Paratus intelligere

Lesedauer 27 Minuten

Es gibt kleine Werke, die sind ganz groß. Nur wenige Seiten stellen dann die Welt auf den Kopf. In Kunst und Literatur ist das eh klar. Man denke an Kafkas Erzählungen[1] oder die kleinformatigen Meisterwerke van Eycks.[2]

Auch in Wissenschaft und Philosophie finden wir „kleine“ Meisterstücke, die gelegentlich mit unscheinbaren Titeln große, epochale Gedanken verbergen. Was sollen wir Großes bei Schriften erwarten, die Titel tragen wie Über einen die Erzeugung und Verwandlung des Lichtes betreffenden heuristischen Gesichtspunkt[3] oder Zur Elektrodynamik bewegter Körper[4]? Und das kleine Bändchen Discours de la méthode pour bien conduire sa raison et chercher la verité dans les sciences [5] erweckt den Anschein, einer propädeutischen Studieneinführung und ist dann eine folgenreiche „Revolution der Denkungsart“.

De casu diaboli

Der kurze Dialog De casu diaboli von Anselm von Canterbury (1033 – 1109) ist auch so eine wegweisende Schrift. Sie entstand zwischen 1085 und 1090, also knapp tausend Jahre vor unserer Zeit. Es hat sich seither einiges verändert und der Titel Vom Fall des Teufels deutet diesen Abstand an. Wer glaubt unter uns aufgeklärten Geistern (noch) an den Teufel? Zumindest scheint es etwas, das Philosophie und Wissenschaft nicht berührt.

Aber auch theologisch ist der „Fall des Teufels“ heute vergleichsweise unbedeutend. (Einige) Christen glauben zwar (heute noch), dass es den Teufel gibt. Diesem „Glauben“ wird man aber durch eine philosophische Untersuchung nicht wirklich entsprechen können.[6] Sollte sich z.B. zeigen, dass wir über den „Fall des Teufels“ philosophisch nichts wirklich Erhellendes zu sagen vermögen, könnte das den Gläubigen darin bestärken, dass die Vernunft eben Grenzen hat und sich zwischen Himmel und Erde so einiges findet, dem man mit „purer Vernunft“ nicht gerecht werden kann.

Glauben und Wissen

Monologion

Das Verhältnis von Glauben und Wissen ist eine der Fragen, denen die christliche Philosophie des Mittelalters intensiv nachgeht. Es ist eine Herausforderung, die freilich weit hinter die christliche Philosophie zurückreicht. In welchem Verhältnis μῦθος und λόγος, prägende Geschichten und vernünftige Begründungen stehen, ist für die Philosophie von Anfang an fraglich. Für die abendländische Kultur- und Geistesgeschichte geschieht hier im 11./12./13. Jahrhundert die richtungsweisende Prägung.[7] Anselm spielt hier eine tragende Rolle. Im Proslogion (1077/78) hatte er eine „Wahrheit“ des Glaubens, nämlich die vom Dasein Gottes, durch einen (ontologischen) Gottesbeweis zu einer Vernunftwahrheit „erheben“ wollen. Damit hat er die Diskussion der Folgejahrhunderte entscheidend bestimmt.[8]

Schuldfähigkeit

Fidens quaerens intellectum, der Glaube, der nach Einsicht sucht, wendet sich nun in De casu diaboli der praktischen Philosophie zu. Es ist die Frage, wie wir Freiheit zu verstehen haben. Das ist für die Entwicklung des abendländischen Denkens von noch grundlegenderer Bedeutung als die metaphysische Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Glauben. Freiheit ist etwas, das wir Personen zuschreiben. Weil sie über ihr Tun und Lassen frei entscheiden, machen wir sie für ihr Handeln verantwortlich. Wir loben und tadeln sie für das, was sie getan haben. Das freilich hat weitreichende rechtliche und ethische Konsequenzen für unser Selbstverständnis und unser Zusammenleben. „Schuld“ sind wir nur, für das, was wir „frei“ getan haben. Wenn jemand eine Vase umwirft, weil er gestoßen wurde, dann werfen wir ihm das nicht vor. Auch Kleinkinder, geistig Verwirrte oder Epileptiker ziehen wir nicht zur Verantwortung. Und so ist schnell strittig, wofür wir tatsächlich verantwortlich gemacht werden können.

Die Frage nach der Freiheit, nimmt bei Anselm die Frage nach dem Fall des Teufels an. Der Teufel gilt in der christlichen Tradition als ein „gefallener“ Engel, der sich von Gott abwandte und damit schuldig wurde. Den Fall des Teufels zu verhandeln, verspricht etwas viel Tiefgreifenderes zu verstehen als das für moderne Ohren der Titel von De casu diaboli vermuten lässt, nämlich die „Schuldfähigkeit“.

Hören wir also zu. Es wäre ein „teuflischer“ Fehler, nicht zuzuhören, weil wir nicht (mehr) an den Teufel glauben, und uns von einem wie Anselm nichts mehr sagen zu lassen. Homer lebte mit Göttern, die aus unserer Welt verschwunden sind. Wer sich überheblich von Homer abwendet, weil er von Zeus und Athene, Apollon und Dionysos spricht, der baut sich eigensinnig eine Welt und ist in diesem Sinne „idiotisch“.[9] Zumindest verabschiedet er sich von der Kultur, die wir abendländisch nennen, und lebt in seiner (kleinen) Welt der Selbstgerechtigkeit Marke Eigenbau. Tatsächlich dürfen wir ja gerade von denen die größten Einsichten erwarten, die anders denken als wir selbst. Also: paratus intelligere.[10]

