Wir wissen, es war kein Apfel, dessen Genuss dem Menschen paradiesisch untersagt war. Der Apfel verdankt seinen Ruhm einer veranschaulichenden Übersetzung – aus den Früchten des Baumes der Erkenntnis wurden Äpfel:[1] „Von den Früchten des Baumes, der in der Mitte des Gartens steht, hat Gott gesagt: Davon dürft ihr nicht essen und daran dürft ihr nicht rühren, sonst werdet ihr sterben.“[2] Es ist der „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“, deren Früchte dem Menschen verlockend entgegenwachsen. Die Schlange zerstreut die Furcht vor Tod, sie sagt ihnen, was sie hören wollen: „Nein ihr werdet nicht sterben. … Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse.“ Seither ist der Apfel Symbol des Erkenntnisstrebens und der Begierde, sich alles zu erschließen, Gott näher zu rücken und ihm gleich zu werden. Wissen ist Macht und der Wille zur Macht ließ den Menschen zur Frucht greifen. Und dennoch fällt er schließlich ohnmächtig aus dem Paradies. Sein Wissen wird zur Einsicht in die eigene Ohnmacht. Seither ringen wir um unser Leben.
Der Fall des Menschen
Diese Geschichte vom Anfang der menschlichen Geschichte hat die Geister seither reichlich beschäftigt. Auch deshalb, weil die Geschichte, die in Genesis 1 erzählt wird, nicht recht mit der zusammenstimmen will, die sich in Genesis 2-3 findet. Am sechsten Tag, so heißt es in Genesis 1, habe sich Gott entschlossen „Menschen“ zu machen, „ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer (!) und über die Vögel unter dem Himmel (!!) und über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht. Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie zu Mann und Frau.“[3] Genesis 1 blickt gleichsam kosmologisch auf die einzelnen Schöpfungsakte (der Schöpfungstage) und ordnet sie in die Schöpfung als ganze ein. Dabei vollendet die Schöpfung des Menschen – als „Krone der Schöpfung“ – „das ganze Werk der Schöpfung“. Genesis 2 wählt eine andere Perspektive. Dort wird die Schöpfung von Anfang an mit Blick auf den „Fall des Menschen“, sein „Aufbegehren“ und seine Vertreibung (Genesis 3), erzählt. „Zur Zeit, als Gott, der Herr, Erde und Himmel machte gab es auf der Erde noch keine Feldsträucher und wuchsen noch keine Feldpflanzen … und es gab noch keine Menschen… Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen“.[4] Erst dann schafft Gott alles andere, zuerst die Paradiesströme, dann die Pflanzen. Und schließlich sollt der Mensch nicht allein bleiben und eine „Hilfe“ bekommen, „die ihm entspricht“. Deshalb formte Gott „aus dem Ackerboden alle Tiere des Feldes und alle Vögel des Himmels und führte sie dem Menschen zu“. Die freilich waren noch keine Gehilfen, die ihm entsprachen. „Da ließ Gott, der Herr, einen tiefen Schlaf auf den Menschen fallen, so daß er einschlief, nahm eine seiner Rippen und verschloß ihre Stelle mit Fleisch. Gott, der Herr, baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und führte sie dem Menschen zu.“[5]
Die (teuflische) Schlange verführt schließlich die Frau, die dann von den verbotenen Früchten aß und sie weitergibt: „sie gab auch ihrem Mann, der bei ihr war, und auch er aß“.[6] Das Bewusstsein ihrer Nacktheit verrät sie schließlich und sie werden verstoßen: „Seht, der Mensch ist geworden wie wir; er erkennt Gut und Böse. Daß er jetzt nicht die Hand ausstreckt, auch vom Baum des Lebens nimmt, davon ißt und ewig lebt!“.