Vom Überdruss

Lesedauer 16 Minuten

Überdruss ist der Feind des Guten. Ein gutes Leben lässt sich überdrüssig nicht führen. Als dieses „lebensfeindliche“ Unvermögen, das Leben zu führen, wurde es von der christlichen Tradition als eine der sieben Todsünden betrachtet.[1]

Bei der Rede von Todsünden klingt vieles – zumindest für heutige Ohren – verwirrend. Sünden, also tadelnswerte Handlungen, gründen in einer Gesinnung, genauer einem habituellen Geneigtsein zu falschem Handeln. Die Tradition spricht hier von Lastern.[2] Während Tugenden Vermögen sind, nämlich „Kräfte“, die es dem, der sie erworben hat, erlauben, „gut zu leben“, bezeichnen Laster habituelle Unvermögen der Lebensgestaltung. Tugenden sind ein Können, Laster geht dieses Können ab. Die Tradition reduziert Tugenden aus gutem Grund nicht auf Moral und sittsame „Tugendhaftigkeit“. Sie gehören der ethische „Kunst“ einer gelungenen Lebensführung an. Wie der Blinde nicht vermag, was der Sehende als Sehender kann, so geht dem im Habitus des Lasters Gefangenen das Vermögen ab, glücklich zu leben. Wenn wir nun sagen wollen, welche Unvermögen bei den Todsünden-Lastern im einzelnen beschrieben werden, dann führt die einfache Übersetzung des lateinischen Ausdruck ins Deutsche nicht selten auf Abwege.

Wie übersetzen wir superbia, das aus Sicht der christlichen Tradition vielleicht tödlichste Laster? Hochmut, Hoffart, Stolz? Das griechische Hybris (ὕβρις) kommt dem mit superbia Gemeinten vielleicht am Nächsten: es ist das für den Menschen „charakteristische“ Vergehen, sich zu übersteigen und zum Gott erheben zu wollen. Es wird ihm schließlich zum Verhängnis wird. Heute dürfen wir dem Transhumanismus diese Anmaßung zurechnen.

Acedia

Hieronymos Bosch, Acedia, aus: Die sieben Todsünden (1500/25)

Das „tödliche“ Laster der acedia ist noch schwieriger ins Deutsche zu übersetzen. Es ist das einzige der „Hauptlaster“ für das der Katechismus der Katholischen Kirche gleich zwei Übersetzungen anbietet „Trägheit oder Überdruß“ und sicherheitshalber noch den damit übersetzten lateinischen Ausdruck (acedia) in Klammer setzt.[3] Nicht selten findet sie sich auch als Mattigkeit und Bitternis, Langeweile oder Schwermut übersetzt.

Acedia ist die latinisierte Form des griechischen ἀκήδεια. ἀκήδεια bezeichnet eine Sorglosigkeit, der vieles gleichgültig ist und die sich nachlässig gegen Erwartungen zeigt. Das Verb ἀκηδέω markiert ein Unbekümmert-Sein, im Sinne des Vernachlässigens oder Vergessens. Wer ἀκήδεστος ist, der ist in dem Sinne sorglos, dass er sich ungepflegt gibt und sich gleichgültig gegen die guten Sitten verhält. ἀκήδεια leitet sich verneinend (ἀ-) von κῆδος her, der Sorge und dem Willen, sich um etwas fürsorglich zu kümmern, das der Pflege bedarf und wert ist.

Wenn wir verstehen wollen, was acedia ist, dann müssen wir uns den Phänomenen zuwenden, die damit beschrieben werden. Im Griechischen vergleichsweise selten verwendet wird es bei mönchischen Eremiten der Spätantike und dem Mönchstum des frühen Mittelalters zu einem vieldiskutierten und gut nachvollziehbaren Phänomen, das die alte griechische Bedeutung in eine Richtung strapaziert, die damit ursprünglich nicht verbunden war.