Die Schuld des Teufels

Die Schuld des Teufels ist für Anselm eine unstrittige Glaubenswahrheit.[11] Nicht ob der Teufel gesündigt hat, ist fraglich, sondern wie wir sein Sündigen „vernünftig“ verstehen können. „Daß der Teufel sündigte, wird dir nicht fraglich sein – … –; sondern nur auf welche Weise er sündigte.[12]

Was ist der Grund für die Verfehlung des Teufels? Könnte seine Verfehlung darin gründen, dass ihm etwas fehlt? Der Teufel gilt als gefallener Engel. Die guten Engel zeichnet etwas aus, was dem Teufel abzugehen scheint. Anselm nennt es etwas sperrig Beharrlichkeit (perseverantia). Der Teufel wusste zwar, was er tat,[13] konnte aber vielleicht diesem Wissen nicht Folge leisten. Handeln ist wissentlich. Wer nicht weiß, was er tut, der ist für seine Handlung nicht verantwortlich.[14] Aber dem Wissen folgt nicht immer die Handlung. Wir handeln nicht selten wider besseres Wissen. Zum Beispiel, weil wir durch andere verlockende Dinge abgelenkt werden oder uns handfeste Interessen anders handeln lassen. Fehlte ihm also das Wissen oder fehlte ihm die „Kraft“, dem Wissen zu folgen?

Im Unterschied zu ihm „fehlen“ die „guten“ Engel nicht. Ihnen kommt etwas zu, was dem Teufel abzugehen scheint. Unterscheidet sie also die „Ausstattung“? Was sie sind, sind sie – in christlicher Tradition – durch Gottes Schöpfung oder – naturalistisch gewendet – durch die Natur und ihre evolutionäre Entwicklung. Läge es an der „Gabe“, dann läge die Schuld nicht beim Teufel, sondern wäre in der ausbleibenden „Gabe“ begründet: „Wenn der gute Engel empfing (accepit), weil Gott gab, so empfing der Böse nicht, weil Gott nicht gab.[15] Wenn die einen etwas (von Gott oder der Natur) hätten, was die anderen nicht haben und gleichwohl für die Bewertung ihrer Handlungen relevant ist, dann wären ihnen ihre Handlungen gar nicht zuzurechnen. Das würde den bösen Engel (moralisch) entlasten. Er kann keine Verantwortung dafür haben, etwas nicht zu tun, was er nicht tun kann. Zugleich würde allerdings auch das Handeln der „guten“ Engel nicht mehr lobenswert sein. Sie wären wie der böse Engel nicht für ihr Handeln verantwortlich.

Aber: „Nicht-Geben muss nicht immer die Ursache des Nicht-Empfangens sein, auch wenn Geben immer die Ursache des Empfangens wäre.[16] Das ist zweifellos sehr gewitzt: etwas kann als Gabe angeboten, aber nicht genommen werden. Der Mangel gründet dann nicht in der mangelnden Bereitschaft zu geben, sondern in der es anzunehmen! Man kann verhungern, weil man das Brot nicht isst, das einem gereicht wird. Dafür mag es gute Gründe geben. Damit hat sich das Problem aber nur verlagert. Die Frage wird nun sein, ob er „annehmen“ konnte oder nicht, und welche Gründe er hatte, das Angebotene auszuschlagen.

Wenn es tadelnswertes Handeln gibt und wir – mit der christlichen Tradition – davon ausgehen, dass der Teufel schuldhaft (und also böse) gehandelt hat, dann müssen wir unterstellen, dass er das Vermögen hatte, so oder anders zu entscheiden und zu handeln. „Gott gab ihm den Willen und das Vermögen, die Beharrlichkeit anzunehmen.[17] Wenn er ausschlug, was ihm gegeben wurde bzw. er das Gegebene nicht behalten wollte, dann wusste er, was er tat, und tat es „freiwillig“ und das heißt er hatte (seine) Gründe.[18]

Anselms Beispiel eines hungrigen Geizkragens zeigt, dass er zwar Geld behalten will, aber für Brot bezahlen muss. Also muss er loslassen, was er eigentlich festhalten möchte. Der Teufel „wollte nicht deshalb loslassen, was er besaß, weil er es nicht (mehr) festhalten wollte, sondern er wollte darum nicht (mehr) festhalten, weil er loslassen wollte“.[19]

Es gibt also einen Grund fürs „Loslassen“ von dem, was er eigentlich festgehalten wollte.[20] Für den hungrigen Geizhals war es das Brot, das er gegen Geld kaufen musste. Der Hunger war der Grund für das Loslassen des Geldes. Welcher „Hunger“ motiviert den Teufel?

 „Der Grund dafür, dass der Teufel nicht wollte, als er sollte und was er sollte, liegt also nicht in einem Mangel an Willen, der auf einen Fehler der göttlichen Gabe zurückzuführen wäre. Er selbst hat vielmehr dadurch, dass er wollte, was er nicht sollte, den guten Willen vertrieben, indem er sich von einem bösen überkommen ließ.[21]

Es gibt also „einen bösen Willen“, der den Engel überkommt und ihn zum Teufel macht. Anselm bestimmt ihn formal: Gegeben wird, weil er es haben soll.[22] Die Sünde besteht im Loslassen (deserere) dessen, was zugesprochen wurde, und dieses Loslassen geschah um willen des Erlangens eines anderen Guts. Er sollte wollen, was ihm gegeben wurde. Und das bedeutet, er sollte wollen, was Gott will, dass er will.[23] Gottes „Vorschrift“ richtet sich nicht auf sein Verhalten, sondern auf sein willentliches Verhalten, das, was sein Verhalten zu einem Handeln macht, nämlich auf seinen Willen.

