Puccinis Fake News

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Zu CDHs Replik
Oper in der Oper

„Wunderschön.“ – „Unbedingt eine der schönsten Arien der Operngeschichte!“ – „Reine Kunst.“

Das alles hört man, wenn man nach Puccini fragt. Ich bekenne, dass ich mit den italienischen Belcanto-Opern meine Schwierigkeiten habe. Das mag an mir liegen. Alles spricht dafür. Manches ist für manchen eben nicht gemacht. Und über Geschmack lässt nicht streiten, vor allem, wenn man ihn nicht hat. Vieles kommt mir freilich allzu theatralisch, pompös und effekthascherisch vor. „Oper halt“, sagen die einen. „Warum willst Du auch hingehen?“ – Will ich ja nicht. Aber ich erinnere mich, dass ich auch Mozarts Opern dereinst … etwas „unterschätzte“ … dass ich erst einer Erweckung bedurfte. Ja, vielleicht: cosi fan tutte! So läuft’s halt immer. Man muss schon wollen, damit‘s was wird.

Toco oder Tosca?

Giacomo Puccini – Wikimedia

Also wollte ich das eine oder andere Mal. Und wurde immer bestätigt: das ist nichts für mich. Und vielleicht, ja vielleicht, ist es ja wirklich nichts, nichts Wirkliches. Was unterscheidet nochmal Opern von Operetten, E- von U-Musik, Mozart vom Musikantenstadl und Toco von Tosca? Wer sucht, der findet natürlich auch so manchen, der einem Recht gibt. Und wenn dann noch der eine oder andere mit Abitur und gutem Leumund dabei ist, dann darf man sich in seiner „Insensibilität“ schon weitsichtig vorkommen. Man ist halt nicht leichtgläubig und nicht einer der „Vielen“, vielmehr gebildet und avantgardistisch urteilsstark. So manchem namhaften Musikkritiker gilt Tosca als „kitschig“ und geradezu widerlich, effekthascherisch und irgendwie billig. Richard Strauss nennt Tosca „notorischen Kitsch schlechter Sorte“ und Gustav Mahler spricht von einem Machwerk, gut ein „Meistermachwerk“, aber das macht es nur bedingt besser. Selbst glühendste Verehrer Puccinis leugnen nicht, dass er wohl nicht in die Reihe der wirklich ganz Großen der Musikgeschichte gehört. Ein epochemachender Erneuerer der Musik ist Puccini wohl eher nicht. Seine Beliebtheit freilich steht außer Frage. Seine Opern gehören weltweit zu den am meisten aufgeführten und sind so etwas wie klassische Pop-Music. Also lag ich mit meiner vornehmen Zurückhaltung doch gar nicht so falsch?! Auch wenn Puccini-Liebhaber es natürlich anders bewerten, zeigen sie durchaus ein gewisses Verständnis dafür, dass die Beliebtheit von Puccinis Musik an seiner massentauglichen Eingängigkeit und akademischen Voraussetzungslosigkeit liegen könnte.

Alles Belcanto?

Wenden wir uns mal einen Moment von Puccini ab und den anderen zu, Rossini, Donizetti und Verdi, all den Meistern der Appogiaturen und Trillern, der Portamenti und Koloraturen, diesen Meistern der Kastraten und dicken Klangkörperfrauen. Stimmgewaltige Tenöre stapfen in ihren Opern wie gefallsüchtige Toreros über die Bühne, schwingen ihre Arien-Muletas und geben mit großer Geste und eindrucksvollem Geschrei dem armen Opfer die hohe C-Espada von oben zu fühlen.

Alles was Recht ist. Ist die Zeit des Belcanto nicht wirklich abgelaufen? 1900, dem Jahr der Uraufführung Toscas, bricht ein schreckliches Jahrhundert an, das über 100 Millionen Kriegstote hervorbringen wird. Ein halbes Jahrhundert industrieller Revolution hatte die Welt grundlegender geändert als die gemächlichen tausend Jahre davor es vermochten. Dampfmaschine und Verbrennungsmotor, Großindustrie und Welthandel, haben die menschlichen Gemeinschaften auseinandergerissen und durcheinandergeworfen, gigantische Produktivkräfte freigesetzt und unvorstellbares Massenelend erzeugt. Die Welt wird ins unendliche All erweitert und ins unfassbar Kleine zerlegt. Die menschlichen Sinne und alten Ordnungen können den gigantischen Machwerken nicht mehr folgen.

Nietzsche, der 1900 stirbt, hatte mit dem Hammer philosophiert, die alte Welt des Wahren und Schönen zertrümmert und ins Jenseits von gut und böse gestellt. Die Liebe zur Weisheit enttarnt sich als Wille zur Macht. Im Annus mirabilis wird 5 Jahre später Einstein die Welt endgültig aus ihren stabilen Ankern heben, die Kräfte relativieren und für den großen Knall freisetzen. 14 Jahre nach Toscas Uraufführung wird der „Große Krieg“, die alte Welt endgültig zerschlagen.