Johannes Cassianus

Johannes Cassianus (360-435) listet sie erstmalig in seinem De institutis coenobiorum et de octo principalibus vitiis als eine der acht Hauptlaster (vitia principalia) auf. Er sieht in ihr eine „Versuchung“, die den Kern des mönchischen Lebens bedroht. Johannes Klimakos (579-649) erkennt darin eine „Erschlaffung der Seele und Entkräftigung des Geistes“, die die mönchische Existenz gefährdet.[4]

Das mönchische Leben ist uns heute weitgehend fremd. Aber es gibt Erfahrungen, die wir mit den Mönchen teilen und die uns einen Hinweis auf die eigentümliche Erschlaffung der acedia geben. Die Stimmung, in die uns die acedia wirft, gleicht dem Einfluss, dem der „Mittagsdämon“ (δαιμόνιον μεσημβρινοῦ) auf uns ausübt.[5] Es ist die Zeit, die vor allem in den heißen südlichen Mittelmeerländern nach Siesta ruft. Die Mittagshitze bringt alles Tätigsein zum Stillstand. Es ist nicht das Suppenkoma, in das manche bullshit jober[6] gelegentlich in Büros und Workshops fallen. Der „Mittagsdämon“ sitzt nicht in vollen Bäuchen; er wirkt nicht weniger im Fasten. Es ist das Erleben eines Stillstands der Zeit. Von Evagrios Pontikos (345-399), einem anderen ägyptischen „Wüstenvater“, wird „der Dämon des Überdrusses, der auch als „Mittagsdämon“ bezeichnet wird, in seinem Praktikos zum „bedrückendste(n) aller Dämonen“ erklärt. Er „bewirkt, dass der Mönch meint der Lauf der Sonne hätte sich verlangsamt oder sie würde gar still stehen, so dass der Tag fünfzig Stunden lang erscheint.“ Nichts scheint mehr der Anstrengung und Mühe wert. Wir lassen alles liegen und übergeben uns der Mattigkeit des Daseins.

Begriffliche Trägheit bei Thomas

Thomas von Aquin – WikiCommons

Was uns bei den mönchischen Asketen und den Eremiten in ihren Wüsteneien als echte Erfahrung und herausfordernde Wirklichkeit begegnet, das wird bei Thomas von Aquin (1224/25-1274) zunächst noch recht trocken, distanziert und ein wenig blut- und erfahrungsleer verhandelt. Thomas muss die acedia natürlich in seiner Summa Theologiae erörtern. Sie ist als ein Hauptlaster, das „der aus der Liebe quellenden Freude entgegengesetzt ist“, einer der Mosaiksteine seiner theologisch-philosophischen Begriffsordnung. Er geht ihr in einer knapp gehaltenen Quaestio nach. Seine Behandlung wirkt nicht gerade inspiriert, fast ein wenig „lustlos“. Natürlich greift Thomas die einschlägigen Stellen von Cassianus und die Rede vom „Mittagsdämon“ auf. In drei der vier Einwände (objectiones) bezieht er sich auf den Cassianus. Aber merkwürdigerweise zitiert er beim großen acedia-Mahner, der sich ihrer Macht selbst unterworfen sah, auf Stellen, die dafür zu sprechen scheinen, den Überdruss nicht als schuldhaftes Vergehen (Sünde) zu verstehen, sondern als ein nicht zurechenbares Widerfahrnis. Wenn acedia einen „körperlichen Mangel“ bezeichnet, „der zu bestimmten Stunden auftritt“, dann wäre von Schuld nicht zu sprechen. Auffällig auch, wie dünn die Referenz ist, die Thomas im contra dafür anführt, dass es sich beim Überdruss tatsächlich um eine Sünde handelt.

Bei seiner Antwort bezieht sich Thomas auf Johannes von Damaskus (650-750/54!), der den Überdruss als „eine beschwerende Traurigkeit“ bestimmt, „die den Geist des Menschen so niederdrückt, daß er alle Lust verliert, irgendetwas zu unternehmen“.[7] Sie bedeutet „einen gewissen Widerwillen etwas zu tun“ (quoddam taedium operandi) und zitiert auch die „Erschlaffung des Geistes, der es verabsäumt, mit dem Guten zu beginnen“ (torpor mentis bona negligentis inchoare). Die Zuordnung der acedia zum beklemmenden Verdruss der tristitia dient Thomas zur Bestimmung ihrer ethischen Bewertung. In für Thomas typischer Form geht er dabei begriffsanalytisch vor: Der Verdruss, tristitia, ist immer mit Unlust verbunden. Der Verdruss ist nachvollziehbar, wenn er sich auf etwas bezieht, das tatsächlich zu beklagen ist, wie z.B. den Verlust einer geliebten Person. Wir können uns aber bei Lust und Unlust insofern „täuschen“, dass wir Lust bei etwas empfinden, das uns gar nicht gut tut, uns also fälschlich nur gut zu sein scheint, in Wahrheit aber schlecht (für uns) ist (apparens bonum et vere malum). Auch wenn wir uns dem Verdruss bei wirklichen Übeln über die Maßen hingeben, nämlich so, dass es uns „von jedem guten Werk zurückhält“, kritisieren wir das zurecht. Man kann sich in der Trauer verrennen und am Leben verzweifeln. Der Verdruss ist „in sich schlecht“, wenn er „sich auf ein scheinbares Übel richtet, das aber in Wahrheit ein Gut ist“.[8] Genau das ist per definitionem (!) bei der acedia der Fall, weil sie sich auf das göttliche Geschenk des Lebens und die Güter der göttlichen Liebe beziehen. Bei Thomas hat das alles etwas begrifflich steifes, blut- und erlebnisarm klingendes.