[7] Auch das ist merkwürdig. Gott – immerhin allmächtig und allwissend – streift scheinbar ahnungslos im Garten herum und scheint das Vergehen nur daran zu erkennen, dass der herbeigerufene Adam sich nun für seine Nacktheit schämt. Sein hat sich sein Blick auf sich selbst gerichtet, was ihm offenbar ohne von dem Genuss der verbotenen Frucht nicht möglich gewesen wäre. Es bleibt offen, mit wem Gott da überhaupt redet und in der ersten Person Plural anspricht – „seht, der Mensch ist geworden wie wir…“. Es treibt sie (?) und die Sorge um, der sich erkennende Mensch könnte nun auch noch die Unsterblichkeit erlangen? Der Genuss der Frucht war bei Strafe des Todes verboten („denn sobald du davon ißt, wirst du sterben“)[8], unsterblich würden sie freilich durch die Früchte des Baums des Lebens. Ihre Vertreibung lässt sie offenbar in dem Zustand, in dem sie vorher waren, nur dass ihnen der nun schmerzlich bewusst geworden ist: als Menschen sind sie in einem ausgezeichneten Sinne sterblich und das heißt, sie wissen – anders als Tiere – von ihrer Sterblichkeit, von ihrem „Sein zum Tode“.[9]
Genesis 2-3 erzählt die Schöpfungsgeschichte von ihrem vorläufigen Ende, nämlich bis zum Beginn der Geschichte des Menschen, der um sich selbst weiß und sein Leben selbständig, nach bestem Wissen und Gewissen, führen muss. Alles dreht sich um den ackerbauenden Menschen, der mit dem „Bebauen und Hüten“ der Schöpfung beauftragt wird. Er kann das zunächst noch unter paradiesischen Bedingungen erledigen, wird dann aber aus der Obhut entlassen und in die Selbständigkeit „geworfen“. Seither muss er nun – unter alles andere als paradiesischen Bedingungen – zum Hüter seiner selbst werden.
Um die Erbsünde ist viel Aufhebens gemacht worden. Was können die Kinder für die Schuld ihrer Mütter und Väter? Nichts. Sie müssen freilich mit den Folgen der (Un-)Taten ihrer Eltern leben. Verspielen Papa und Mama das Familienvermögen, dann werden die Kinder verarmt aufwachsen. Ist die Verstrahlung der Welt nach einem atomaren Krieg eine Strafe, die „man“ auch gnädig hätte aussetzen können? Wohl kaum. So liegen die Dinge eben. Die Warnung, nicht an den Früchten des Baums der Erkenntnis zu rühren – „sonst werdet ihr sterben“ – gleicht insofern mehr dem mütterlichen Hinweis, nicht ins glühende Feuer zu greifen.[10] Die Frucht der Erkenntnis ist die Einsicht in die eigene Sterblichkeit, von der der paradiesische Mensch nichts wusste. Das bewusstlose Ende des Lebens – wie bei den Tieren – bereitet keine Sorge: Sorgen kann man sich nur um ein Übel, von dem man weiß.
Die Einsicht ins eigene Dasein ist gleichbedeutend mit der „Vertreibung“ aus dem Paradies. Und so führen wir „Nachgeborenen“ unser Leben nicht mehr unter paradiesischen Bedingungen. Wir müssen entscheiden und gehen dabei notgedrungen fehl.
Der Mensch erkennt sich in Abhebung vom Göttlichen. Und diese Erkenntnis ist nicht anders als durch Trennung, durch Selbständigkeit zu erlangen. Aber das ist nicht das Ende der Geschichte, sondern erst ihr Anfang. Die Selbständigkeit des Menschen ist die Bedingung für die Anerkennung Gottes. Der Verlust der ursprünglichen Verbundenheit erlaubt die Erhebung zu einem Verhältnis, das dem Wesen von Schöpfer und Geschöpf gerecht wird. Die Vertreibung ist heilsgeschichtlich auf den (neuen) Bund ausgerichtet, der erst geschlossen durch die „freie“ Anerkennung des Menschen geschlossen werden kann. Die Erbsünde ist eine „Erbschuld“, die als Teil der Hinterlassenschaft das ererbte Vermögen der Nachkommen unabweisbar belastet und deren zukünftige Begleichung aufgetragen wird. Gleichsam eine Hypothek, die auf dem überlassenen Besitz liegt und um deren Tilgung gerungen wird. Es ist das „Verhängnis“ unseres Lebens, es selbst führen zu müssen und es nicht in paradiesischer Selbst-losigkeit zu verleben.