„Es kommt etwas auf einen zu …“

Von dem, was da an zerstörerischer Kraft der Moderne auf uns zukommt, bekommen wir in Wagners Götterdämmerungsmusik etwas zu hören. Seine Leitmotivik scheint fast eine Vertonung der inneren (dialektischen) Dynamik der Produktivkräfte und Klassenkämpfe zu sein. In Wagners Musik „geht ein Gespenst um in Europa“, das Gespenst des totalen, kosmischen Krieges. Bei Mahler meint man den ersten Weltkrieg bereits im Anmarsch zu hören: Was hinter den Hügeln der kommenden Jahre noch unsichtbar verborgen liegt, dessen unvermeidliches Voranschreiten hört man hier wie den Donner eines heranziehenden Weltgewitters. Mahlers Musik ist in einem Zwischenreich. Auf dem Durchbruch zur Atonalität der Moderne lässt Mahler die alte Welt in ihrer Todesweihe hören.

Erinnern wir uns an die maskeradenhaften Paraden der K-und-K Erzherzöge und gottkaiserlichen Oberbefehlshaber, mit denen sie anfänglich in den „Großen Krieg“ zogen? Federgekrönte Paradehelme und lederne Pickelhauben werden schnell durch schmucklose Stahlhelme ersetzt. Hing an den Husarenuniformen mit goldbesetzten Bordüren noch der Mann-gegen-Mann-Degen gibt man jetzt den grauen Felduniformen Gasmasken mit. Auf Pferden ritt man in die Schlacht, um im Maschinengewehrfeuer und kniehohem Schlamm zu verenden. „In diesem Schlamm“ der Schützengräben war kein metaphysisches Durchkommen mehr „und jetzt wo ich bis zu den Knien eingesunken bin“, bringt ein englischer Soldat das um sich greifende Gefühl auf den Punkt, „überfällt mich die Angst, dass ich mich nie wieder herausziehen kann.1

Die Marneschlacht 1914 – Wikimedia

War beim Aufbruch in den Krieg noch Musik zu hören, die große Gefühle zu formen versuchte, machten die Abnutzungsschlachten der immer feuerstärkeren, immer größeren Artillerie jede Harmonie hinfällig. Den dicken Bertas wurden andere „Töne“ entlockt. Sie „pflügten“ Flandern mit einer Feuerkraft um, die nichts mehr ließ wie es war. Wollen wir uns tatsächlich einen Belcanto-Tenor vorstellen, wie er im Schützengraben mit Gasmaske und knietief im Morast gegen die Maschinerie der Zerstörung der alten Welt ansingt.

Dem Fin de Siecle, dem Zeitalter der „Decadence“ und ihren Fleurs du Mal war mit mit bel canto nicht mehr beizukommen. So gesehen könnte der „schöne“ Puccini als ein begabter Zu-spät-Gekommener gelten, der irgendwo zwischen alter Folk-Oper und neuer massentauglicher Operette, zwischen Filmmusik und Unplugged Musical im Sog der Belcanto-Oper und ihrem Hautgout untergeht. Ein gefeiertes Sternchen der damaligen Neuen Medien war er selbst ein Übergangskind, ein Zwitterwesen zwischen dem Gesamtkunstwerk der großen Oper und dem neuen globalisierenden Maschinenwesen, der neuen Technik und den neuen schnellen Autos, die er so liebte, und dem alten Musengesang. Zerrieben von der großen Musik alter Tage und dem „Großen Krieg“ der kommenden.

Oper des 20. Jahrhunderts

Was die gebildete Kritik gegen das „Machwerk“ Tosca vorbrachte2 ist einigen Pucc(inin)isten ein Beweis seiner Modernität. Für sie ist Tosca kein anachronistisches Nachsitzen in alten bel canto „Komponierhäuschen“. Sie gilt ihnen tatsächlich als eine der ersten Opern des 20. Jahrhunderts, die genial die „schönsten Arien der Operngeschichte“ mit dem herannahenden Schrecken des neuen Jahrhunderts verknüpft.

Worum geht es in Tosca? Um echte, große Gefühle und herzzerreißende Schicksale, um Liebe und Tod, jämmerlichen Verrat und heldischen Sieg? Das würde man erwarten und kann man immer wieder hören, wenn man das Puccini-geneigte Publikum fragt. Ist das falsch? Nun ja, irgendwie schon, jedenfalls aber auch nicht wirklich treffend.