Wenn er im zweiten Artikel der Frage nachgeht, ob es sich bei der acedia um ein „arteigenes Laster“ (vitium speciale), dann greift er wieder auf die begriffliche Analyse und nicht auf eine schmerzlich durchlittene Erfahrung zurück. Bei der Frage, ob acedia ein „spezifisches“ Laster und also eine eigene Spezies (in der Gattung/Art-„Spezifikation“) darstellt oder etwas ist, das viele oder gar alle charakterlichen Schwächen begleitet und insofern kein „spezifischer“ Verdruss, der sich gegenüber anderen schmerzlichen Erfahrungen auszeichnen lässt. Thomas führt dabei zwei Beispiele von besonnenem Verhalten an und für die Tugend der Maßhaltung (temperantia) stehen. Sexuelle Enthaltsamkeit kann dem zur Treue Verpflichteten durchaus Verdruss bereitet. Gleiches gilt für die diätetische Zurückhaltung beim Essen und Trinken. Beides mag im Hinblick auf Güter erfolgen, geht aber (zunächst) mit der Unlust des Sich-Versagens einher. Die Erreichung von Gütern ist mit Anstrengung verbunden. Könnte also der Verdruss der acedia nicht etwas sein, das viele unsere Handlungen begleitet und weit weniger dramatisch ist als es die Rede von einem „tödlichen Laster“ nahelegt. Tatsächlich tut sich Thomas hier schwer und macht sich in seiner Antwort selbst stärkere Einwände als er sie in der Tradition vorfindet. Nur die begriffliche Unterscheidung des spezifischen Guts, nämlich des „göttlichen Guts“ (bonum divinum) der caritas selbst, vermag die acedia auszuzeichnen.

Das ist freilich nicht die Erfahrung der Mönche und Einsiedler. Die „Erschlaffung der Seele und Entkräftigung des Geistes“ ist die von ihnen gemachte Erfahrung einer alles „beschwerenden Traurigkeit“, von der sie ergriffen werden. Sie erleben es so, als würde „bedrückendste aller Dämonen“ von ihnen Besitz ergreifen. Diese Erfahrung spiegelt sich in Thomas rational-distanzierter Erörterung nicht. Es ist der wenig überzeugende Versuch einer begriffliche Einordnung, die nur gelingen kann, wenn man die definitorische Voraussetzung macht, dass sich der Verdruss durch die Güter unterscheidet, auf die er sich bezieht.[9] Es scheint so als wäre Thomas mit der Grundstimmung der acedia, von der die „Wüstenväter“ sprachen, nicht wirklich vertraut, nämlich der alle Lebensfreude und -aktivität erstickende Kraft.

Noch nicht! Denn wir wissen von einer einschneidenden Erfahrung, die Thomas letztes Lebensjahr beherrschte. Thomas war ein unermüdlich Schaffender. Er studierte, lehrte und schrieb beinahe unaufhörlich. Bartholomäus von Capua (1248-1328) berichtet uns eindrucksvoll über seinen gewöhnlichen Tagesablauf und ein Erlebnis am Nikolaustag des Jahres 1273, das Thomas völlig verstörte und sein Leben radikal änderte. Bartholomäus bezieht seine Kenntnis von Reginald von Piperno (1230-1290), der seit 1265 der beständige Begleiter des Thomas war. Thomas hielt sich demzufolge an eine „strenge Lebensordnung“, stand früh auf, legte bei Reginald die Beichte ab, besuchte die Messe und begann unmittelbar danach mit Vorlesungen. „Nachdem er vom Katheder herunterstieg, ging er daran, zu schreiben oder seinen vielen Sekretären zu diktieren, bis es Zeit zum Mittagessen war.“ Danach – zur Zeit des „Mittagsdämons“ – zog er sich zum Beten in seine Zelle zurück und nahm sogleich das Schreiben und Diktieren „bis spät in die Nacht“ wieder auf und schloss den Tag im Gebet in der Kapelle ab.

