Ovids Metamorphosen I: Dichterische Urzeugung

Lesedauer 7 Minuten

Nach der Sintflut entstand der Mensch zum dritten Mal aus einer neuen Verwandlung. Und wie steht es mit all den anderen Lebewesen, Fauna und Flora, die wir nun nach der Sintflut finden? Alle Lebewesen wurden in ihr ja vernichtet – außer denen, die das Wasser bewohnen; heute aber finden wir die Erde (wieder) von einer reichen Fülle von Lebewesen bewohnt.

Noahs Rettungsauftrag

Im judäisch-christlichen Kreationismus wurden sie gerettet (!), gerettet durch Noah und seiner Arche, die er auf Weisung Gottes baute. Sie wurden verschont. Die Arche Noah – obgleich sie von einigen Evangelikalen nachgebaut wurde und manchen als Modell der Heilsgeschichte auch erdgeschichtlich nachvollziehbar scheint – bietet doch ein paar Interpretationsprobleme, wenn wir den biblischen Bericht darüber allzu wörtlich nehmen. Sieht man mal von den abweichenden Zeiträumen, die sich zwischen dem naturwissenschaftlichen und dem kreationistischen Verständnis der Naturgeschichte auftun – so sollen z.B. die Dinosaurier mit der Sintflut ausgestorben sein, die als Wirkung einer vor etwa 4.000 Jahren zu Ende gehenden Eiszeit gedeutet wird – vor allem das schiere Mengenproblem der erhaltenen Arten und ihrer Versorgung auf einer Arche bleibt mindestens erklärungsbedürftig. Immerhin soll es zwischen 2 und 80 Millionen Arten geben, wovon derzeit rund 1,4 Millionen mehr oder weniger gut beschrieben sind.[1] Die Anweisungen Gottes an Noah sind sehr genau:

Nachgebaute Arche – Ark Encounter, Kentucky

Da sprach Gott zu Noah: Das Ende alles Fleisches ist bei mir beschlossen; denn die Erde ist durch sie mit Frevel erfüllt, und siehe, ich will sie samt der Erde vertilgen! Mache dir eine Arche aus Tannenholz; in Räume solltst du die Arche teilen und sie innen und außen mit Pech überziehen. Und so sollst Du es machen: 300 Ellen lang soll die Arche sein, 50 Ellen breit, 30 Ellen hoch. Eine Lichtöffnung sollst du für die Arche machen, eine Elle hoch ganz oben sollst du sie ringsherum herstellen; und den Eingang der Arche sollst Du an ihre Seite setzen.[2]

Wenn man davon ausgeht, dass eine biblische Elle etwa 50 cm misst, dann ergibt sich also eine Arche-Länge von gut 150 Metern. Wenn wir das verdoppeln, dann kommen wir auf die Ausmaße großer Kreuzfahrtschiffe (die größten haben etwa 350 Meter Länge): auf der Harmony oft he Seas, mit ihren 362 Metern Länge eines der größten Kreuzfahrschiffe der Welt, hätten dann also alle Arten Platz finden müssen. Na ja, zumindest muss man dann den Platz gut ausnützen!

Aus eigener Kraft

Jährlich überschwemmter Bereich des Nils

Ovid hat da einen etwas anderen, gleichsam phänomenologischen Zugang: er sucht nicht nach einer heilsgeschichtlichen Weisung, sondern nach Erscheinungen der Wiederbelebung im „lebendigen Kosmos“. Ovid greift bei seiner Renaissance des Lebens auf Naturbeobachtungen zurück, wie sie z.B. im Niltal gemacht werden können. Die alljährlichen Überflutungen des Nils führen nach seinem Rückzug zu einer explosiven Neubelebung der überfluteten Erde, wenn „durch die Strahlen der Sonne / Sich die noch dauernde Feuchte erhitzt“.[3] Überall entsteht wie von selbst (sua sponte) neues Leben. Die Bauern finden „beim Wenden der Schollen Geschöpfe in Menge; / Da gibt’s solche, die sehen sie just im Entstehen begriffen“.[4] Ovid greift zur Beschreibung auf die Vier-Elementen-Lehre  zurück: die feuchte Erde wird durch die Wärme der himmlischen Strahlen belebt: „Als die Erde daher, von der Flut noch schlammig, durch hohe / Himmlische Strahlen der Sonne in mächtiger Hitze erglühte, / Schuf sie unzählige Arten: sie zeugte zum Teil die alten / Formen, dazwischen erwuchsen erstaunliche Wundergeschöpfe.[5]