Tosca lässt den Zuhörer reichlich irritiert zurück, was ihm da eigentlich vorgeführt wurde? Wir müssen ein bisschen ausholen. Die Geschichte spielt hundert Jahre vor der Uraufführung, im Rom des Jahres 1800. Auch hier lässt ein neues Jahrhundert mit neuen Kräften das alte im Sumpf der Geschichte zurück. Die Geschichte um Tosca und ihren Geliebten, Cavaradossi, um Angelotti, den politischen Flüchtling und Scarpia, den sadistischen Polizeichef, vollzieht sich „zeitgleich“ mit der Schlacht bei Marengo am 14. Juni 1800. Diese hunderte von Kilometern entfernt vor sich gehende Schlacht zwischen den napoleonischen Truppen der Revolution und den Alliierten der feudalen Reaktion ist richtungsweisend für die Geschehnisse in Rom und das Verständnis der Oper. Sie wirkt „zeitgleich“ auf die Akteure in Rom, die am Ende alle tot sind.

Wider die alte Ordnung

Elf Jahre zuvor, 1789, wurde das ancienne regime aus den Angeln gehoben. Die Welt sollte eine neue Ordnung bekommen und mit einem code civil bürgerlich werden. Die alten Mächte freilich bäumten sich auf. Es drohte alles wieder verloren zu gehen. So stürmte Napoleon Anfang des Jahres 1800 mit einer Reservearmee in bislang nie gesehener Geschwindigkeit („á marches forcées“) die verschneiten Pässe der Alpen hinauf und noch halsbrecherischer auf italienischer Seite wieder hinunter. Alles schien mit revolutionärem Willen möglich. Die Kräfte der alten Mächte waren zwar nach Mannschaftsstärke und Bewaffnung überlegen; sie können aber den Energien der neuen Zeit nicht standhalten: ungeahnte Geschwindigkeit und nationaler Pathos, revolutionäre Entschlossenheit und wütende, aufgestaute Gestaltungsenergien.

Die Schlacht im oberitalienischen Marengo nimmt einen dramatischen Verlauf und ist durch mehrere, abrupte Wendungen geprägt. Napoleon täuscht seine Gegner und am Ende sich selbst. Er macht Fehler, die dann ihrerseits Fehler seiner Gegner zur Folge haben. Alles gründet mehr in der Unübersichtlichkeit der neuen Verhältnisse und Geschwindigkeiten als in überlegter Kriegsführung: die Österreicher, haushoch überlegen, täuschen sich über die wahre Stärke der französischen Truppen; Napoleon irrt sich bei der Einschätzung Melas, des österreichischen Oberkommandierenden, der sich wieder in der von Napoleon täuscht.3

Napoleon hätte wohl eine Niederlage hinnehmen müssen, wäre da nicht Desaix zur Hilfe gekommen. Desaix freilich war dafür gar nicht vorgesehen. Desaix war von Napoleon erst drei Tage vorher zum Kommandierenden des neugebildeten vierten Armeecorps gemacht und nach Genua abkommandiert worden. Desaix hörte freilich beim Abzug den Kanonendonner, der nach Napoleons Plänen erst Tage später hätte einsetzen dürfen, und kehrt um.4 Als er am Nachmittag bei Marengo eintrifft, stellt er fest: „Die Schlacht ist vollständig verloren. Aber es ist erst zwei Uhr, weshalb wir noch die Zeit haben, eine weitere heute zu gewinnen.5 Also Gegenangriff. Die durch Österreich geführten alliierten Truppen des alten, feudalen Europas werden aufgerieben, die gesamte Artillerie fällt in revolutionäre Hände: der Weg nach Italien, nach Rom, steht offen. Womit wir wieder zu Tosca, unserer Oper, kommen. – Übrigens stirbt Desaix, der Held von Marengo, durch eine Kugel noch am Tag der Schlacht. Und auch das führt uns zur Oper Puccinis zurück.

Revolution der Revolution der Revolution

In Rom guckt man im Juni 1800 gebannt nach Marengo. Die revolutionären Stürme, die 1789 in Paris ihren Ausgang nahmen, hatten auch Rom erreicht. 1798 wurde Rom, der Kirchenstaat (!), nach dem Muster des französischen Vorbilds republikanisch. Das blieb nicht ohne Wirkung auf den Klerus und das Selbstverständnis der katholisch Gläubigen. Bald machten sich antifranzösische Stimmungen breit, die von den alten Mächten fleißig angefacht wurden. Als schließlich Rom wieder in die Hände der Alliierten fiel, wurde das Rad der Revolution gnadenlos zurückgedreht.

