptome, durch zu große Höhenlage ausgelöst, sind auch hier u.a. „Kopfschmerzen, Müdigkeit, Appetitverlust, Erregbarkeit und in schwereren Fällen Atemnot, Verwirrtheit und sogar Koma“. Solche spekulativen Höhenflüge feiern immer mehr den exegetischen Geisterbeschwörer selbst als den Geist, auf den er sich beruft.  

Klaus Wagenbach dagegen zeigt uns Kafka, sein Prag, seine Lebensumstände in seinen Lebensabschnitten. Unprätentiös und unaufdringlich, ohne jeden Gestus der Besserwisserei und ohne elitäres Expertengehabe. Seine Erläuterungen sind zurückhaltend und lenken den Blick nie von dem ab, was er eigentlich zeigen will. Klaus Wagenbach war ein Sammler, der in seine Fundstücke verliebt ist und ihnen deshalb keine über sie hinausgehende Bedeutung beilegen muss, um sie wertzuschätzen. 

Kaum zu glauben, dass sich das steigern lässt. In einer Hinsicht schon. In die Breite. Das Reiselesebuch zu Kafkas Prag ist ein Extrakt eines „Bilderbuchs“, das uns durch sein ganzes Leben führt: Franz Kafka. Bilder aus seinem Leben. Mein zweiter Wagenbach war bereits 10 Jahre vor dem schmalen Prag Bändchen erschienen, ist handwerklich wieder ganz fein gemacht und gibt einen Überblick, der über Prag hinaus in die böhmische Provinz, zu allerlei Kurorten und Sanatorien, aber auch in die „Weltstädte“ Berlin, Wien und Paris führt. Das gibt eine “Weltanschauung”, die einen wenn man Kafka schon gelesen und schätzen gelernt hat, in den Bann zieht. Da ich zu dieser Gruppe gehöre, kann ich nicht beurteilen, ob die „dichten“ Abbildung, die Klaus Wagenbach von seiner Welt gibt, auch für den attraktiv ist, der keine vergleichbaren literarischen Interessen hat. Ich würde es vermuten.  

Nehmen wir einmal an, Max Brod hätte Kafkas Wunsch, seinen Nachlass zu vernichten, ernst genommen und wir würden Kafka nicht als bahnbrechenden Autor kennen, sondern als den zufällig ins Blickfeld kommenden Franz K., der 1883 in Prag geboren in einer jüdischen Familie aufwächst, die deutsch spricht und böhmisch tschechische Bürger sind, der später als Dr. jur. im Beamtenverhältnis für die Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt tätig ist, früh an der Lunge erkrankt und 1924 noch in seinem 40. Lebensjahr stirbt. Nehmen wir also an, Klaus Wagenbach hätte aus irgendeinem vielleicht genealogischen Grund diesem Franz K. nachgeforscht, alles gesammelt, was von seinem Leben Vorzeigbares zu finden war. Es wäre beeindruckend genug. Wir würden einen Einblick in eine untergegangene Welt bekommen, in der sich die Erdenbürger auf für uns inzwischen befremdliche Weise durchs Leben schlagen. Manchmal sind wir verblüfft, was es schon alles gab, das Telefon z.B. oder Straßenbahnen. Wie konnte man um 1900 als mobile Gelateria ohne Kühlschrank eigentlich sein Eis kühl halten? Ach, man musste, wenn man von der Altstadt zur Kleinseite oder zurück wollte – und nicht gerade die Karlsbrücke nutzte – Brücken-Maut zahlen und so sahen die Mauthäuschen und die “Brückenwächter” aus?!  

Die Städte scheinen wie die in ihnen hausenden, mit dunkler, schwerer Kleidung umhüllten Menschen oft finster, rauh und bedrückt. Das Leben in den wenig einladenden Wohn- und Arbeitshäuser, den Schulen und auf den Märkten, in den Werkstätten und den Fabriken war alles andere als einfach, leicht und unbeschwert. Auf allem scheint eine schwere, unbarmherzige Ordnung, viel Armut und bedrückender Zwang zu liegen. Also schon alles – wenn man’s von Kafka aus sieht – “kafkaesk”. 