Recht handeln wir (und die Engel), wenn wir wollen, was wir sollen (was Gott will, dass seine Geschöpfe wollen). Wenn wir etwas anderes wollen als wir wollen sollen, vergehen wir uns (wie der Teufel). Nicht zu wollen, was wir wollen sollen, heißt, nicht das zu wollen, was uns zugesprochen oder uns eigen ist und stattdessen etwas anderes wollen.[24]

Anselm unterscheidet zwischen zwei grundsätzlichen Ausrichtungen, die der Wille annehmen kann: das Streben nach Lust und Glückseligkeit nämlich nach Gütern, die uns angenehm sind (oder doch so scheinen) und die Gerechtigkeit, hier also die „Rechtheit“ des Willens, nämlich zu wollen, was gewollt werden soll. Was gut für uns in gewisser Hinsicht gut ist (uns gut tut), das muss nicht an sich gut sein und muss z.B. nicht im Einklang mit dem stehen, was anderen gut tut. Gut ist ein dreistelliger Prädikator: etwas ist gut für etwas im Hinblick auf etwas. Das in gewisser Hinsicht Gute ist nicht das Gute schlechthin. Unser Streben nach „Glück“ kann den Rechten Anderer widersprechen. Glück und Gerechtigkeit müssten sich entsprechen – so eine grundlegende ethische Vorstellung –und nach Anselm gilt, dass die Glückseligkeit nur dem zugedacht ist, der die Rechtheit des Willens wahrt.

Die Schuld (des Teufels) misst sich an der Gerechtigkeit, zu wollen, was man soll. Der Teufel „sollte wollen, was immer er besaß.[25] Er „sollte wollen, was er von Gott empfangen hatte[26] und das bedeutet Ja zu seiner natürlichen Ausstattung zu sagen, seine Natur anzuerkennen und ihr gemäß zu leben. Dem widersetzt er sich. Darin liegt das Böse seines Tuns, das nun noch genauer den Grund gegangen werden soll.

Das Gedankenexperiment der Schöpfung

Anselm von Canterbury

Anselm behilft sich dabei eines Gedankenexperiments. Er erschafft den Engel in Gedanken „aber nicht vollständig mit einem Mal, sondern Stück für Stück“.[27] Das Komplizierte wird gedanklich zerlegt und in Gedanken wieder aufgebaut, damit das Zusammenwirken der Teile verständlich wird. Es nimmt seinen Ausgangspunkt vom bisherigen Ergebnis, dass es ein Streben nach Glückseligkeit gibt und ein davon unabhängiges nach Gerechtigkeit. Das Gedankenexperiment erfolgt dann in drei Schritten.

(I) Der reine Wille

Der Engel bekommt zunächst das Vermögen des Willens und zwar als reines Vermögen, also ohne auf etwas ausgerichtet zu sein. Es ist der „reine“ Wille, der noch durch nichts bestimmt ist, das er will. Er hat einen Willen, ohne etwas zu wollen. Der Wille ist gleichsam richtungslos.

Der Sinn von Gedankenexperimenten ist u.a., dass man etwas untersuchen kann, was es (so) nicht gibt, nämlich z.B. einen „reinen“ Willen, der nichts will. Es gilt zu prüfen, ob der reine Wille, der Wille als solcher, „sich selbst vom Nicht-Wollen zum Wollen“ bewegen kann, ohne dass ihm ein Gegenstand gegeben wird? Das Experiment des „reinen“ Willens schließt dies aus. Wer nichts will, will nicht. Das Vermögen wird durch die Tätigkeit und diese durch ihren Gegenstand bestimmt. Wollen heißt immer etwas wollen und dieses etwas, wird ihm „von außen“ gegeben. Er will etwas, das von ihm unabhängig ist. „Wer nichts will, kann nichts durch sich wollen.[28] So muss dem Teufel (wie jedem Engel oder handelnd Wollenden) ein Streben nach etwas zukommen, z.B. das für ihn Angenehme zu wollen.[29]

(II) Streben nach Glückseligkeit

Nehmen wir also an, Gott gab dem Engel zunächst nur den Willen zur Glückseligkeit.[30] Er will nun nichts als das Angenehme. Er beurteilt alles unter dem Gesichtspunkt von Lust und Unlust und entscheidet sich immer für das, was ihm angenehmer erscheint. Es gibt für ihn keinen Grund, etwas anderes zu wählen. Natürlich kann er sich darin täuschen, also z.B. etwas wählen, das sich im Großen und Ganzen als schädlich erweist. Er flieht zum Beispiel bittere Medizin oder die Schmerzen einer Zahnbehandlung. Er muss sie freilich in Kauf nehmen, will er wirklich (auf Dauer) ein angenehmes Leben führen.

Nicht anders würde sich die Sache verhalten, wenn dem Engel statt dem Glückseligkeitsstreben einzig den Gerechtigkeitssinn gegeben würde. Er würde dann immer das wählen, was ihm gerecht(er) erscheint. Und wieder könnte er sich darin täuschen und irrtümlich etwas wählen, das sich tatsächlich als ungerecht erweist. Die gleiche Verteilung von knappen Wasserressourcen etwa erweist sich als ungerecht, wenn der Wasserbedarf der Betroffenen ungleich ist – der eine würde verdursten, während der andere mit dem zugeteilten Wasser Blumen gießen würde. Aber seine „Schuld“ bestünde im Unwissen und bestünde allenfalls darin, nicht sorgfältig recherchiert zu haben, nicht aber in einem „bösen“ Willen. Sein Unwissen würde seinen Willen nicht „ungerecht“ machen.