Im Kunstraum der Kirche

Szenenbild aus dem 1. Akt – Wikimedia

Das ist der Hintergrund der Geschichte Toscas. Die Reaktion wirkt, die republikanischen Kräfte wurden vertrieben oder gefangen gesetzt. So Angelotti, der als „Konsul der ehemaligen römischen Republik“ in der Engelsburg festgesetzt wurde. Ihm gelingt es, auszubrechen und er flüchtet sich in die Kirche, in der der erste Akt der Oper spielt. Hier arbeitet (!) grade der Maler Cavaradossi an einem Altarbild. Cavaradossi ist für die republikanische Sache durchaus aufgeschlossen, ist aber im Grunde unpolitisch und widmet sich seiner Kunst. Der flüchtige Angelotti bittet Cavaradossi, ihm zu helfen und Unterschlupf zu gewähren. Cavaradossi versteckt den politisch Verfolgten in seinem Haus. Cavaradossis größere Sorge gilt allerdings Tosca, seiner Geliebten, die ihm durch ihre Eifersucht das Leben nicht immer leicht macht. Tosca ist ebenfalls der Kunst „verpflichtet“, zeigt kein politisches Interesse, neigt aber zum religiösen Eifer. Sie ist gefeierte (Opern-) Sängerin und Schönheit, und wird von Scarpia begehrt, dem gnadenlosen Polizeichef der Reaktion. Er räumt in Rom auf und entfernt alle republikanischen Elemente. Auf der Suche nach Angelotti kommt er in die Kirche, in die Angelotti geflohen war und wird dort auf Cavaradossi aufmerksam. Er ahnt, dass Cavaradossi Angelotti zur Flucht verholfen hat, vor allem aber sieht er eine Möglichkeit, sich die „Zuwendung“ Toscas zu erpressen. Die Nachricht vom Sieg der reaktionären Kräfte in Marengo, die mit dem Rückzug Napoleons gegen Mittag festzustehen schien, erreicht Rom und bestärkt Scarpia in seinem politisch-sadistischen Vorgehen.

Die Folter endet nie

Der zweite Akt spielt im Palazzo Farnese, Scarpias Hauptquartier. Dort lässt er Cavaradossi foltern, um das Versteck Angelottis zu erfahren. Er nutzt die Folter an Toscas Geliebten nicht zuletzt, um Tosca zu erpressen: sie könnte ihren Geliebten retten, wenn sie sich ihm, Scarpia, hingeben würde. Tosca lässt sich auf einen Handel ein, der sich bald als völlig substanzlos erweist. Tosca will sich Scarpia fügen, wenn er den Geliebten, Cavaradossi, frei lasse und ihm schriftlich freies Geleit zusichere. Inzwischen hat sich aber das Kriegsglück gedreht. Rom erreicht nun die Nachricht, vom Sieg Napoleons bei Marengo. Jetzt heisst es schnell handeln, und schnell beseitigen, was einem beim erneuten Umsturz gefährlich werden könnte. Scarpia nimmt Toscas Vorschlag an. Es müsse allerdings eine fiktive Erschießung Cavaradossis inszeniert werden, damit alle ohne Gesichtsverlust und weitere Strafverfolgung Cavaradossi freikommen könne. Nachdem Scarpia entsprechende Befehle zu geben schien, einen geschriebenen „Freibrief“ an Tosca übergibt und nun seinen „Lohn“ einfordert, wird er von Tosca erstochen.

Auf der Engelsburg

Francisco de Goya: Erschießung der Aufständischen – Wikimedia

Der dritte Akt spielt auf dem Dach der Engelsburg, wo die Erschießung der politisch Gefangenen stattfindet. Cavaradossi wird zur Urteilsvollstreckung geführt, die nun nach dem Sieg der revolutionären Truppen bei Marengo einen besonders gnadenlosen Anstrich bekommt. Cavaradossi verabschiedet sich gerade vom Leben, da stürmt Tosca hinzu und beruhigt Cavaradossi: es werde keine wirkliche Exekution stattfinden, stattdessen müsse er gute Schauspiel-Miene zum bösen Polit-Spiel machen, danach wären sie frei und könnten aus Rom fliehen. Natürlich ahnen wir, dass Scarpia den Befehl zur Exekution nicht widerrufen und sie nur zum Schein zu einer Schein-Hinrichtung werden lässt. Längst ging es nicht mehr um den politischen Sieg. Marengo verloren und Angelotti tot (er hatte sich der Verhaftung durch Selbsttötung entzogen). Er wollte Tosca „bekommen“ und über sie noch dadurch triumphieren, dass ihre Erniedrigung ohne Erfolg blieb und sie nichts als ein jämmerliches Opfer seiner Verschlagenheit sei. Cavaradossi stirbt und Tosca stürzt sich, den Freitod wählend in die Tiefe.