Am 6. Dezember 1273 allerdings geschah während des Besuchs der Messe etwas, das sein Leben komplett veränderte. „Nach dieser Messe hat er nie mehr etwas geschrieben oder diktiert.“ Auf die Frage, warum er nichts mehr schreibe und z.B. den dritten Teil der Summa unvollendet lassen wolle, soll er geantwortet haben: „Reginald, ich kann nicht mehr…. Reginald, ich kann nicht, weil alles, was ich geschrieben habe, mir wie Stroh erscheint.[10]omnia quae scripsi videntur michi palea. Thomas konnte nicht mehr und fiel in etwas, das wir heute vermutlich Depression nennen würden.

Tatsächlich heißt es im Katechismus der Katholischen Kirche vom Überdruss der acedia, dass „die Lehrer des geistlichen Lebens […] darunter eine Art Depression“ verstünden. [11] Wenn dort von einer „Art Depression“ gesprochen wird, dann weil ein charakterliches Unvermögen nur metaphorisch eine „Krankheit der Seele“ genannt wird und die acedia zwar ähnliche Symptome zeigt, aber eben nicht mit Depression gleichgesetzt werden kann.

Elende Verdrossenheit

Trägheit/acedia von Pieter Brueghel 1558

Jenseits des mönchischen Lebens und seiner vielleicht spezifischen Ausprägung der acedia gibt es einen lähmenden Überdruss, der sich übers Gemüt legt und unser Leben und Handeln maßgeblich bestimmt. Überdrüssig können wir nur dessen werden, an dem wir bisher Gefallen gefunden hatten. Wir werden dessen überdrüssig, wonach wir als etwas Gutes und Angenehmes, Wünschens- und Erstrebenswertes getrachtet haben. Güter, die wir anstreben, um eine Begierde zu stillen, bringen immer die Gefahr der Übersättigung mit sich. Übersättigung gründet in einem ungezügelten Begehren, einer Gier, die nicht genug bekommen kann und am Ende in einem Mehr-als-genug-Haben endet. Die „klassische“ Herausforderung des richtigen Maßes, des delphischen „Nichts im Übermaß“ (μηδὲν ἄγαν), ist die Sache der Tugend. Gerade seine Leibspeisen sollte man besonnen genießen. Man kann sich am besten Essen „überfressen“ und sich am Ende den Genuss zerstören, den man sich vom Lieblingsessen versprochen hat. Die Überdosierung macht die Medizin zum Gift.

Dass wir zu viel von etwas haben können, dass wir als „gut“ verstehen, zeichnet es als Teil-Gut aus. Es muss ins richtige Verhältnis zu anderen Gütern gebracht werden, die für ein gelingendes Leben konstitutiv sind. Die Tradition unterscheidet drei Gruppen von Gütern, die zu einem glücklichen Leben gehören: äußere Güter (Besitz), körperliche Güter (Gesundheit) und seelische Güter (Tugenden). Geld macht nicht glücklich. Aber auch sich mit einer Tugend auszuzeichnen, versichert kein glückliches Leben. Die Tugend der besonnenen Maßhaltung mag uns zu gesunden und erlesenen Gaumenfreuden und sexueller Erfüllung führen. Mit einem gelungenen Leben aber verbinden wir mehr. Die lustvolle Erfüllung unserer sinnlichen Begierden ist nicht das ganze Leben. Lebensfreude ist mehr als gutes Essen und sexuelle Befriedigung. Der top fitte Athlet bleibt unglücklich, wenn er der Freundschaft nicht fähig ist oder ihm der Sinn fürs Schöne und menschlich Wertvolle abgeht.

