„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das besagt, dass es schlechterdings keinen (guten) Grund gibt, sie anzutasten. Für die würdelose Behandlung von Menschen gibt es keine Rechtfertigung. Ihre Achtung verpflichtet moralisch und bindet rechtlich. Das gilt auch (und gerade) für den Staat. Die Würde des Menschen „zu achten und zu schützen ist die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“. Es steht für die „staatliche Gewalt“ nicht in Frage, ob oder wann und unter welchen Umständen sie „zu achten und zu schützen ist“ – die Antwort kann hier nur sein: „immer“ und „unter allen Umständen“ –, politisch entschieden kann nur werden, wie und in welcher rechtlichen Form die „staatliche Gewalt“ ihre Achtung und ihren Schutz realisiert.
Unantastbare Würde und ihre unveräußerlichen Grundrechte
Die grundsätzliche rechtliche Form ist die Formulierung von Grundrechten. Im Artikel 1 bekennt sich „das deutsche Volk“ „darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten“ und „die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht“.[1]
Die Grundrechte beschreiben rechtlich, was unter Würde zu verstehen und zu schützen ist. Die Würde des Menschen gibt ihm unveräußerliche Rechte. Sie ihm zu nehmen oder sie „anzutasten“ heißt, ihn würdelos zu behandeln und seine Würde „anzutasten“. Die Würde wird immer verletzt, wenn ein Grundrecht verletzt wird. Hier gibt es keinen Spielraum für Relativierung. Die „Gleichheit vor dem Gesetz“ gilt bedingungslos und wer „wegen Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt“ wird, dessen Würde wird angetastet – ganz gleich welche hehren politischen Ziele damit verbunden sein mögen.[2]
Ein- und Beschränkungen
Das Grundgesetz spricht allerdings an mehreren Stellen von Einschränkungen oder Beschränkungen von Grundrechten. Aber: „In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.“ (Art. 19) „Einschränkungen“ in diesem Sinne sind Explikationen, die das Grundrecht stärken indem sie ihm einen konkretisierten Sinn geben. „Die Freiheit der Person“ z.B. „ist unverletzlich“ (Art. 2) gilt natürlich nur soweit sie nicht „die Rechte anderer verletzt“. Freiheit besagt eben nicht, „auf Teufel komm‘ raus“ machen zu dürfen, was einem grade gefällt. Es gibt keine Freiheit zum Massenmord. Es gilt deshalb gesetzlich, durch positives Recht zu regeln, was mit dem „unverletzlichen Grundrecht“ wirklich gemeint ist. Das ist Sache der politischen Willensbildung, die sich historisch in unterschiedlichen Formen ausprägt.
Insbesondere im Konfliktfall geht es um das richtige Verständnis der Grundrechte und der durch sie beschriebenen Würde. Würde versteht sich ja nicht von selbst und es ist keineswegs selbstverständlich, was wir im Einzelfall darunter zu verstehen haben. Dieses Ringen um das richtige Verständnis von Würde als einer Lebensform hat Peter Bieri facettenreich dargestellt. Was in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts unter „Gleichberechtigung der Geschlechter“ verstanden wurde, unterscheidet sich doch nicht unwesentlich von den heutigen Gender-Diskussionen. Und natürlich hat das „Brief-, Post und Fernmeldegeheimnis“ (Art. 10) das Vorliegen einer technischen „Post“-Infrastruktur zur Voraussetzung, die es so nicht in allen Gesellschaften gab und gibt. Dennoch unterstellen wir den Schutz der Privatsphäre als grundlegendes Recht, das Personen als solchen zukommt. Wer Personen ihre Selbstbestimmung der Mitteilung raubt und ihre Privatheit nicht respektiert, der degradiert sie zu Informationsträgern und verletzt ihre Würde.[3]
Unantastbar, unverletzlich und unveräußerlich
Entscheidend ist, dass die Würde der Person unantastbar bleibt und ihre Grundrechte unverletzlich sind und keineswegs auch nur zeitlich aufgehoben werden dürfen.