Am Ende alle tot

Keine der Hauptfiguren bleibt am Leben. Alle Überlegungen erweisen sich als unsinnig. Jede Durchtriebenheit durchkreuzt sich – kaum initiiert – selbst. Alle Betrügereien bleiben erfolglos, alle Opfer umsonst. Die politischen Würfel fallen anderswo – im fernen Marengo. Revolution und Gegenrevolution bringen sich im Strudel der eigenen Überzeugungen selbst zum Versinken. Was zunächst wie ein Sieg aussieht, wird umgehend zur verheerenden Niederlage. Die Zuschauer, die am 14. Januar 1900 der Uraufführung beiwohnen, wissen, dass auch die Nachrichten vom Sieg der revolutionären Kräfte Fake News waren, jedenfalls eine große Illusion. Dem revolutionären Zwischenhoch sind längst wieder die Kräfte der Restauration gefolgt. Die mit Napoleon verbundenen Hoffnungen haben sich als so haltlos erwiesen wie die großen Gesten der handelnden Tosca-Figuren.

Piu forte! Piu forte!

Puccinis Tosca wird von einem Schrecken bestimmt, der schicksalshaft über allen Figuren hängt. Uns Zuschauern überkommt „das unabweisliche Gefühl langsam heranschleichenden lauernden Unheils“.6 Aus der Kirche des ersten Aktes werden wir im zweiten Akt in die Folterkammer der Polizei („dem Ort der Tränen“) und im dritten auf den Erschießungsplatz des in sich zusammenstürzenden Regimes geführt. Wir nehmen an einer goyaesken Erschießung teil, die jeden Anschein von Legitimität verloren hat. Die Folter, die seit der Aufklärung als das Böse schlechthin gilt, betritt nun die Opern-Bühne und wird in einer Direktheit und Ausführlichkeit geschildert, die erschüttert. Wir hören die Schreie des Gefolterten und sind Zeugen der sich steigernden Qualen. Als der Erfolg sich nicht schnell genug einstellt, wird den Folterknechten von Scarpia das „Piu forte! Piu forte!“ befohlen.

Die Folter Scarpias macht nicht den leisesten Versuch, sich irgendwie durch einen guten Zweck zu rechtfertigen. Sie wird nicht als etwas gezeigt, dass zumindest für die Handelnden selbst durch „gute“ Zwecke „geheiligt“ würde. Im Gegenteil. Das Böse dient dem Bösen, die Folter den sadistischen Neigungen Scarpias. Die Folter ist Teil einer narzistisch-sadistischen Triebbefriedigung. Macht dient nicht (mehr) als Mittel, eigene Interessen durchzusetzen. Ihre Ausübung ist selbst der letzte Zweck. Sie will sich erleben, „wahrnehmen“ und steigern. Als die Nachricht vom Sieg der revolutionären Kräfte eintrifft, stirbt Angelotti von eigener Hand. „Na gut“, kommentiert Scarpia achselzuckend, „dann hängt ihn tot an den Galgen“. Man soll zumindest glauben, dass er Opfer Scarpias geworden sei! Fake News allüberall.

Aus großer Liebe größeres Leid

Scarpias Begierden lässt ihn wie er selbst bekennt „Gott vergessen“, in dessen Auftrag er politisch doch zu wirken behauptet. Die Liebe ist nur ein fake, der zu eigenem Vorteil genutzt werden muss. Er sucht nicht Liebe, er sucht Erlebnis von Macht. Der Hass Toscas ist ihm Genuss. „Was macht das schon?“ – Gebrochener Wille ist ihm begehrenswerter als Verliebtheit, Demütigung kräftiger als Zuwendung. Die Triebbefriedigung gründet in der Erniedrigung der Opfer. Die Folter Cavaradossis ist nur ein Teil der narzistischen Selbststeigerung genauso wie die „Vergewaltigung“ Toscas. Und für Liebende ist die Gewalt am Geliebten miterlittene Gewalt und damit für Scarpia gesteigerter Genuss. Die Liebenden schaffen sich „aus großer Liebe noch größeres Leid“.

Mit „Ha piu for te sapore“ werden wir durch eine verführerische Melodie Ton für Ton in ein sadistisches, narzistisches Gespinst hineingezogen, aus dem wir mit einem Donnerschlag aufgeschreckt werden: „Ich begehre. Was ich begehre, muss ich haben, mich daran sättigen und dann wegwerfen auf der Suche nach Neuem.