In der Lebenszeit Franz K.s schlafwandelt Europa dann in die große Katastrophe, den Großen Krieg. Die Bilder aus seinem Leben, zeigen davon nur beiläufig etwas. Frank K. war nicht im Krieg. Der lungenkranke Dr. jur. erlebt den Krieg und seine Folgen in der böhmischen Provinz doch ganz anders als der Rest der Welt. Auch er schlafwandelt durch die Zeit. Die Qualen des Kriegs und seine Folgen scheinen an ihm vorbeizugehen. Er quält sich genug mit sich selbst. 

Auch Franz Kafka ist kein Autor des Weltkriegs wie Erich-Maria Remarque oder Ernst Jünger, Robert Musil oder Thomas Mann; die beiden ersten mit Berichten aus der Hölle, Musil und Mann als “Landvermesser”, die den Weg in die Hölle nachzeichnen. Auch Kafka liefert zwar Erzählungen, die ähnliches andeuten, ohne sich doch direkt darauf zu beziehen.[1] Auch darauf lässt sich Kafka nicht reduzieren.  

Die “bildliche” Veranschaulichung der Welt, in der Franz K. lebte, ersetzt nicht die Lektüre von Franz Kafka und führt auch nicht zu ihr hin oder in sie ein. Nichts wird erklärt, nichts verklärt. Kafkas „Denken“ soll nicht plausibilisiert und auf Anschauliches heruntergebrochen, aber auch nicht als mystische Erleuchtung angehimmelt werden. Klaus Wagenbach zeigt “nur”, dass z.B. aus dem Fenster dieses spärlich möblierten Zimmers sich für den dort am Tisch sitzenden Franz K. folgender Blick ergab. Zeitweise war das eben der schreibende Franz Kafka. Es gab Spaziergänge, die Franz K. bevorzugte und Orte, die er hasste, wie z.B. die Asbestfabrik, an der er über eine väterliche Einlage beteiligt war. Wir können sie gedanklich nachschreiten und uns vornehmen, beim nächsten Prag-Besuch, dieses Gässchen aufzusuchen, das Franz K. so gerne gegen Mitternacht entlang ging, wenn er den Weg vom Schreibzimmer in der Alchimistengasse auf dem Hradschin zurück in „seine“ Wohnung nahm, in der der lärmempfindliche Autor glaubte, nicht zum Schreiben zu kommen. 

Klaus Wagenbach, eine – wie er es nannte – der “Kafka-Witwen” geht dem Verstorbenen, dem er in Liebe zu seinem Werk gedenkt, auf seinen Wegen nach und sammelt, was sich von ihm überliefert findet. Das Gesammelte zeigt er denen, die seine Leidenschaft teilen. Denen muss er nichts erklären. Er ist kein „Kafka Verführer“.[2] Man muss schon von Kafka verführt sein und kann dann die Kunst schätzen, mit der Klaus Wagenbach uns das Gesammelte von “unseren” Kafka nahebringt.  

Kafka, darin scheint mir die besondere Leistung von Klaus Wagenbachs Darstellung zu liegen, geht darin nicht auf. Es ist nicht so, dass man nach der Lektüre von Klaus Wagenbach sagen könnte, ach, jetzt ist mir das klar, was Kafka ausmacht. So war das also …  Kafka und die Familie, das jüdische Ghetto, die Fabriken… Kafka als Beamte der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt und kriegsuntauglicher Lungenkranker… und dann der Sanatoriumsaufhalt in der Spindelmühle, der Vorlage für “Das Schloss” … Nein, wir können, gerade wenn wir die Bilder aus Kafkas Leben und seiner Lebensumgebung vorgelegt bekommen, nur staunen, wie daraus diese Literatur, diese Erzählwelten entstehen konnten. Vielleicht sollte ich dann doch auch mal die Tagebücher und die Briefe …? Nee, lieber nicht. Aber den “Prozess”, den könnte ich vielleicht gleich nochmal lesen… 