Die Menschheitsfamilie unterm Apfelbaum
Wir dürfen unterstellen, dass sich auch Rubens Altarbild „Die Heilige Familie unter dem Apfelbaum“ von 1630/32 darauf bezieht. Das Zentrum des Bilds bilden zwei Äpfel, die noch an einem Zweig hängend, dem Jesus-Kind gereicht werden. Das Knäblein greift das andere Ende des Zweigs und betrachtet versonnen die Früchte. Seit Paulus gilt Christus als der „zweite“ oder der „letzte Adam“ [11]. Wir haben es also nicht mit einer Familienidylle zu tun, für die es einige rührselige Museumspädagogen ausgeben. Und wenn zur Heiligen Familie noch der Johannesknabe ins Bild kommt, dann ist das keine heilige Krabbelgruppe. Mit Johannes tritt für uns die Berufung Christi in den Blick. Das Familienstelldichein wird eschatologisch und das heißt „blutig“. Sie endet am Kreuz.
Der Zweig bildet die Brücke zwischen den zwei Bildhälften, die zugleich zwei Weltbereiche abgrenzen: das Irdische, das sich der Erlösung zuwendet, die vom Jesusknaben erwartet wird. Jesus scheint der Zweig mit den Äpfeln wie eine „Erinnerung“ an seine Berufung zu sein. Maria „weiß“ vom Schicksal ihres Sohnes als Christus und das heißt von seinem Leiden am Kreuz. Das macht von jeher die Melancholie solcher Mariendarstellungen aus. Rubens zeigt sie mit verlorenem, ins Leere gehenden Blick. Auch Josef fügt sich im Hintergrund in das, was er zwar nicht recht zu verstehen scheint, sich aber gleichwohl in der Pflicht sieht, das unausweichlich Gebotene tatkräftig zu unterstützen.[12]
Elisabeth und Zacharias dagegen sind unbedarft, erwartungsvoll und voller Bewunderung. Sie sind stolz ergeben. Das Erlösungswerk, an das sie glauben, erträumen sie sich als königliche Machtergreifung in Form einer strahlenden Krönung. Wie seine sorglosen Eltern weiß auch Johannes von seinem eigenen Schicksal nichts. Er ist nur ein Bote und Wegbereiter, der die Krönung vorbereitet. Wir Betrachter freilich wissen, wie es mit beiden endet. Wenn Johannes auftritt, dann werden wir immer daran erinnert, was es heißt Botschafter Christi zu sein. Man bezahlt dafür nicht selten mit seinem Kopf.
Gaben besonderer Art
„Die Heilige Familie unter dem Apfelbaum“ ist die Außenseite des Ildefonso-Altars, der der Ildefonso-Bruderschaft in Brüssel von Isabella Eugenia, Tochter von Philipp II. von Habsburg und Statthalterin der spanischen Niederlande, gestiftet wurde. Die Außenseite verweist auf einen inneren Kern. Geöffnet zeigt der Altar eine Begebenheit aus dem Leben des heiligen Ildefonso – einem bei uns eher unbekannten Heiligen. Ildefonso lebte im siebten Jahrhundert in Toledo, war dort Erzbischof und hatte maßgeblichen Anteil an Verbreitung der Marienverehrung in Spanien. Am Himmelfahrtstag des Jahres 655 will er eine Marienerscheinung gehabt haben, wobei ihm Maria zum Dank für sein Engagement einen kostbaren Ornat überreicht habe. Rubens bringt dieses Motiv ins Bild.