In Kafkas Straflager

Mit Scarpia bringt Puccini eine Figur auf die Opernbühne, die den heraufziehenden Schrecken des 20. Jahrhunderts personifiziert. Er gehört zum Personal von Kafkas Straflager und weist auf das Jahrhundert des Schreckens voraus. Klonovskis etwas unwilliger Vergleich mit Hermann Göring ist schon recht treffend. Und was naserümpfend als „Folterkammermusik“7 kritisiert wird, hat doch einen Anklang an den Sound des neuen Jahrtausends. „Die brachialen Akkorde zu Beginn von Tosca haben etwas Bauchvorschiebend-Raumbeherrschendes, Niederwalzendes, eindrucksvoller lässt sich die Gestik brutalen Machtausübens und Über-Leichen-Gehens musikalisch kaum ausdrücken.8 Der Befehl „Piu forte! Piu forte!“, der im Januar 1900 das erste Mal ergeht, endet im Gaskrieg und der atomaren Zerstörung: „dort, von wo das Grauen ausgeht, ertönt das Scarpia-Motiv“9

In dieser Opernwelt ist alles aus den Fugen. Es sind „überall nur Häscher und Schergen“. Das alles wäre schon schlimm genug. Wirklich schlimm freilich ist, dass ihnen nichts entgegenzusetzen ist. Politische Ideale, Kunst und Religion, haben ihre Kraft verloren. Die Hauptfiguren sind totgeweihte Möchte-Gerns, die von überkommenen Ideen und gefakten Lebensentwürfen geplagt werden.

„Ich wünschte, ich würde mich für Tennis interessieren“

Cavaradossi, vom reaktionären Messner als „Voltairianer“ verdächtigt, ist kein politischer Künstler.10 Er sucht Erfüllung in der Kunst. In der ersten ergreifenden Arie („Recondita armonia“) beschwört er die Schönheit. Doch je intensiver er sie besingt desto deutlicher wird, dass er ihrer Kraft nicht gewärtig ist, sondern ihr sehnsüchtig nachstellt. Dass er ein Altarbild malt, ist seiner Kunst gleichgültig. Im Malen versucht er sich vielmehr der Geliebten zu bemächtigen. Das, was an der echten Tosca ein wenig nervt, ihr religiöser Spleen und ihre leidige Eifersucht, das glaubt er durchs Kunstbild zurechtrücken zu können. Angelotti kommt er nur zur Hilfe, weil Scarpia, „jener scheinheilige Wüstling, der hinter andachtsvoller Maske, sich der Ausschweifung hingibt und der geilen Begierde“, „seiner“ Tosca nachstellt.

Tosca wiederum ist geltungs- und gefallsüchtig. Sie möchte richtig lieben und glauben. Echter Glaube, glaubt sie, beweise sich durch konsequente Regelbefolgung und z.B. dadurch, „alles ihrem Beichtvater zu sagen“. Ihre Liebe wird ihr zur eifersüchtigen Inbesitznahme, die von einer tiefsitzenden Unruhe geprägt ist, sich selbst nicht wahrhaft geliebt zu sehen. Tosca und Cavaradossi sind Liebessehnsüchtige. „Ich wünschte, ich würde mich für Tennis interessieren“, singen Tocotronic. Tosca und Cavaradossi wären gerne echte Künstler und echte Liebende. „Ich wäre ganz bestimmt ein anderer als ich’s jetzt bin / Es wäre unbedingt ein Leben mit mehr Sinn.“ Diesen Sinn, der ihnen verloren ging, suchen sie nun angestrengt und künstlich in großen Gesten und großen Gefühlen.

Cavaradossi ist ein Künstler, der ein echter Künstler sein möchte; er ist ein Kunst-Schauspieler. Und wenn Tosca ergreifend in Vissi d’arte, vissi d’amore singt, „Ich lebte für die Kunst, für die Liebe, tat nie einem Menschen etwas zuleide“, dann fühlen wir mit ihr, nicht weil wir ihr recht geben, sondern weil narzistische Selbstgefälligkeit selten so schön ausgedrückt wurde und sie uns in ihrer blinden Selbstgerechtigkeit anrührt.

Das Leben wird ihr zur Bühne, auf der sie ihre Rolle gut spielen möchte. Von Scarpia wird ihr auch sarkastisch bestätigt, dass sie „auf der Bühne nie tragischer“ war. Cavaradossis Bild der Magdalena beeindruckt sie ob seiner Schönheit. Sie fordert gleichwohl eine Korrektur: „male ihre Augen schwarz!“. Es möge ihr zu liebe geschehen – ungeachtet der Realität und der schönen Komposition. Das schöne Bild, meint Tosca, „verhöhnt, verlacht mich“. Cavaradossis Antwort in der wunderbaren Arie „Quale occhio al mundo puo star di paro“ bestätigt nur die Realitätsferne seiner Kunst und im Grunde auch den Verdacht Toscas: ihre schwarzen Augen sind „in dieser Welt“ zwar ein unüberbietbares Zeichen der Liebe … aber noch lange kein Grund für eine Abbildung in der Kunst!? Und je schöner sich die Arie entwickelt desto unverhüllter wird die Cavaradossische Ausrede. Ihm ist, nach der Meinung des Messners, „nichts heilig“ und alles verwendbar für „unheilige“ Kunst. Auch Tosca weiß, dass es eine Ausrede ist, findet sie aber so schmeichelhaft, dass sie sich fügt.