[1] So z.B. die wunderbare, kleine Erzählung vom Stadtwappen, die um 1920 herum entstanden ist: “Anfangs war beim babylonischen Turmbau alles in leidlicher Ordnung; ja, die Ordnung war vielleicht zu groß, man dachte zu sehr an Wegweiser, Dolmetscher, Arbeiterunterkünfte und Verbindungswege, so als habe man Jahrhunderte freier Arbeitsmöglichkeit vor sich. Die damals herrschende Meinung ging sogar dahin, man könne gar nicht langsam genug bauen; man mußte diese Meinung gar nicht sehr übertreiben und konnte überhaupt davor zurückschrecken, die Fundamente zu legen. Man argumentierte nämlich so: Das Wesentliche des ganzen Unternehmens ist der Gedanke, einen bis in den Himmel reichenden Turm zu bauen. Neben diesem Gedanken ist alles andere nebensächlich. Der Gedanke, einmal in seiner Größe gefaßt, kann nicht mehr verschwinden; solange es Menschen gibt, wird auch der starke Wunsch da sein, den Turm zu Ende zu bauen. In dieser Hinsicht aber muß man wegen der Zukunft keine Sorgen haben, im Gegenteil, das Wissen der Menschheit steigert sich, die Baukunst hat Fortschritte gemacht und wird weitere Fortschritte machen, eine Arbeit, zu der wir ein Jahr brauchen, wird in hundert Jahren vielleicht in einem halben Jahr geleistet werden und überdies besser, haltbarer. Warum also schon heute sich an die Grenze der Kräfte abmühen? Das hätte nur dann Sinn, wenn man hoffen könnte, den Turm in der Zeit einer Generation aufzubauen. Das aber war auf keine Weise zu erwarten. Eher ließ sich denken, daß die nächste Generation mit ihrem vervollkommneten Wissen die Arbeit der vorigen Generation schlecht finden und das Gebaute niederreißen werde, um von neuem anzufangen. Solche Gedanken lähmten die Kräfte, und mehr als um den Turmbau kümmerte man sich um den Bau der Arbeiterstadt. Jede Landsmannschaft wollte das schönste Quartier haben, dadurch ergaben sich Streitigkeiten, die sich bis zu blutigen Kämpfen steigerten. Diese Kämpfe hörten nicht mehr auf; den Führern waren sie ein neues Argument dafür, daß der Turm auch mangels der nötigen Konzentration sehr langsam oder lieber erst nach allgemeinem Friedensschluß gebaut werden sollte. Doch verbrachte man die Zeit nicht nur mit Kämpfen, in den Pausen verschönerte man die Stadt, wodurch man allerdings neuen Neid und neue Kämpfe hervorrief. So verging die Zeit der ersten Generation, aber keine der folgenden war anders, nur die Kunstfertigkeit steigerte sich immerfort und damit die Kampfsucht. Dazu kam, daß schon die zweite oder dritte Generation die Sinnlosigkeit des Himmelsturmbaus erkannte, doch war man schon viel zu sehr miteinander verbunden, um die Stadt zu verlassen. 

Alles was in dieser Stadt an Sagen und Liedern entstanden ist, ist erfüllt von der Sehnsucht nach einem prophezeiten Tag, an welchem die Stadt von einer Riesenfaust in fünf kurz aufeinanderfolgenden Schlägen zerschmettert werden wird. Deshalb hat auch die Stadt die Faust im Wappen.” 

[2] Wie das Rolf Vollmann, Der Dürer Verführer: oder die Kunst, sich zu vertiefen von 2011 mit seinen “dichten” Beschreibungen von Dürers Grafiken sein will.   

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