Es ist die Erfahrung, dass die Befriedigung von Begierden und der Erfolg in einzelnen Lebensbereichen uns nicht per se glücklich macht. Gerade wenn wir nach viel Mühe und großer Anstrengung uns am Ziel unserer Wünsche glauben, stellen wir fest, dass der erzielte Erfolg eben nicht alles ist und nicht das, was wir uns von ihm erhofft haben. Nicht das Scheitern, der Erfolg mit dem wir nichts anfangen können, zeugt den Überdruss. Die Befriedigung des Satt-Seins wird zum Satt-Haben an der Befriedigung selbst. Die Lust der Erfüllung (eines Verlangens) wird selbst zur schmerzlichen Enttäuschung, weil man in der Befriedigung des Bedürfnisses keinen Frieden findet. Wir verzweifeln am Leben selbst und werden gleichgültig und antriebslos.

Das Buch Kohelet

Das buch Kohelet

Die Ent-täuschung findet sich auch bei „seelischen Güter“ wie dem Erwerb von Wissen. Dass dem Doctor Angelicus, einem der produktivsten und einflussreichsten Denker der Philosophiegeschichte, alles was er geschrieben hatte „wie Stroh erscheint“ darf als ein Beispiel für diese lähmende Verdrossenheit gelten. Es nimmt eine Stimmung des biblischen Buchs Kohelet (oder auch Prediger) auf, die jetzt auch Papst Franziskus mit verblüffendem Eifer den modernen Gesellschaften (des Westens?) entgegengehalten wird. In der Ansprache zur Generalaudienz zu Christi Himmelfahrt am 23. Mai 2022 hat Papst Franziskus das Buch Kohelet zum Ausgangspunkt einer Überlegung zum Alter und zum Zustand unserer Gesellschaft gemacht.

Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger, es ist alles ganz eitel. Was hat der Mensch für Gewinn von all seiner Mühe, die er hat unter der Sonne? Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt; die Erde aber bleibt immer bestehen. Die Sonne geht auf und geht unter und läuft an ihren Ort, dass sie dort wieder aufgehe. Der Wind geht nach Süden und dreht sich nach Norden und wieder herum an den Ort, wo er anfing. Alle Wasser laufen ins Meer, doch wird das Meer nicht voller; an den Ort, dahin sie fließen, fließen sie immer wieder. Alles Reden ist so voll Mühe, dass niemand damit zu Ende kommt. Das Auge sieht sich niemals satt,   das Ohr hört sich niemals satt. Was geschehen ist, ebendas wird hernach sein. Was man getan hat, ebendas tut man hernach wieder, und es geschieht nichts Neues unter der Sonne. Geschieht etwas, von dem man sagen könnte: »Sieh, das ist neu!« – Es ist längst zuvor auch geschehen in den Zeiten, die vor uns gewesen sind. Man gedenkt derer nicht, die früher gewesen sind, und derer, die hernach kommen; man wird auch ihrer nicht gedenken bei denen, die noch später sein werden.[12]

Die Übersetzung scheint nicht ganz einfach. Die Eitelkeitsklage des ersten Satzes (1,2) kann wohl auch so wiedergegeben werden: „Windhauch, Windhauch, sagte Kohelet, Windhauch, Windhauch, das ist alles Windhauch.“[13] Und der Windhauch kann auch zum alles trübenden Nebel werden. In der englischen Übersetzung der päpstlichen Ansprache heisst es z.B.: „On a first reading, this short book is striking and leaves one bewildered by its famous refrain: ’All is vanity’, all is vanity: the refrain that comes and goes, all is vanity, all is ’fog’, all is ’smoke’, all is ’emptiness’ “.