Die Äpfel im Zentrum der Außenseite sind gleichsam das Guckloch für den inneren Altar. Sie zeigen dort auf Marias Herz. Maria steht traditionell für die Kirche.[13] Sie hat wie der Zweig mit den Äpfeln des Außenaltars eine Brückenfunktion. Zum Apfel der Erkenntnis kommt nun die Frucht des Lebens hinzu, die dem Glauben entspricht und die Auferstehung und das ewige Leben verheißt.
Maria findet offenbar Gefallen am Eifer des Ildefonso, der ehrfürchtig vor ihr kniet. Ildefonso nimmt die Gabe in großer Ergriffenheit entgegen. Durch Übergabe des edlen Gewands scheint etwas zu geschehen, das die Gefährtinnen mit mitfühlender Aufmerksamkeit verfolgen. Wir kennen etwas Ähnliches, wenn im Kreise der Familie oder Freunden Geschenke ausgepackt werden. Nicht nur der Schenkende ist auf die Reaktion des Beschenkten gespannt. Man hofft, dass das Geschenk „ankommt“, dass es dem Beschenkten sichtbare Freude macht oder ihn gar begeistert. Je unerwarteter das Geschenk, desto größer die Freude. Wer von seiner Tante wie eigentlich immer einen Umschlag mit 50 € überreicht bekommt, der freut sich durchaus, sich davon den Rubens-Bildband kaufen zu können, den er schon lange wollte. Freudig überrascht, ja geradezu begeistert wäre er freilich gewesen, wenn die Tante ihm genau dieses Buch oder gar einen Kunstdruck von Rubens Die Heilige Familie unterm Apfelbaum auf den Gabentisch gelegt hätte.
Geschenke haben eine mehr oder weniger große Attraktion für den Beschenkten. Es kommt darauf an, was er damit macht. Das Rennrad, das wir uns gewünscht haben, kann uns zu neuen sportlichen Höhen führen oder uns von Freunden entfremden, weil wir nichts mehr anderes im Sinne haben als damit Kilometer zu machen. Ein Buch, das wir geschenkt bekommen, kann unser Leben ändern, weil wir es uns nun völlig neuen Dingen zuwenden, von denen wir bisher nichts wussten.
Ildefonso scheint jedenfalls überwältigt und existentiell erschüttert. Hier geschieht etwas, das über das Überreichen eines Geschenks weit hinausgeht. Wenn wir vermuten, dass es sich um einen Ornat, also z.B. ein Messgewand, handelt, dann ist die Gabe mit einem Amt verbunden. Es gleicht dann dem Überreichen eines Amts- oder Hoheitszeichens, das zu Handlungen berechtigt, die ohne dieses Insigne nicht möglich oder erlaubt wären. Uniformen mit Rangabzeichen oder ein Sheriffstern, das sind Dinge, mit denen man etwas machen kann, weil die anderen ihre Bedeutung und die damit verbundenen Rechte und Pflichten kennen. Sie erhalten ihre Bedeutung von der Anerkennung anderer.
Auch das trifft das Geschehen, das Rubens ins Bild setzt, nicht richtig. Maria als „Urbild der Kirche“ überträgt natürlich mit Priester- oder Bischofsweihe entsprechende Amtsgewalt. Das mag man mit der Übergabe des Ornats veranschaulichen.[14] Und vielleicht erklärt das auch die Ergriffenheit Ildefonsos. Die Ordination zum Priester oder Bischofs ist tatsächlich von höchster Bedeutung für die „Gemeinschaft der Heiligen“, als die sich die Kirche versteht.[15] Sie behauptet in dieser Funktion „Schlüsselgewalt“[16] für den Heilsweg zu haben. Dabei kommt der Priesterweihe als eines der sieben Sakramente eine besondere Bedeutung zu, insofern die Geweihten die anderen Sakramente kirchlich zu spenden bzw. zu vollziehen vermögen.[17] Wie nur ein gewählter Bürgermeister berechtigt ist, für seine Gemeinde zu handeln, und nur ein ordnungsgemäß bestellter Richter im Namen des Volkes urteilen darf, so vollziehen auch geweihte Priester „im Namen der ganzen Kirche“ die Sakramente. Und man mag sich schon vorstellen, dass bei der feierlichen Ernennung von Richtern auch manche durchaus persönlich bewegt und ergriffen sind.