Auch das Schöne muss sterben

Ein Fake jagt den nächsten und kommt im dritten Akt in der vermeintlichen Schein-Hinrichtung zum ausdrücklichen Höhepunkt. Cavaradossi soll zum Schein fallen, „gut fallen… wie Tosca im Theater“. Und als die Schüsse fallen, ruft sie ihm zu „Da! Stirb jetzt!“ Cavaradossi folgt der Regieanweisung. Er wird zum perfekten Schauspieler einer unsinnigen Regie, er ist, was er spielt, tot. „Das ist ein Künstler!“, bemerkt Tosca anerkennend. Und auch diese Illusion kehrt sich gegen sich selbst.11

Die Welt, die Puccini in Tosca zeigt, ist eine ohne kosmische Ordnung, ohne bestimmenden Glauben, ohne gestaltende Kraft der Kunst. Die politische Welt ist durch Zufall, dem Feind der Vernunft, und sich selbst täuschende Täuschung bestimmt. Was Wahrheit ist und was Fake News, das lässt sich nicht mehr recht bestimmen.

Mit der Wahrheit stirbt die Kunst (wie Cavaradossi und Tosca). Kunst kann nichts mehr zeigen als sich selbst. Das Auge aber, das nur noch sich selbst sieht, lässt das Wirkliche in einem unsinnigen Nebel zurück und ist krank. Die Bindung der Kunst an kosmische Schönheit und moralisches Ideal sind längst aufgelöst. Die alte Kunst ist nicht mehr frag-würdig, sie ist fraglos verloren. Kunst muss sich neu erfinden, indem sie z.B. die merkwürdige Faszination für das Böse entdeckt. Das Mittelstück und Zentrum von Tosca, der zweite Akt, gehört ganz dem Grauen Scarpias. Folter und die Niedertracht Scarpias sind keine krankhaften Abweichungen, keine geächtete Perversion, sie sind staatstragende Gestaltungskräfte und irgendwie „faszinierend“.

Und es bleibt die Sehnsucht, es bleiben die Sehnsucht-Sehnsüchtigen. Cavaradossi: „in „einer der schönsten und ergreifendsten Melodien, die jemals komponiert wurden12 (E lucevan le stelle) wird in der Stunde der Verzweiflung „schmachtendes Liebkosen“ besungen, deren „Stunde längst verflogen“ ist.

Der Weg zum Film ist bereitet. Alles Sehnsucht, alles reine Kunst, die auf sich selbst und ihre Effekte setzt. Was bei Puccini noch mit der Oper verbunden, das wird später zum Film. Glaubt man einigen Filmtheoretikern, dann löst der Film als Gesamtkunstwerk die Oper ab. Je weniger das Kunstwerk zeigen kann desto mehr muss es von sich selbst und seinen Effekten zeigen. Puccinis Tosca ist schnell „geschnitten“. Das Stück in fünf Akten wird auf drei Opernakte ohne lange „Kamerafahrten“ und Standbildern zusammengedrängt. Vieles wird nur angedeutet. Manch‘ musikalisches Motiv hätte ausgeschlachtet werden können. Vieles hört sich an wie Filmmusik, wie der Sound einer neuen Welt beweglicher Abziehbilder.

Son qui

Nur Puccinis Musik scheint von dieser epochalen Wende zu wissen. „Mario, Mario, Mario! – Son qui13– hört sich an wie der Hilfeschrei der Gequälten, dem Puccini mit einer wundervollen Melodie sein „hier bin ich …“ antwortet, ich mit meiner Oper und ihrem Sirenenklang, der der Katastrophe in der unmusischen Realität vorausgeht. Die Schlussszene, in der alles zum Fake, zum großen Schauspiel wird, besingt im Untergang noch einmal die Kraft der Kunst, der Farben und Harmonien.