Papst Franziskus

Die Botschaft der Generalaudienz versteht sich als Teil einer „Catechesis on Old Age[14] Er spricht dort von Lebensumständen, die uns zwar Handlungsalternativen anzubieten scheinen, gleichwohl aber immer im selben enden. Es ist a „painful disillusionment“, dass wir die Welt offenbar nicht wirklich zum Besseren verändern können. In diese pessimistische Stimmung können wir zwar in jeder Lebenslage fallen, besonders begegnet sie uns aber im Alter: „Disenchantement [Ernüchterung] comes in old age.“. Was als eine heilsame, gleichsam stoische Ernüchterung wirken könnte, nämlich vom eigenen Handeln nicht zu viel zu erwarten, birgt am Ende die Gefahr der „demoralization“, der moralischen Gleichgültigkeit gegenüber dem Geschehen der Welt. In dieser, der älteren Generation naheliegenden, demoralisierenden Ernüchterung sieht Franziskus das Laster der acedia schlummern: „The monks of the most ancient Christian tradition had precisely identified this illness of the soul … They called it ’acedia’.[15] Die Alten, Viel-Erfahrenen, die manches „Projekt“ scheitern und manche Hoffnung enttäuscht sahen, sind von dieser charakterlichen Deformation besonders gefährdet. Aber: „this is one of the temptations for everyone” und Papst Franziskus fühlt sich genötigt dies warnend zu wiederholen: diese „Krankheit der Seele“ betrifft uns alle. „It is not simply laziness; no, it’s more than that. It is not simply depression. No. Rather, acedia is the surrender to knowledge of the world devoid of any passion for justice and consequent action.[16]

Das Sich-Ergeben in die Umstände, weil man an die Kraft der Gerechtigkeit – oder in meinen Worten: die Unantastbarkeit der Würde der Person – nicht mehr glauben kann (oder will), ist zu einem Wesenszug moderner (westlicher?) Gesellschaften geworden. „The contemporary world“ geprägt durch „a culture that presumes to measure everything and manipulate everything also ends up producing a collective demoralization of meaning, … even a demoralization of goodness.” Die moderne Kultur verschreibt sich ganz den exak

ten Wissenschaften, die sich der Verantwortung fürs eigene Tun verweigern. Franziskus nennt dies eine „neue zynische Vernunft“ (new cynical reason). Es sind wissenschaftliche Allmachtsphantasien, „a ‚delirium of omniscience‘“. Vermeintliches Wissen geht vor unantastbarer Würde und verliert so jede Bedeutung.[17] Die wissenschaftlichen Wissensansprüche sind immer bedingt (hypothetisch), die ethischen Maximen dagegen (wissenschaftlich) unbedingt und kategorisch. Die einen leiten die anderen. Das verkehrt sich in der modernen Welt, weil sie das Bedingte zum Unbedingten erheben: Follow the Science – whatever it takes. „Und am Ende entzieht diese lieblose und unverantwortliche Vernunft auch der Erkenntnis der Wahrheit Sinn und Energie.[18] Papst Franziskus lässt durchklingen, dass er den vermeintlichen Wahrheiten dieser Wissenschaft nicht recht vertraut: „It’s curious: in this culture of knowledge, of knowing everything, even of the precision of knowledge, a lot of witchcraft has spread, but cultured witchcraft. It is witchcraft with a certain culture but that leads you to a life of superstition …

Franziskus appelliert an die Alten sich mit ihrer Erfahrung einzubringen, nicht in das Laster der acedia zu verfallen, der diese Gesellschaft zu verfallen droht. Franziskus spricht von „a society of weariness“, der trägen Gleichgültigkeit, die sich in ihr von Technokraten bestimmtes Schicksal fügt. „Take courage, all of us older people! Take courage and go forth! We have a great mission in the world. But, please, we must not seek refuge in this somewhat non-concrete, unreal, rootless idealism – let us speak clearly – in the witchcraft of life.

Empört Euch!

„Empört Euch“, „Indignez-vous“ hieß es bei Stephane Hessel mit Blick auf den Finanzkapitalismus. Empören wir uns auch über das Delirium der Gesundheitstechnokraten, die uns auf das Gefechtsfeld von Viren reduzieren und Big Pharma ausliefern.  

Honi soit qui mal y pense

Ansprache zur Generalaudienz am 23.05.22 in deutscher Fassung

Ich habe mich bei der Ansprache zur Generalaudienz zum Himmelfahrtstag 2022 im Wesentlichen auf die englische Übersetzung bezogen. Das hat einen erstaunlichen Grund. Die auf der Seite des Vatikans hinterlegten Fassungen in mehreren Sprachen weichen nämlich auffällig voneinander ab. Die englische Fassung zählt 1055 Wörter, die italienische 966. Sie sind inhaltsgleich. Und die deutsche? Sie besteht aus gerade mal 215 Wörtern – also lediglich ein Viertel des Textes. Die Ansprache wird lediglich paraphrasiert und ist um wesentlich Inhalte gekürzt. Können Sie erraten welche? Richtig, es sind vor allem die Ausführungen zur wissenschaftlichen Unkultur, die dort nicht vorkommen. Keine Rede von „zynischer Vernunft“ oder dem „Delirium der Allwissenheit“ der sogenannten exakten Wissenschaften. Die Deutschen sollen vor einer Kritik der „Drosten“-Wissenschaft wohl geschützt werden. Die päpstliche Botschaft ist klar – auch wenn sie englisch, französisch, spanisch oder italienisch gelesen werden muss. Sie geht hoffentlich viral und immunisiert uns gegen den Aberglauben der Wissenschaft und ihrer Hexerei.