Aber was uns von Rubens gezeigt wird, ist keine „Amtshandlung“, keine kirchliche Amtseinsetzung. Hier geht es um eine „Marienerscheinung“, also um einen höchst persönlichen Vorgang, der zunächst und vor allem Ildefonso betrifft. Es ist allenfalls die Veranschaulichung des Geschehens, das der kirchlichen Spendung von Sakramenten zugrunde liegt. Ildefonso erlebt etwas, das den Sakramenten ihr wirkliches Gewicht, ihre tatsächliche Wirkung geben. Und Rubens bringt das im Rahmen des gegenreformatorischen Programms ins Bild. Die Gegenreformation versteht sich als eine „katholische Reformation“. Sie will die durch die Reformation aufgedeckten Missstände angehen und die eigene „katholische“ Position gegenüber der protestantischen Reformation schärfen. Hatte Luther der Kirche seine drei Sola-Formeln entgegengestellt – sola scriptura, sola fide, sola gratia – geht es der katholischen Gegenreformation um
- das rechte Verständnis der Rolle der Kirche und der Sakramente, insbesondere dem Sakrament der Eucharistie,
- die Hervorhebung der besonderen heilsgeschichtlichen Rolle der Gottesmutter Maria und ihrer Verehrung und
- die richtige Einordung der Verehrung der Heiligen.
Das Sakrament ist ein Zeichen (der Gnade), das bewirkt, was es anzeigt. Seine Wirksamkeit (opus) verdankt sich (gegenreformatorisch) nicht dem Glauben der Gläubigen (operantis), sondern dem Wirken dessen, an den die Gläubigen glauben, nämlich Gott (operantum). Von besonderer Bedeutung für die katholische Gegenreformation war dabei das Verständnis der Eucharistie: nach katholischer Lehre wird die Hostie durch die Konsekration im vom Priester vollzogenen „Messopfer der Kirche“ substantiell in den Leib Christi verwandelt. Den Evangelischen hingegen ist die Hostie nur ein gegenständlich-ritueller Impuls, das das Andenken des Gläubigen auslöst, sich substantiell aber nicht verändert. In einer chemischen Analyse wird sich – so kann man mit den Evangelischen sagen – die Hostie immer noch als ein Weizengebäck erweisen, das inzwischen auch glutenfrei angeboten wird.
Manches wirkt Wunder
Um nicht in die Tiefen der Sakramentenlehre einzusteigen, sei auf ein anderes Altarbild von Rubens verwiesen, das den Titel Wunder des Hl. Franz Xaver trägt. Es wurde 1617/18 für die Jesuitenkirche in Antwerpen geschaffen und ist mit seinem gegenreformatorischen Impetus typisch für die Societas Jesu. Im Wiener Kunsthistorischen Museum wird es gegenüber dem Ildefonso-Altar gezeigt. Wir sehen den Heiligen, der in Asien missioniert hat, predigen. Dabei geschehen allerlei Wunder: „Ein Toter wird auferweckt, Blinde und Gelähmte werden geheilt, im Tempel zerbricht ein Götzenbild.“[18] Es ist nicht eine konkrete Begebenheit, die abgebildet wird, sondern gleichsam eine Synopsis, eine Zusammenstellung von Wundern als Veranschaulichung der Wirksamkeit der Verkündigung des Heiligen. Die Wunder geschehen durch die Macht des Wortes. Aber es ist nicht so, dass sie durch ihre Überzeugungskraft wirken, die sie auf die Zuhörer haben. Hier wird nicht zu Gläubigen gesprochen, die auf das Wort hören. Die Worte wirken auf die Welt und die Dinge selbst. Sie haben keine vermittelte Kraft, die sie sich nur von den Hörenden leihen. Sie haben selbst „weltliche“ Kraft.[19] Das macht Wunder aus. Sie wirken nicht, weil Worte auf Menschen wirken, die dann Dinge tun, die wir erstaunlich finden. Nicht weil die Zuhörer glauben, was sie hören, werden sie „auferweckt“. Das Wort selbst erweckt und lässt Götzenbilder zerbrechen. Sie werden nicht durch die zum Glauben Bekehrten zerstört. Ihr unvermutete, wunderliches Zerbrechen führt vielmehr zum Glauben. Wunder sind nicht Sache der rechten Auslegung. Wunder wirken, wenn sie denn welche sind.