Es gibt keine Hierarchie der Grundrechte so als wäre das „Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ wichtiger als das der „Gleichheit vor dem Gesetz“. Wir bräuchten dafür ein Grund-Grundrecht bzw. eine Bewertungs- und Ableitungsregel für ihre hierarchische Anordnung. Das würde in einen infiniten Regress führen. Der Lebensschutz kann kein „Recht“ sein, das über allem steht. Das würde nämlich bedeuten, dass ein würdeloses menschliches Leben geboten sein könnte[4] und ein würdevolles Sterben unmöglich wäre. Die Würde des menschlichen Lebens besteht gerade auch darin, nicht auf Leben reduziert zu sein. Wer den Lebensschutz rechtlich über alles stellt, tastet die Würde an.
Es gibt auch kein gegeneinander Auf- oder Verrechnen von Grundrechten. Unter Aufgabe des einen kann nicht das andere „gerettet“ werden – und schon gar nicht die Würde des Menschen, deren rechtliche Grundbedingung gerade durch die Grundrechte beschrieben werden soll. Der „Mutter-Schutz“ (Art. 6) und die „Unverletzlichkeit der Wohnung“ (Art. 13) kann nicht unter Aufgabe der „Gleichberechtigung der Geschlechter“ (Art. 3) und des „Rechts auf Freizügigkeit“ (Art. 11) zugesichert werden. Wer Personen um Grundrechte beraubt, der tastet die Würde an.
Insbesondere steht das Gemeinwohl nicht über den Grundrechten. Das Gemeinwohl setzt die Anerkennung der Würde des Menschen und damit der Grundrechte voraus, die sie rechtlich ausdrücken. Grundrechte dürfen nicht mit Hinweis auf das Gemeinwohl aufgehoben werden. Das Gemeinwohl ist gegenüber der Würde des Menschen kein „höheres Gut“ – im Gegenteil. Es kann Gemeinwohl nur sein, wenn es die Würde der Personen achtet und sichert, die das Gemeinwesen bilden. Wer Personen mit Blick auf das Gemeinwohl die Grundrechte beraubt, tastet die Würde an.[5]
Staatliche Gewalt verfügt nicht über Würde
Grundrechte gelten unbedingt und sind unverletzlich. Die „echte“ Einschränkung von Grundrechten müsste ja umwillen eines höheren Guts erfolgen, das jenseits der Würde des Menschen läge. Das freilich ist ausgeschlossen. Die Würde ist unantastbar und durch kein höheres Gut bedingt. Wer über die Würde und der aus ihr resultierenden Grundrechte mit „staatlicher Gewalt“ verfügen wollte, so als könnte er sie aus- und wieder einsetzen, der zeigt ein tendenziell paternalistisches, jedenfalls vor-demokratisches Verhalten. Die Verletzung der Würde kann nicht zu ihrem Wohle geschehen. Wir verdanken die Würde keiner „staatlichen Gewalt“. Sie kann uns von ihr nur geraubt, aber nicht (wieder) geschenkt werden.
[1] Dem entspricht auch die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ der Generalversammlung der Vereinten Nationen von 1948. In der Präambel wird die „Anerkennung der angeborenen Würde“ mit „gleichen und unveräußerlichen Rechten“, den „Menschenrechten“, die „durch die Herrschaft des Rechts zu schützen“ sind.
[2] Das gilt vice versa auch für Bevorzugung!
[3] Vergleichbar ist die Freiheit von Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre. Natürlich gilt sie zunächst für solche Gesellschaften, die das ausgebildet haben. Das Grundrecht steht wohl stellvertretend für das Recht einer Person, sich zu dem, was ist, frei und selbständig verhalten zu können. Bei der Freiheit der Lehre machen die GG-Mütter und Väter deutlich, dass sie „von der Treue zur Verfassung“ „nicht entbindet“. Hier sieht man schön, dass es nicht darum geht, die Freiheit der Lehre mal eben anlässlich höherer Gefahren einzuschränken, sondern an die Achtung und die Sicherung der Würde des Menschen zu binden.
[4] Ein Widerspruch in sich.
[5] Gerade die Vorstellung, dass das Gemeinwesen (Volk) alles und der einzelne Bürger (Volksgenosse) nichts ist, hat proto-faschistische Züge.