Schuld käme ihm nur zu, wenn er „ungerecht“ wollen könnte. Und das war von Anselm so bestimmt, dass er etwas anderes will als Gott will, das er will. Er braucht also eine „echte“ Handlungsalternative, wenn er willentlich gerecht oder ungerecht handeln soll – nur willentliches Verhalten ist Handeln. Er würde sich sonst immer noch „animalisch“ verhalten und einem „natürlichen“ Streben oder Trieb folgen.

(III) Gerechte Glückseligkeit

Um gerecht sein zu können, braucht der Wille eine doppelte Ausrichtung. „Weil der Engel also weder aufgrund des Wollens von Glückseligkeit allein, noch aufgrund des ausschließlichen notwendigen Wollens dessen, was ihm zukommt, gerecht oder ungerecht genannt werden kann, … so mußte Gott unabdingbar beide Willen in ihm so zusammenkommen lassen, daß er glücklich sein und dies auf gerechte Weise wollte.[31] Wir können das – unter Absehung der christlichen „Rahmenhandlung“ – die transzendentale Bedingung eines gerechten Willens nennen.

Wenn der Teufel sündigt, dann will er etwas, ein Gut, von dem er weiß, dass er es nicht wollen soll. Er will etwas, das er nicht wollen soll, christlich gesprochen, von dem er weiß, dass Gott will, dass er es nicht will. Dies lässt „sich übrigens auch auf die menschliche Natur ausweiten.[32] Wenn wir eine Person für ihre Handlung tadeln, dann tadeln wir nicht ihr Nicht-Wissen, sondern ihren Willen.

Der Teufel gibt wissentlich und willentlich ein ihm gegebenes Gut auf, um ein anderes Gut zu erlangen. Wir dürfen vermuten – und das Gedankenexperiment legt es nahe –, dass der Teufel die eigene Glückseligkeit, also sein Streben nach Lust, der Gerechtigkeit vorzieht. Das kann aber offen bleiben. Entscheidend ist, dass er seinen Willen über das stellt, was er wollen soll. Er setzt auf seinen Willen und darauf, dass sich sein Wille realisiert, sein Wille wirklich wird und die Welt sich seinem Willen gemäß verhält. Er will, dass es ihm gut geht, dass er die Güter genießt, die er erstrebt. Damit setzt er sich – christlich gesprochen – Gott gleich. Der Teufel wollte – wie später auch Eva – „göttergleich“ werden. [33]

Nun wendet der Schüler ein, was die spätere Diskussion bis Scotus (und Suarez) ausführlich beschäftigt: wie kann der Teufel etwas wollen, was „undenkbar“ ist (quod non potuit cogitare)?[34] Der Lehrer kontert äußerst geschickt: selbst wenn er nicht Gott werden wollte, sondern ihm nur ähnlicher sein wollte – was durchaus denkbar ist –, hätte er sich willentlich (performativ) Gott gleichgesetzt, weil er damit seinen Willen gegen den Willen Gottes gestellt und seinem Willen gleiches Recht zugesprochen hätte.

Sich „Gott ähnlich“ zu setzen ist freilich dem christlichen Verständnis inhärent. Der Mensch ist das „Ebenbild“ Gottes und er ist dies als Wollender, als jemand der einen freien Willen hat und sich frei zu seinem Handeln entschließt. Das ist kein „Makel“ des Teufels, kein Fehler seiner Ausstattung, sondern sein Wesensmerkmal und zeichnet auch die „guten“ Engel aus. Auch die guten Engel brauchen Freiheit des Willens: „Hätten sie nicht sündigen können, so hätten sie die Gerechtigkeit nicht aus (eigenem Vermögen), sondern aus Notwendigkeit bewahrt.[35]

Theodizee

Das stellt erneut die Frage nach der Natur des Bösen. Das Böse ist eine Sache des Willens. Es kommt jetzt alles darauf an, den bösen Willen wirklich zu verstehen und in seiner „Ebenbildlichkeit“ zu begreifen. Das nimmt die klassische Frage der Theodizee an, nämlich, warum es das Böse in der Welt überhaupt gibt. Für den christlichen Glauben, der die Welt als durch einen gerechten und gütigen Gott geschaffen versteht, liegt darin ein Stachel. Wir müssen uns da ein bisschen auf die Vorstellung einlassen, die ein Großteil unserer Vorfahren teilten, um tatsächlich die Revolution der Denkungsart zu verstehen, die von dort her zur modernen Welt des Willens führt.

Alles Sein kommt von Gott und ist gut.[36] Aber „es gibt“ auch das Böse. Und bei Jesaia heißt es – wie Anselm ausdrücklich zitiert – Gott „schaffe das Böse“.[37] Das ist mit Blick auf den gütigen und gerechten Gott tatsächlich nicht das entscheidende Problem. Dass Gott auch das Böse schaffe, das ist nicht per se widersprüchlich: hier könnte man versuchen – und hat es in der Tradition tatsächlich getan –, das Böse zum Werkzeug des Guten zu machen. Das „Böse“ könnte als notwendiges Kontrastmittel des Guten verstanden werden oder als Strafe oder mit Blick auf den „bösen Willen“ als „Versuchung“, die den Willen herausfordert, das Richtige zu wollen. Der Schüler gibt allerdings zu bedenken, dass wenn es den „bösen Willen“ „gibt“ und „der böse Wille ein „Etwas“ ist, dann entsteht keine geringere Schwierigkeit. Er konnte nur von Gott sein, von dem alles ist, was etwas ist.[38] Der beunruhigende Widerspruch (für den Glauben) ist, dass nicht zugleich gelten kann, dass alles (also auch das Böse) von Gott geschaffen ist und dennoch der Teufel schuldig sein soll. Was für den „bösen Willen“ gilt, gilt auch für den „guten“. Auch der „gute Wille“ ist etwas und damit ein „Produkt“ Gottes. Auch die „guten Engel“ wären dann nicht durch eigenes Verdienst „gut“. Dass alles, was ist, von Gott geschaffen ist, würde die Verantwortlichkeit und den freien Willen aufheben.