Daran muss man nicht glauben – und heute tun das vermutlich (im aufgeklärten Westen) nur noch wenige. Geht man aber – wie Ildefonso – davon aus, dass es so etwas wie „Marienerscheinungen“ gibt, dann sind Sakramente keine symbolischen Akte, sie sind wirkliche Geschehnisse, die die Dinge verändern und nicht „nur“ die Meinungen über die Dinge. Die Gabe des Messgewands „vermittelt“ (=gibt) die Begabung zum Vollzug von Sakramenten. Die Übergabe des Gewands hat etwas von der Eucharistie: der wahre Leib Christi wird gegeben, nicht nur zu seinem Andenken. Die Götzenbilder zerbersten, ohne dass ein „Überzeugter“ Hand anlegen muss.
Aber was soll uns Modernen und Aufgeklärten das alles noch sagen? Rubens ein technisch eindrucksvoller Maler – das herrlich strahlende Licht, das sich über Ildefonsos Mönchskutte legt z.B., oder die Mimik der Figuren, die die ganze Geschichte abbilden, die uns heute aber kaum mehr etwas zu sagen hat. Jedenfalls nicht das, was Rubens vermutlich zum Ausdruck bringen wollte. Also doch nur eine Familie-Idylle im Garten unterm Apfelbaum und eine Studie über die Psychologie eines gelungenen Schenkens? Nein, natürlich nicht.
Der gegenreformatorische Impuls eröffnet uns die Wahrheit der Kunst. Natürlich ist eine Marienerscheinung kein physikalisch messbares Geschehen. Aber sie ist auch nicht nichts. Eine Idee – auch sie lässt sich nicht physikalisch messen – kann uns packen. Sie wirkt so, dass wir dann von etwas ergriffen werden, das wir selbst nicht sind. Etwas zeigt sich, es wirkt. Träume sind unwirkliche Wirklichkeiten. Marienerscheinungen sind etwas, über das wir kopfschüttelnd schmunzeln oder das uns erstaunt fesselt. Nehmen wir Ildefonsos Marienerscheinung. Sie wird durch Rubens zu unserer. Und Rubens macht das ausdrücklich. Auf den offenen Seitenflügeln des Altars zeigt er Erzherzog Albrecht und seine Frau, Isabella Eugenia, Statthalterin der spanischen-katholischen Niederlande. Sie sind, begleitet durch ihre Schutzheiligen, andächtig ausgerichtet auf die Marienerscheinung Ildefonsos wie sie Rubens zeigt. Uns und ihnen. Ihr Blick wird durch ihre Heiligen geführt. Und unserer? Wir bleiben vor dem Altarbild Rubens beeindruckt stehen oder laufen an ihm vorbei. Wenn wir stehen bleiben und hingucken, dann erleben wir etwas, das dem Abgebildeten genau entspricht. Das, was uns gefangen hält, ist nicht in unserer (Wahn-)Vorstellung. Es ist direkt vor uns und verweist doch auf etwas anderes. Es selbst. Aber es ist ja nur ein Bild, sagen Sie? Was wäre „es“ denn ohne das Bild. Was wir sehen ist von dem Gesehenen ja gar nicht zur trennen. Kunst ist nicht ersetzbar. Sie ist kein Symbol, kein Stellvertreter für etwas anderes. Wir sehen Ildefonsos Marienerscheinung. Wir müssen nicht hingucken. Aber wenn wir hingucken, dann sehen wir genau sie – und wir erleben die Wahrheit der Kunst. Sie nicht? Das macht nichts. Was dem einen sin Uhl, ist dem andern sin Nachtigall. Aber immer wenn sie etwas in einem Kunstwerk wahrnehmend erleben, dann haben sie eine „Erscheinung“, die der von Rubens Marienerscheinung Ildefonsos verwandt ist.