Der Erde, „dem lebensspendenden Boden“, entwachsen die neuen lebendigen Gestalten „gleich dem Schoß einer Mutter“ mit „ergiebigen Samen“.[6] Feuchte Erde und Wärme muss ins richtige, lebensschöpfende Maß kommen: „Wenn auch das Feuer das Wasser bekämpft, bringt alles die feuchte / Wärme hervor: zwieträchtige Eintracht bewirkt die Erzeugung.[7]

Zwieträchtige Eintracht (discors concordia)

Urzeugung

Das Zusammenführen von widerstreitenden Elementen, die von sich aus eine andere „Bewegungsrichtung“ haben, macht das Neue der Schöpfung aus. „Der sorgliche Gott“ (oder „eine bessere Kraft der Natur“)[8] musste im anfänglichen Chaos die Elemente separieren und ihr geordnetes, kosmologisches Zusammenwirken erzeugen. Prometheus als der Menschen-Töpfer formte aus Erde, die er mit „Regenwasser“ feucht und gestaltbar machte, den Menschen. Nun formt sich aus der Erde selbst durch das Zusammenwirken der Elemente neues Leben.

Michael von Albrecht kann hier in seiner Prosaausgabe etwas wörtlicher übersetzen: „zwieträchtige Eintracht ist für die Zeugung angemessen“ (discors concordia fetibus apta est). Mit Erzeugung/Zeugung ist die Fruchtbarkeit gemeint (fetus), das Leben-Schaffen und Gebären: die Erde ist schwanger mit den sich entwickelnden Formen und lässt sie aus sich entstehen.

Die „zwieträchtige Eintracht“ entspricht dieser lebensspendenden Kraft, sie spricht sich in ihr angemessen aus. Das deutsche „angemessen“ verweist auf ein Maß, dem entsprochen wird. Die Angemessenheit kann nicht „an sich“ und situationsunabhängig bemessen werden. Ein guter Schuh muss dem Fuß des Trägers „angemessen“ sein und bezieht sich auf seinen Verwendungszweck (Reit- oder Kletterstiefel, Lauf- oder Tanzschuhe, Fußball- oder Tennisschuhe). Angemessen (aptum, prepon) beschreibt ein situatives Optimum beim Zusammengefügen von Teilen zu einem „perfekten“ Ganzes.[9]

aptum, Angemessenheit, ist ein Grundgedanke der antiken Ethik und Ästhetik.[10]Das Beste ist Maß“ (ἄριστον μέτρον) und die Kunst (des Handwerks wie des Lebens) besteht darin, das rechte Maß zu finden und z.B. das Übermaß zu vermeiden (μηδὲν ἄγαν: Nichts im Übermaß). Insbesondere in der Rhetorik und Poetik wird das aptum, oder griechisch das prepon (τὸ πρέπον), zu einer „Art ‚Superprinzip‘“ des Redens und Schreibens.[11] Das situativ Richtige ist ethisch die richtige Handlung. In der Rhetorik ist es das richtige Verhältnis von Haltung des Redners (ethos) zur der in Rede stehenden Sache (logos) und der Stimmung der Rezipienten (pathos).[12]

Das „apte dicere[13] spricht etwas so aus, dass es sich dem jeweiligen Adressaten so zeigt, wie es wirklich ist, und in der Rede ganz zur Erscheinung kommt.[14] Kant (1724-1804) versteht sie als „die Beschaffenheit des Begriffs, nicht mehr, auch nicht weniger, als der Gegenstand erfordert, zu enthalten“.

Die dichterische Urzeugung

Was Ovid sagt (dicere) ist der Schöpfung des Lebens angemessen. Sie ist „zwieträchtige Eintracht“, die ein künstlerisches Schaffen auszeichnet. Sie ist ein In-Form-Bringen durch einen „artifex, der ein Ganzes aus Teilen zusammensetzt“. [15] Der Schöpfer der Welt (fabricator mundi, opifex rerum)[16] zeigt sich in der „zwieträchtigen Eintracht“, die er hervorbringt. Ovid wollte sich nicht festlegen, wer es denn gewesen sei – das würde vom Wesentlichen ablenken; es war „eine bessere Kraft der Natur“, die sich darin kundtut. Von den Verwandlungen der Formen zu sprechen (dicere) – wir dürfen ergänzen: richtig, geziemend zu sprechen (apte dicere) – das war die im Prooemium bekundete Absicht der Metamorphosen. Die Schöpfung als „eine bessere Kraft der Natur“ zeigt sich (apte dicere) in der „zwieträchtigen Eintracht“ ihrer Geschöpfe. Es ist das Ovidsche Wort, das dies zum Ausdruck bringt. Es kommt da nicht auf jede einzelne Formwandlung, die Mechanik ihrer Hervorbringung und den Namen des Werkmeisters an. Die Kunst des Kosmos offenbart sich im Ovidschen Werk – oder sagen wir es tiefsinnig verallgemeinernd: im dichterischen Sagen.