[1] Die Rede ist von acedia, die neben superbia (Stolz), avaritia (Habsucht), invidia (Neid), (ira) Zorn, luxuria (Unkeuschheit), gula (Unmäßigkeit) zu den „Hauptsünden“ gerechnet werden (Katechismus der Katholischen Kirche 1866).

[2] Statt von Todsünden wäre es wohl besser von verhängnisvollen Charakterzügen zu sprechen, die den der sie ausgebildet hat, unglücklich machen. Das Unvermögen zeigt sich allerdings in Handlungen, die als „Sünden“ die Wirksamkeit der charakterlichen Disposition bezeugen.

[3] A.a.O., 1866.

[4] So in seiner Scala paradisi 13, der er seinen Namen verdankt: Johannes von der Leiter.

[5] Der Psalm 91 beschwört der Gläubige den Schutz Gottes: „Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe.“ Er gewährt Schutz vor Feinden und Krankheit. „Seine Wahrheit ist Schirm und Schild, daß du nicht erschrecken musst vor dem Grauen der Nacht, vor den Pfeilen, die des Tages fliegen, vor der Pest die im Finstern schleicht, vor der Seuche, die am Mittag Verderben bringt.“ (Ps 91, 4ff.)

[6] Zur Charakterisierung von bullshit jobs und damit einem Großteil unserer Arbeitswelt, siehe David Graeber, Bullshit Jobs. Vom wahren Sinn der Arbeit, 2019 und den schönen Teaser dafür in: https://www.strike.coop/unsinniger-jobs.

[7] ST II-II, q. 35. Art. 1: “acedia, secundum Damascenum, est quaedam tristitia aggravans, quae scilicet ita deprimit animum hominis ut nihil ei agere libeat…

[8] ST II-II, q. 35, art. 1: „tristiam enim secundum s mala est quae est de eo quod est apparens malum et vere bonum.”

[9] ST II-II, q. 35, art. 2, resp. „Man muss also sagen, daß unter den geistigen Gütern eine bestimmte Ordnung herrscht. … Das Traurigsein aber über das göttliche Gut, an dem sich die Gottesliebe freut, gehört zu jenem arteigenen Laster, das man Überdruß nennt.“ (et ideo dicendum est quod in spiritualibus bonis est quidam ordo… sed tristari de bono divino, de quo caritas gaudet, pertinet ad speciale vitium, quod acedia vocatur)

[10] Cf. J. Weisheipl, Thomas von Aquin, Sein Leben und seine Theologie, 1980, 7. Kap., S. 293ff.

[11] 2733.

[12] Kohelet 1, 2-11.

[13] Einheitsübersetzung: https://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/bibel/koh1.html

[14] In italienisch: Catechesi sulla Vecchiaia – 11. Qoelet: la notte incerta del senso e delle cose della vita. Wir werden noch sehen, warum hier hier auf die englische bzw. italienische Fassung zurückgreifen und nicht auf die deutsche, die ebenfalls auf der Seite des Vatikans angeboten wird.

[15]I monaci della più antica tradizione cristiana avevano identificato con precisione questa malattia dell’anima … La chiamavano ’accidia’.

[16]Non è semplicemente la pigrizia: no, è di più. Non è semplicemente la depressione: no. Piuttosto, l’accidia è la resa alla conoscenza del mondo senza più passione per la giustizia e per l’azione conseguente.

[17] Die Ansprache trägt den Titel: „the uncertain night of meaning and of things in life“ („la notte incerta del senso e delle cose della vita”)

[18]Finally, this an-affective and irresponsible reason also takes away meaning and energy from the knowledge of truth.“ Und Italienisch: „Infine, questa ragione an-affettiva e ir-responsabile toglie senso ed energie anche alla conoscenza della verità.

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