Nochmal zum Apfel
Und was hat das mit der Heiligen Familie untern Apfelbaum zu tun? Man ist, was man ißt, sagt man. Ich glaub‘ nicht dran. Aber Erkenntnis, vor allem Selbsterkenntnis kann man doch nicht essen, oder? Wie kann der Genuss der paradiesischen Frucht Erkenntnis bringen? Und zwar nicht, ob sie sauer oder bitter, süß oder salzig schmecken, sondern über uns und die Welt? Nun ja, es gibt bewusstseinserweiternde Mittelchen. Schon mal probiert? Man schmeißt etwas ein und sieht die Welt plötzlich völlig anders. Ein Bildschirmschoner mit wechselnden „Bildern“ oder ein TV-Nachtprogramm mit Zugfahrten durch die Schweizer Berge wird dann zur kurzweiligen Offenbarung. Um solche bewusstseinserweiternden, zur Selbsterkenntnis befähigenden Früchte scheint es sich zu handeln. Und tatsächlich scheint es so etwas zu geben: Dinge, die konsumiert, zur Einsicht führen.
Platon macht in seinem Dialog Protagoras auf einen „gefährlichen“ Unterschied zwischen leiblicher und geistiger Nahrung aufmerksam: Hippokrates möchte zum bekannten Sophisten Protagoras, um von ihm zu lernen. Sokrates mahnt ihn zu überlegtem Vorgehen: ein Sophist sei doch wohl jemand, der Erkenntnisse, also etwas anbietet, das die „Seele nährt“. „Verstehst du dich nun darauf, was hiervon heilsam oder schädlich ist, so kannst du unbedenklich Kenntnisse kaufen vom Protagoras sowohl als von jedem anderen; wo aber nicht, so sieh wohl zu, du Guter, daß du nicht um dein Teuerstes würfelnd, ein gefährliches Spiel wagst. Denn überdies ist noch weit größere Gefahr beim Einkauf der Kenntnisse als bei dem der Speisen. Denn Speisen und Getränke, die du vom Kaufmann oder Krämer eingehandelt hast, kannst du in anderen Gefäßen davontragen und, ehe du sie essend oder trinkend in deinen Leib aufnimmst, sie zu Hause hinstellen und auch dann noch, einen Sachverständigen herbeirufend, beratschlagen, was davon du essen und trinken sollst und was nicht und wieviel und wann; so daß es beim Einkauf nicht viel bedeutet mit der Gefahr. Kenntnisse aber kannst du nicht in einem anderen Gefäß davontragen, sondern hast du den Preis bezahlt, so mußt du sie, in deine Seele aufnehmend, lernen und hast deinen Schaden oder Vorteil schon weg, wenn du gehst.“[20]
Bei Platon und den Sophisten handelt es sich um Reden: „Das Wort tuts…“ Bei Rubens und der bildenden Kunst handelt es sich um Bilder, Dinge, die wir sehen und anfassen können, die als Werke für uns gemacht sind. Sie sind gemacht, um von uns genossen zu werden. Und bei ihnen wirkt dieselbe „gefährliche“ Unmittelbarkeit, auf die Platon hinweist und die mit dem Verzehr der paradiesischen Früchte verbunden ist. Sie zu sehen, heißt sie in sich aufzunehmen. Sie stehen nicht für etwas anderes. Sie sind als solche bedeutsam und bewusstseinserweiternd. Man muss nur hinsehen. Wir haben mit Rubens eine Marienerscheinung und können gar nicht dran zweifeln, dass es so etwas gibt. Wir sehen es ja – wie Albert und Isabella. Das kostbare Gewand der farbigen Form, das Rubens uns da überreicht, hat die Kraft, uns die Augen zu öffnen und uns zu verändern.