[1] Vorausgreifend sei gesagt: auf die „angemessene“ Beschreibung kommt vieles an. Das meinen auch die Evangelikalen. Wir beschreiben die Arten des Lebens richtig, wenn wir sie in ihrem tatsächlichen Sein erfassen. Ein kleiner und ein großer Bär unterscheiden sich durch vielerlei Eigenschaften – gehören aber im Unterschied zu Braun- und Eisbären zur gleichen Art: es kommt also vieles, wenn nicht alles auf die richtige Beschreibung an!

[2] Genesis 6. Der biblische Text scheint dem unbefangenen, aber auch biblisch ungebildeten Leser in vielem durch widerstreitende Perspektiven geprägt: alles Leben soll vernichtet werden, obgleich doch nur „der“ Mensch gefrevelt hat. Gab es wirklich nur eine Familie, die Noahs, die weitgehend schuldlos war? Und was haben die Tiere und Pflanzen mit der Schuld des Menschen zu tun. Schließlich sollen sie dann doch gerettet werden – eigentlich nur die, die nicht im und auf dem Wasser leben. Dazu braucht es jetzt einen ungeheuren Aufwand. Wäre das Ziel nicht besser durch irgendein Virus zu erreichen gewesen? Es hätte wohl der „Symbolik“ ermangelt. Und offenbar ist genau die „Symbolik“ der Treiber der Geschichte?!

[3] I 417f.: postquam vetus umor ab igne / Percaluit solis

[4] I 425 ff.: plurima cultores versis animalia glaebis / inveniunt et in his quaedam modo coepta per ipsum/ nascendi spatium

[5] I 434ff.: ergo ubi diluvio tellus lutulenta recenti / solibus aetheriis altoque recanduit aestu, / edidit innumeras species partimque figuras / rettulit antiquas, partim nova monstra creavit.

[6] I 418ff.

[7] I 432f.: cumque sit ignis aquae pugnax, vapor umidus omnes / res creat, et discors concordia fetibus apta est.

[8] Cf. I 48 und I 21.

[9] Es bezieht sich – wie hier im platonischen Gorgias – nicht zuletzt auf die handwerkliche Kunst: „So wie auch alle anderen Künstler jeder sein eigentümliches Werk im Auge habend nicht aufs Geratewohl zugreifend jedesmal etwas Neues an ihr Werk anlegen, sondern damit jedem das, was er ausarbeitet, eine gewisse bestimmte Gestalt bekomme. Wie wenn du die Maler ansehn willst, die Baumeister, die Schiffbauer und alle anderen Arbeiter (δημιουργός), welche du willst, so bringt jeder jedes, was er hinzubringt, an eine bestimmte Stelle und zwingt jedes, sich zu dem andern zu fügen und ihm angemessen zu sein, bis er das ganz Werk wohlgeordnet und ausgestatte mit Schönheit dargestellt hat.“ (Gorgias 503e)
Die Übersetzung von δημιουργός, demiurgos, mit Arbeiter“ ist „anachronistisch“ missverständlich oder schlicht falsch, sie verdeckt vor allem das hier exemplarisch das Tun des Demiurgen beschrieben und zugänglich wird, der dann als Weltschöpfer in Anschlag gebracht wird.

[10] Im Deutschen wird statt von Angemessenheit auch vom Schicklichen, Gebührendem oder Geziemenden gesprochen. Immer ist die situativ richtige Anwendung eines Maßes das Ziel, das situativ richtige Maßhalten.

[11] So M. Pohlenz in einer einschlägigen Arbeit zum τὸ πρέπον, (Kleine Schriften, Bd. 1, 1965, S. 102), dem das lateinische aptum entspricht.

[12] So die richtungsweisende Definition bei Aristoteles, Rhetorik, III, 7, 1.

[13] So bei Quintilian,

[14] Darin liegt eine Paradoxie, die die Philosophie immer und immer wieder beschäftigt hat: wirklich ist in gewissem Sinne das, was ohne unser Zutun ist. Was wir sagen ist wahr, wenn das Gesagte der Sache „entspricht“ wie sie unabhängig von unserem Sprachen über sie ist. „Entsprechen“ kann sie aber nur unserem Sprechen und damit als etwas, das in unserem Sprechen da ist.

[15] Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, Bd. 1, §1055.

[16] I 57 und I 79.