Nichts als das Böse

Was unter „dem Bösen“ verstanden werden soll, „das ist ja hier unsere Frage“,[39] muss also genauer erörtert werden. Und die Antwort, die Anselm gibt, ist zunächst irritierend. Es gibt den „bösen Willen“, aber nicht „das Böse“. Das Böse ist nichts.

Das verwirrt nicht nur den Schüler, der darauf verweist, dass man aber doch so spreche. Anselm begegnet darauf, dass der „allgemeine Sprachgebrauch vieles auf uneigentliche Weise“ ausdrücke.[40]Wenn es aber gilt, in das Innerste der Wahrheit vorzudringen, dann tut es not, solche Verwirrung stiftenden, unangemessenen Redeweisen … auszuscheiden.[41] Und so erläutert Anselm auf Wunsch des Schülers zunächst, was wir unter „ist nichts“ zu verstehen haben.

‚Nichts sein‘ ist dasselbe wie ‚nicht etwas sein‘.[42] Nichts ist die Verneinung von Etwas, also ein sprachlich gedanklicher Akt. Es ist eine „Wegnahme“ (remotio) des „Etwas“ im Verstand. Dass kein Mensch im Raum ist (oder gar nichts), besagt, dass wir verneinen, dass ein Mensch im Raum ist (oder irgendein Gegenstand).[43] „Nichts“ bringt also zum Ausdruck (significat), dass „alles vernichtet wurde, was etwas ist“ (quod perimit omne quod est aliquid) und bezeichnet gerade dieses „Beseitigen“ (destruendo). Es ist ein wahrnehmendes Absehen von dem, was etwas ist: wir nehmen nichts Bestimmtes wahr und dieses Unbestimmte bezeichnen wir mit dem Ausdruck „nichts“. Nichts ist nicht.

Wenn wir von „nichts“ reden, dann so „als ob“ es („das Nichts“) etwas sei, obgleich es nur die Abwesenheit von etwas aussagt (Anselm spricht von non vere aliquid, sed quasi aliquid). Nach Anselm handelt es sich um eine Privation ganz ähnlich der Blindheit: blind ist jemand, weil ihm etwas fehlt, ihm also eine Eigenschaft abgeht, die wir (natürlicher Weise) an ihm erwarten.[44] Das „Fehlen von etwas“ (des Sehenkönnens) hat aber selbst keine „Kraft“, keine Existenz. Es rührt von etwas anderem her. Das „Unvermögen“ selbst vermag nichts, ihm fehlt gerade das Vermögen, etwas Bestimmtes zu tun. Der Blinde kann immer noch hören und riechen, fühlen und laufen etc. Aber es gibt keine „Kraft“ der Blindheit, die das Nicht-Sehen „ermöglicht“. Nichts vermag nichts.

Das Böse ist dem vergleichbar eine Privation des Guten: „‚Nichts‘ hat … lediglich die Bedeutung von ‚nicht-etwas‘ oder ‚Fehlen dessen, was etwas ist‘; und ‚das Böse‘ ist nichts als ‚nicht-gut‘, oder ‚Fehlen des Guten, wo es sein soll oder förderlich wäre‘.[45] Das Gute ist die Gerechtigkeit, nämlich der Anspruch Gottes an den Engel (und den Menschen), etwas zu wollen. Das Böse ist „nur“ das Fernsein der Gerechtigkeit. „Was aber nur das Fehlen dessen ist, was etwas ist, ist sicherlich nicht ein ‚Etwas‘. Das Böse ist also wahrhaftig nichts, und das Nichts nicht ein ‚Etwas‘.[46] Es gibt also ein Wollen, das diesem Anspruch wissentlich nicht entspricht, den „bösen Willen“, aber nicht das Böse. Das Böse ist nichts und vermag nichts.[47]

Auch hier verwirrt uns die Sprache. Erinnern wir uns an den ersten Schritt des Gedankenexperiments: Der reine Wille vermag nichts. Der Schüler wendet ein, dass wenn der Wille schließlich etwas will, würde dies doch zeigen, dass er es „grundsätzlich“ vermochte. Aber er vermag dies erst, nachdem ihm der Gegenstand seines Wollens gegeben wurde. Etwas hat ein Vermögen, wenn dieses etwas etwas vermag und also wirksam ist: jemand kann z.B. Geige spielen oder lateinisch sprechen. Hunde „können“ weder Geige spielen noch lateinisch sprechen, weil sie es – anders als der Großteil der Menschheit – nicht „erwerben“ können. Wer das Vermögen nicht hat, vermag es auch nicht ausbilden. Wenn aus einem Stein eine Statue eines griechischen Gotts wird, dann liegt dies Vermögen nur bedingt am Stein, nämlich z.B. in seinen Eigenschaften hart und widerstandsfähig und zugleich bearbeitbar zu sein. Es kommt aber vor allem auf das Vermögen des Bildhauers an, den griechischen Gott aus dem Stein zu schlagen. Für und durch ihn ist die Statue möglich. Der Stein vermochte die Statue so wenig wie – das Beispiel Anselms – ein Buch sich selbst schreibt, sondern durch den Autor möglich wurde.

