Hermann Lübbe gehört nicht gerade zu meinen „Leib-und-Magen-Autoren“. Eher im Gegenteil. Bis zu seiner Emeritierung Professor für Politische Philosophie an der Universität Zürich, wird er eher der konservativen Sozial- und Kulturphilosophie zugerechnet. Ganz im Sinne der Ritter-Schule, der er entstammt, verfolgt er eine modernitätskritische „Rehabilitierung der Praktischen Philosophie“ und der Politik, die an die aristotelische und hegelianische Tradition anknüpft. Jürgen Habermas hat das eine „Theorie der Nachaufklärung“ genannt; Ernst Tugendhat sah darin eine „ethische Gegenaufklärung“.
Der Titel des 2019 vorgelegten „kleinen Buchs“ (Vorrede) ist in diesem Sinne programmatisch: Politischer Moralismus. Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft. Ihm geht es dabei weniger um die „alte“ Auseinandersetzung von Gesinnungs-, Verantwortungs- oder Tugendethik. Lübbe sieht vielmehr eine Moralisierung der Politik, bei der die Gesinnung der politisch Agierenden wichtiger ist als die Vernünftigkeit der Vorschläge, die sie machen. Die Moralisierung glaubt sich dabei gegenüber „unmoralischen“ Herrschaftsformen totalitärer Prägung erhaben. Dem widerspricht Lübbe: „Moralisierende Argumente spielen in totalitären Systemen eine ungleich größere Rolle als in liberalen.“[1] Er führt das am Beispiel des Nationalsozialismus und des Stalinismus vor. In totalitären Herrschaftssystemen setzt die Moralisierung nicht aus, sondern feiert Urständ: der Verstoß gegen traditionelle Wertordnungen der gemeinsamen Lebenswelt („den elementaren Regeln herkömmlichen Rechts und traditionaler Moral“[2]) wird vielmehr durch eine extreme Moralisierung erst möglich. „Je offensichtlicher man in der politischen Praxis gegen elementare Regeln gemeinsamer Rechts- und Moraltradition verstößt, um so intensiver wird die moralische Reflexion … Nicht die moralisierende Reflexionsfähigkeit ist beschädigt, sondern die Urteilskraft, die einen in Orientierung an Erfahrung und traditionell gefestigtem politischen Wirklichkeitssinn gemeinsinnsfähig urteilen ließe, was erlaubt und was nicht erlaubt ist.“[3]
Verräterische Terrorhysterie
Für den politischen Moralismus besonders aufschlussreich ist sein etwas hilfloses Verhältnis zum Terrorismus. Lübbe erörtert ausführlich (Kapitel iii) die „Terrorhysterie“ insbesondere der siebziger und achtziger Jahre. Die Zahl der Todesopfer war gegenüber der von „gewöhnlichen Gewaltverbrechen“ außerordentlich niedrig. Aufregung verursachte sie, weil die „Täter“ für sich etwas reklamierten, was ihnen nicht zugesprochen werden durfte, nämliche eine moralische Einstellung. Die Täter nehmen für sich (und tun es noch heute) das „höhere Recht“ in Anspruch, ohne das sie, „in Gesinnung verwandelt“, niemals hätten tun können, was sie taten. Der Moralismus des Terrors musste deshalb aus Sicht des „Politischen Moralismus“ entlarvt, die Terroristen zu „normalen Verbrechern“ und zu „moralischen Unpersonen“ erklärt werden.
Moralische Unpersonen
Inzwischen werden die politische Auseinandersetzungen aus Sicht Lübbes zunehmend „moralistisch“ und das heißt „ad personam“ geführt: „Statt der Ansicht und Absicht des politischen Gegners … zu widersprechen, qualifiziert man moralisierend die Person dieses Gegners und gibt sich öffentlich erstaunt und empört, was für einer er doch sei.“[4] Es wird vorgegeben, „das Gewissen zu sein, das andere [die Gewissenlosen; HL] sich zu machen hätten“.[5] In der Auseinandersetzung mit anderen politischen Meinungen wird „der Widersprechende in den Zustand moralischer Unpersonen“[6] versetzt. Die eigene Position entspringt einer moralischen Gesinnung und ist deshalb alternativlos.
Die Unfähigkeit des Politischen Moralismus
Bei den großen Herausforderungen vor denen die modernen Gesellschaften stehen (ökologische Katastrophen, Klimawandel, Rüstungs-, Finanz- und Sozialpolitik) (Kapitel V und VI), wird in „moralisierender Aufgeregtheit“ ein Unterschied der moralischen Bewertung der Ziele unterstellt. Die unterschiedlichen Lösungsansätze werden nicht nach ihrer Kraft, die offensichtlichen Probleme zu lösen, sondern moralisierend bewertet. Lübbe sieht in der „Krise unserer Zivilisation … nicht ein Zielkrise, vielmehr eine Steuerungskrise“. Den Problemen wird man nicht Herr, wenn man immer wieder die richtige Gesinnung einfordert, sondern indem man Urteilskraft ausbildet. Die freilich wird durch „die öffentlichkeitsorientierte Neigung zu einer Demonstration der moralischen Intensität der Besorgnis“ ersetzt. Echte gesellschaftliche Lösungen lassen sich nur einer offenen, nicht moralisierenden Auseinandersetzung finden, die die Pluralität der Meinungen, Standpunkte und Interessen zulässt und sich zunutze macht.
Politischer Moralismus ist „die Selbstermächtigung zum Verstoß gegen Regeln des gemeinsamen Rechts und des moralischen Common Sense unter Berufung auf das höhere Recht … [einer] moralisch besseren Sache“[7]. Und es ist vor allem „die rhetorische Praxis des Umschaltens vom Argument gegen Ansichten und Absichten des Gegners auf das Argument der Bezweiflung seiner moralischen Integrität“. Die Auseinandersetzung wird durch die Empörung ersetzt, dass der andere „es sich gestattet, eine solche Meinung zu haben und zu äußern“.
Wie triftig Lübbes Überlegungen sind, kann man zur Zeit besonders schön wahrnehmen.
[1] Hermann Lübe, Politischer Moralismus. Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft. Berlin 2019, S. 7.
[2] Ibid. S. 15.
[3] Ibid. S. 16f.
[4] Ibid. S. 54.
[5] Idid. S. 69.
[6] Ibid. S. 27.
[7] Ibid. S. 120.
Bildnachweise
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Hermann Lübbe (WikiCommons): https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hermann_L%C3%BCbbe_2007.png?uselang=de
Das habe ich mir so noch nie überlegt. Aber ich glaube es stimmt wirklich – und leider auch bei mir Die Auseinandersetzung wird durch die Empörung ersetzt, dass der andere „es sich gestattet, eine solche Meinung zu haben und zu äußern. Die Fähigkeit und vielleicht auch der Mut zur Auseinandersetzung nimmt ab. Warum? Weil es anstrengend ist? Viel Zeit kostet, sich eine fundierte Meinung zu bilden? Corona ist ja jetzt das aktuelleste Beispiel dafür. Aber vielleicht auch, weil die Probleme so unwahrscheinlich komplex sind? Es ist jedenfalls keine gute Entwicklung, weil es Feinde schafft, die sich unversöhnlich gegenüber stehen. Und je wichtiger einem der eigenen Standpunkt dann ist, desto größer der Feind, der es wagt, eine andere Meinung zu haben.