[1] Erst seit dem 5. Jahrhundert wird die Frucht zum Apfel. Vorher galten Weintrauben und Feigen als die verbotenen Früchte.
[2] Genesis 3, 2-3 und Genesis 2, 16-17.
[3] Gen 1, 26-28.
[4] Gen 2, 4b-7.
[5] Genesis 2, 21-22.
[6] Genesis 3, 6.
[7] Genesis 3, 22.
[8] Genesis 2 17.
[9] Cf. M. Heidegger, Sein und Zeit (1927), §§46 ff.
[10] Verbote haben Sinn. Sie wollen Übel vermeiden. Es gibt sie nicht – in der Regel – um ihrer selbst willen.
Das Verbot ist nichts Willkürliches, das nur die Autorität Gottes demonstrieren soll. Die Einhaltung ist kein „nur“ symbolischer Akt der Unterwerfung. Das zeigt sich gerade in der Unsinnigkeit von Regeln, die lediglich dazu dienen, Macht zu demonstrieren und die Fügsamkeit der Folgsamen zu beweisen. Das ist das Abraham Motiv. Der Verstoß zeigt dann, dass die Unterwerfung nicht komplett ist und statt Gehorsam die eigene Überlegung den Ausschlag gibt.
[11] 1. Korinther 15, 22: „Denn wie in Adam alle sterben, so werden in Christus alle lebendig gemacht.“ Und Römer 5, 12ff.: „Durch einen einzigen Menschen kam die Sünde in die Welt und durch die Sünde der Tod… Adam aber ist die Gestalt, die auf den Kommenden hinweist. … Wie es also durch die Übertretung eines einzigen für alle Menschen zur Verurteilung kam, so wird es auch durch die gerechte Tat eines einzigen für alle Menschen zur Gerechtsprechung kommen, die Leben gibt.“ Und 1. Korinther 15, 45-47: „So steht es auch in der Schrift: Adam, der erste Mensch, wurde ein irdisches Lebewesen. Der letzte Adam wurde ein lebendigmachender Geist … Der Erste Mensch stammt von der Erde und ist Erde; der Zweite Mensch stammt vom Himmel.“
[12] Siehe dazu z.B. auch Ruhe auf der Flucht von van Dyck von 1630.
[13] Der Katechismus der katholischen Kirche nennt sie „Mutter der Kirche“ (KKK 954ff.) oder „Inbild der Kirche und Kirche im Vollsinn“ (KKK 507)
[14] Für das Amt des Bischofs wird das traditionell mit dem Aufsetzen der Mitra dargestellt.
[15] Cf. KKK 946ff.
[16] Cf. KKK 981ff.
[17] Von den Sakramenten der „christlichen Initiation“ (Taufe, Firmung, Eucharistie) und denen der „Heilung“ (Buße und Krankensalbung), die den einzelnen Gläubigen betreffen, werden die „Sakramente des Dienstes in der Gemeinschaft“ (Weihe und Ehe) unterschieden.
[18] So in der Bildbeschreibung des Kunsthistorischen Museums.
[19] Das gilt auch und gerade fürs Sakrament. „Das Grundwesen des Sakramentes ist das Wort“; sein „materiell“ ritueller Vollzug ist nur „sekundär“, hat nur „das Wort verdeutlichende Funktion“ (Cf. Karl Rahner, Heribert Vorgrimler, Kleines Theologisches Wörterbuch, 1975, S. 366. Ähnlich auch schon Luther am Beispiel der Taufe: „Das Wort tuts…“ (Martin Luther, Der große Katechismus, Die Taufe, in: Luther Deutsch, Die Werke Martin Luthers, hrsg. v. Kurt Aland, Bd. 3, S. 121)
[20] Platon, Protagoras 313c ff.