Dieser Umstand gilt auch für Gottes Schöpfung. Seine Schöpfung ist Schöpfung aus dem Nichts (creatio ex nihilo). Der Schüler meint zunächst, dass es „dem Nichts“ doch möglich gewesen sein muss, zur Welt zu werden, sonst hätte die Welt ja nicht werden können. Er wird aber schnell vom Besseren überzeugt: Das Nichts ist nicht und vermag nichts. Für „es“ ist nichts möglich. Möglich war sie, die Welt, nur für Gott, dem Schöpfer.

Gotte wird durch nichts beschränkt

Aber auch das hat zwei erstaunliche Konsequenzen:

  • Gott kann nicht nichts schaffen. Nichts schaffen heißt eben nicht schaffen. Nur der faule Witzbold entzieht sich dem Vorwurf, er habe den ganzen Vormittag nichts getan, mit der Antwort: „davon aber ganz viel“. Gott kann aus dem Nichts schaffen (ex nihilo), es selbst aber nicht. Es ist immer schon „da“ als nicht-da. „Ein ‚Nichts‘ kommt nicht und geht auch nicht weg.[48] Es ist als Nichts nicht und kann auch nicht „geschaffen“ werden.
  • Gott vermag das Böse nicht. Das Böse ist als Abwesenheit des Guten und damit nichts, was geschaffen werden könnte. Der „böse Wille“ (des Teufels oder der Menschen) ist nicht das Werk „des Bösen“, weil das Böse überhaupt kein Werk hat und keines vermag. In der kleinen Schrift De libertate arbitrii (Vom freien Willen) bringt Anselm das einige Jahre vor De casu diabolo bereits auf den Punkt: „Du siehst also: Wenn ein Mensch die von ihm besessene Rechtheit des Willens unter der Einwirkung einer Versuchung aufgibt, so wird er durch keine fremde Gewalt weggerissen, sondern er selbst wendet sich dem zu, was er stärker will.[49] Das führt zu der „unerhörten Behauptung“ (inaudita assertio), dass es selbst Gott nicht vermag, den Willen „böse“ zu machen.[50] Er kann alles Sein in Nichts auflösen, aber er „vermag nicht die Rechtheit von dem Willen zu trennen, der sie besitzt“.[51] Die Begründung läuft auf den Umstand hinaus, dass die Rechtheit sich gerade auf den (freien) Willen richtet: Gott will, dass der Mensch will – und wollen kann er nur selbst.

Nichts gegen die Vorsehung

Die Allmacht Gottes ist also durchs Nichts beschränkt und damit unbeschränkt. Sie endet dort, wo sie sich selbst Grenzen setzt: beim Willen. Er will, dass der Wille (der jeweiligen Kreatur) will, was er will.[52] Diese Bestimmung der Allmacht steht freilich nicht – wie man denken könnte – im Widerspruch zu einer anderen Bestimmung, die Gott eigen sein soll, nämlich die Vorsehung. Die ganze Kunst Anselms können wir an einer Stelle sehen, an der er eine der großen Fragen der christlichen Philosophie, nämlich wie die menschliche Freiheit des Willens mit der göttlichen Vorsehung vereinbar sein kann, mit zwei kleinen Sätzen beantwortet (breviter respondeo).[53][54] Wieder korrigiert er einen missverständlichen Sprachgebrauch: „Gottes Vorherwissen wird nicht im eigentlichen Sinn ‚Vorherwissen‘ genannt. Wem nämlich immer alles gegenwärtig ist, der hat kein Vorherwissen von Zukünftigem, sondern ein Wissen des Gegenwärtigen.“ Sein Wissen (scientia) ist aus unserer Sicht Vorherwissen (praescientia). Sein Wissen nimmt hat aber nicht an unserem Wissen das Maß und deshalb ist sein Wissen „nicht im eigentlichen Sinne“ Vorherwissen (non proprie dicitur). Er überblickt gegenwärtig die Zeit im Ganzen, die sich uns als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auseinanderlegt.[55]

„Nur weil er wollte“

Der Wille ist und bleibt frei. Das Böse vermag ihm nichts, nur er selbst kann sich bestimmen. Und am Ende fragt der Schüler noch einmal um sicher zu sein: „Warum wollte er [der Teufel], was er nicht sollte“,[56] warum handelt der Teufel schlecht – obwohl er mit allem ausgestattet ist: Der Teufel will, was er will. Warum aber will er, was doch ziemlich unvernünftig scheint? „Nur weil er wollte.[57] Die Frage, warum er wollte, was er wollte, macht keinen rechten Sinn mehr. Die Frage bezeichnet nur die Leerstelle, die wir Freiheit nennen. Und Freiheit, die Freiheit des Willens wird zum Zentrum der Welt. Anselm begreift die Revolution der Denkungsart, die mit dem Christentum die Welt ergriffen hat. Sie ist freie Schöpfung. Sie erfolgt aus dem Nichts. Die Antwort auf die Frage, warum Gott die Welt erschuf, lautet – und kann nur lauten: weil er es so wollte.[58]

An dieser schöpferischen Freiheit partizipiert der Mensch. Die Freiheit des Willens macht seine Ebenbildlichkeit aus.[59] Der „freie Wille“ hat „keine andere Ursache“ als sich selbst. Er ist „sich vielmehr selbst, wenn man so sagen kann, Wirkursache und Wirkung“.[60] Die creatio ex nihilo charakterisiert in gewisser Weise den Willen. Er schöpft willentlich aus sich selbst. Allerdings ist der „Träger des Willens“ (als Geschöpf oder Naturwesen) nicht selbstgeschaffenen Handlungsbedingungen und einem Sollen unterworfen. Auf diese Begrenzung spielt Anselm an, wenn er dem Teufel nicht Ebenbildlichkeit und vielmehr Überheblichkeit zuspricht: „Der Teufel wollte aber nicht nur Gott gleich sein, indem er sich einen völlig autarken Eigenwillen anmaßte. Indem er wollte, was zu wollen gegen Gottes Willen war, wollte er sogar noch größer sein als Gott, hat er doch seinen Willen über den Willen Gottes gesetzt.[61] In der modernen Ausprägung des Transhumanismus, der sich von den Bedingungen der menschlichen Natur befreien möchte, sind solche teuflischen Züge wiederzuerkennen.