Belcanto ist der Abgesang des Schönen und damit vielleicht seiner Wahrheit. Puccinis Tosca-Belcanto stellt sich den Fake News entgegen und wird selbst zum Fake. Tosca ist die „opernhafteste Oper14, der letzte Rest der alten Opernwelt, ihr Ende und ihre Vollendung Tosca ist der Fake der alten Oper, der Abgesang auf einen Gesang, der zur Welt passte, ihren (kosmischen) Klang nachklingen ließ. Der Sound, der jetzt zur Welt passte, wäre unmelodisch, unharmonisch, atonal. Die Unstimmigkeit der schönen Stimmen treibt uns die Tränen in die Augen. Dass uns der „Schöngesang“ so überrascht, so unwirklich klingt und fremd, daher rührt ihr berühmter Gänsehauteffekt.15

Meine erste Puccini Oper ließ lange auf sich warten. Ich wollte von den letzten Tagen des Schönen einfach nichts wissen. Tod ist in traditionellem Verständnis die Trennung der Seele vom Körper. Mit Puccini trennt sich das Schöne vom Wirklichen und stirbt.16Die den Madonnen gleichen wollen, entströmt der Moderhauch der Hölle“, heißt es im 1. Akt. Das gilt nicht zuletzt von Puccinis Oper. Fraglich, ob das Schöne in seiner Körperlosigkeit unsterblich oder endgültig verloren ist. Die entwirklichte Schönheit ist jedenfalls nicht unsterblich und schon gar nicht göttlich, sie ist nur die schmucke Verpackung einer heillosen Welt. Puccini scheint davon zu wissen.

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1 Marc Plowman, britischer Soldat über seinen Einsatz an der Somme, zit. n. H. P. Willmott, Der erste Weltkrieg, 2004, S. 166.

2Unter ‚Gebildeten‘ war und ist es üblich, Tosca geschmacklos, obszön, kolportagenhaft-reißerisch, die Effekte zu grell, die Handlung über die Massen brutal zu finden …“ (Michael Klonovsky, Der Schmerz der Schönheit, Über Giacomo Puccini, 2008, S. 71)

3 Napoleon wollte die Überraschung nutzen und angreifen – wie ihm das Tage vorher bei Montebello gelungen war. Noch bevor er dies konnte, wurde er selbst von den Österreichern angegriffen. Zwei Angriffe konnten zurückgeschlagen werden, der dritte führte zum Rückzug Napoleons.

4 Übrigens ein Erfolgsgeheimnis der neuen Zeiten: Desaix entscheidet in eigener Verantwortung und gegen den Befehl Napoleons, der ihn ja nach Genua beordert hatte. Der Kanonendonner verlangt von ihm eine Entscheidung und er trifft sie. – Aber das ist eine andere Geschichte.

5 Zit. nach. Johannes Willms, Napoleon, Eine Biographie, 2005, S. 280.

6 R. Specht, Giacomo Puccini. Das Leben. Der Mensch. Das Werk, 1931.

7 So Julius Korngold zit. n. Michael Konovsky, a.a.O., S. 71.

8 Michael Klonovsky, a.a.O., S. 82.

9 Michael Klonovsky, a.a.O., S. 87.

10 Seine politischen Ambitionen kommen aus einem Gestus vermeintlicher Künstlerbedeutung und gekränkter Männlichkeit; ihn führt Scarpias gewaltsamer „Erfolg“ bei den Frauen mehr zur Politik als die Ideale einer Revolution.

11 Selbst die Schein-Schein-Hinrichtung kehrt sich gegen sich selbst. Die Schein-Hinrichtung ist selbst eine „Spielart“ der Folter. Sie lässt dem Verurteilten „den Tod erleben“ und verlängert und intensiviert damit die Todesangst. Hier freilich wird das Opfer unbewusst in den Tod gerissen. Cavaradossi erwartet im Vertrauen auf den listigen Plan den befreienden Schuss, der dann tödlich ist. Erschießung und Tod werden zum Theater, das sich dann doch als schreckliche Wirklichkeit herausstellt.

12 Michael Klonovsky, a.a.O., S. 73.

13Son qui“ – für mich eine der schönsten Stellen der Oper. In ihr ist Cavaradossi und Tosca, das ganze Drama von Schein und Sein, Genervtheit und echter Zuwendung, Hoffnung und Unglauben zu hören.

14 Michael Klonovsky, a.a.O., S. 71.

15 Auch die alten Opern-Volksfeste hatten ihren Hautegout: sie lagen zwischen Karneval und musizierender Prozession und Fackelzügen, manchmal sakral und oft profan, zwischen Sonntagskurparkkonzert und Jahrmarktbelustigung: der schrei-stärkste Mann der Welt, der Melodien-Jongleur und Arien-Feuerspeier, alles Stunts für die große Illusion von Gefahr und Abenteuer mit künstlichem Licht und weltferner Bühne. Heute sind es die BBC-Proms Giga-Events, das Arien Hitparaden Business mit zweifelhafter Kunst- und Geldwäscher Hi-Society und Haute Couture, die einem den letzten Geist endgültig austreiben.

16 Das freilich kann als eine schöne Definition von Kitsch gelten. Kann es auch schönen Kitsch geben? Das wäre dann wohl Puccini/Tosca. Tosca als Zerrbild des Religiösen und der Kunst.

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