Fidens quaerens intellectum

Ausgangspunkt der Anselmschen Überlegungen ist der gelebte Glauben. Aber der Glaube wird durch Zweifel begleitet, die sich aus widersprüchlich scheinenden Aussagen, Phänomenen und Plausibilitäten herleiten. Der Schüler spricht von der Unruhe, die ihn befällt und er vermag „nicht zur Ruhe zu kommen“ – „außer im Glauben allein“ (nisi sola fide acquiescere).[62]Unser Herz schrickt zusammen“, so bekennt er, „wenn immer das Wort „das Böse“ fällt“. [63] Dem Teufel und dem Bösen scheinen erschreckende Mächte eigen, denen die Gläubigen sich ausgesetzt glauben. Anselm rückt das zurecht und führt den lebendigen Glauben zum Verstehen aus Gründen und zum Sichverstehen auf das, was man glaubt. Der Teufel ist nicht das Böse. Das Böse ist gar nicht. „Der böse Wille ist nicht das Böse selbst, das böse macht, wie der gute Wille nicht das Gute ist, wodurch wir gut sind“[64]

Diese Selbstverständigung des Glaubens gipfelt in einer Revolution der Denkungsart, die unser modernes Verständnis des Menschen und seines Handelns kennzeichnet. Es verdankt sich der christlichen Philosophie, die sich damit von der antiken Vorstellung radikal absetzt. Der Antike galt „falsches“ Handeln als Irrtum über die Welt. Wer schlecht oder böse handelt, der tut dies aus Unkenntnis des Guten. Die Antike hatte keinen Begriff vom Bösen.

Die antike Philosophie hat immer darauf beharrt, dass jedes Streben sich auf ein Gut richtet. Anselm versteht das so, dass das Böse nicht angestrebt werden kann, weil es das Böse gar nicht gibt. Es ist nichts Begehrenswertes, das man erstreben könnte. Gegenstand des Strebens ist immer ein Gut. Böse wird es, wenn es als Gut von mir nicht angestrebt werden soll. Es ist etwas, nicht nichts. Nichts (das Böse) kann man nicht wollen.

Das Böse wird erst mit dem Willen und seiner Freiheit „entdeckt“ und verdankt sich dem Christentum. „Gut“ und „böse“, das betrifft ausschließlich den Willen. Das Gute ist keine Sache in der Welt, sondern die Angleichung an eine Willensnorm. Der Wille nimmt sich am Willen sein Maß. Der Wille ist gut, wenn er so will, wie er wollen soll. Der Grund, dies und nicht das zu tun, ist nicht eine „bessere“ Sache, sondern ein Wille. „Gut“ und „böse“ sind ausschließlich in der Verantwortung des Willens selbst. Der Wille will sich selbst, so wie er sein soll. Alles andere ist gleichgültig.

[1] Seine Erzählung Vor dem Gesetz aus dem Jahre 1914 umfasst gerade mal knapp 600 Wörter und füllt gut eine Druckseite.

[2] Sein vermeintliches Selbstporträt (Mann mit rotem Turban) ist kleiner als eine DIN A 4 Seite (25,5 x 19 cm) und seine Madonna in der Kirche misst grade mal 31 x 14 cm.

[3] Einsteins Arbeit aus dem Jahre 1905 umfasst 16 Seiten und ist mit der Einführung von „Lichtquanten“ richtungsweisend.

[4] 30 Seiten umfasst diese grundlegende Schrift zur Speziellen Relativitätstheorie, die ebenfalls im annus mirabilis erschien.

[5] Es umfasst knapp in sechs Kapiteln rund 70 Seiten, von denen allerdings vor allem die ersten vier Kapitel mit knapp 40 Seiten wirklich „revolutionär“ sind.

[6] Wir werden sehen, dass es auch und gerade unter christlicher Perspektive gar nicht so naheliegend ist, an die Existenz des Teufels zu glauben.

[7] Für Jürgen Habermas ist das eine Kernfrage, die Auch eine Geschichte der Philosophie begründet – so sein zweibändiges Alterswerk, das 2019 erschien.

[8] Während Thomas von Aquin und Kant ihn ablehnen, knüpfen Bonaventura, Descartes, Leibniz und Hegel zustimmend an ihn an. Und noch Kurt Gödel (1906-1978) liefert einen Beweis in Anselmscher Tradition, der 2015 „experimentell“ belegt wurde (siehe dazu meinen Beitrag und die Notiz auf ZeitOnline).

[9] Idiotisch leitet sich her vom Griechischen ἰδιώτης. ἴδιος bezeichnet das Abgesonderte, das einer „eigenen“ Traumwelt jenseits der gemeinsam geteilten entstammt.

[10] A.a.O., cap 13. Anselm verhandelt die Frage als Dialog zwischen einem Schüler und seinem Lehrer. Das mag der besseren Vermittlung der Sache an den Leser dienen. Warum ist das eigentlich so? Weil wir selbst in die Rolle des Schülers geraten und uns in seinen Fragen wiedererkennen? Oder identifizieren uns nicht lieber mit dem Lehrer, in dessen Rolle wir dann jedenfalls schlüpfen, wenn uns der Dialog überzeugt hat und wir die Sache erproben und wiederum anderen vermitteln wollen, was wir glauben gelernt zu haben. Es ist eine alte Rede, Denken sei das Gespräch der Seele mit sich selbst. Der Dialog zwischen Lehrer und Schüler ist einer, den wir immer nachvollziehen, wenn wir eine Sache denken. Solch ein Dialog ist Nach-denken. Dem geht ein Dialog voraus, in dem die Rollen von Lehrer und Schüler noch nicht festgelegt sind.

Anders beim platonischen Dialog. Er zeigt die Gesprächspartner, die in bestimmten Situationen Fragen erörtern, die sich aus diesen situativen Umständen ergeben. Wir hören „Personen” zu, die uns als Personen in und aus ihrem Lebensumfeld begegnen. Generäle denken so, Ärzte so, alte Männer anders als jugendliche Sophisten. Wir sehen ihre Antriebe, ihre Motive, die Bedeutung ihrer Fragen aus ihren Lebensumständen.

[11] Dass es eine „Glaubenswahrheit“ ist, muss uns nicht stören. Im Gegenteil. Es vereinfacht die philosophische Untersuchung. Ob es den Teufel tatsächlich gibt, steht so wenig zur Diskussion wie die Frage nach der Existenz Gottes. Wir müssen uns dazu so lange philosophisch nicht äußern, wie wir „Schuldfähigkeit“ ohne sie denken können. Es geht ausschließlich um „Schuldfähigkeit“ und Verantwortlichkeit. Erst wenn es sich – wider Erwarten – zeigen sollte, dass sie sich ausschließlich von der Existenz des Teufels (oder Gottes) herleiten ließen, müssten wir uns dieser Frage ausdrücklich widmen.

[12] A.a.O., 4: Peccasse illum non dubitas, quoniam a iusto deo non potuit iniuste damnari; sed quaeris quomodo peccavit

[13] Er hatte ein Wissen, von dem, was zu tun (richtig) ist

[14] Cf. das lateinische Rechtsprinzip: actus me invito factus non est meus actus.

[15] De casu diaboli 2: quia si bonus angelus ideo accepit quia deus dedit, malus ideo non accepit quia deus non dedit.

[16] A.a.O., 3: postest enim non dare non esse causa non accipiendi, etiamsi dare semper causa esset accipiendi

[17] Cap. 3: Deus dedit illi voluntatem et potestatem accipiendi perseverantiam.

[18] Ganz anders die griechische Sicht des Agamemnon: er hatte mit seiner Missachtung Achills die Griechen in größte Not und an den Rand der Niederlage gebracht. Seine „Verblendung“ rechnet er aber nicht sich zu. Die „Verblendung“ hat ihn ereilt, sie kam als Ate über ihn: „Oftmals schon haben mir dieses Wort gesagt die Achaier und auch mich gescholten. Ich aber bin nicht schuldig, sondern Zeus und die Moira und die im Dunklen wandelnde Erinys, die mir in der Versammlung in den Sinn warfen die wilde Beirrung an dem Tag, als ich das Ehrgeschenk des Achilleus fortnahm.“ (Ilias, XIX 85ff.)

[19] A.a.O., 4: Dubitas adhuc diabolum non ideo voluisse deserere quod habebat quia non voluit tenere, sed ideo non voluisse tenere quia voluit deserere?

[20] Anselm schlingert zwischen „wollen“ und „sollen“ hin und her: bei der ungerechten Handlung „sollte“ er nicht loslassen und natürlich „will“ der Ungerechte eigentlich gerecht sein. Er gibt den einen Willen auf, um dem anderen zu folgen. Das „sollte“ er nicht tun – aber dieses „Sollen“ leitet sich aus der Unvernünftigkeit und nicht aus einem autonomen „sollen“ her.

[21] Auffällig, dass die handelnde Person durch einen bösen Willen „überkommen“ (mala superveniens) wird: Dico ero quia non ideo non voluit cum debuit et quod debuit, quia voluntas defecit deo dare deficiente, sed quia ipse volendo quod non debuit, bonam voluntatem expulit mala superveniente.

[22] Das unterscheidet das christliche Verständnis vom naturalistischen: die Ausstattung des Menschen ist Ergebnis eines (göttlichen) Willens. Dort wäre es eine teuflische Revolte gegen die Natur, die in der Moderne mit Hilfe der Technik tatsächlich zum Programm wird und deren „verrückte“ Ausprägung wir heute in der Kritik der Gender-Identität und dem sogenannten Transhumanismus wahrnehmen.

[23] Die Formulierung ist velle, quod deus vult illum velle. Das ist nicht gleichzusetzen mit, zu wollen, was Gott will. Das würde die Sache verkürzen und den eigentlichen Witz entfernen, nämlich die ausdrücklich Bezugnahme auf den Willen: es geht nicht darum, zu tun, was Gott vorschreibt, sondern das zu wollen!

[24] Entscheidend ist nicht, dass wir etwas wollen, das wir nicht sollen, sondern dass wir wollen, was wir nicht wollen sollen. Das ist der „kleine Unterschied“ der die Moderne ausmacht.

[25] A.a.O., 4: Quidquid habebat, debebat velle

[26] A.a.O., 4 Vere debebat velle quod a deo acceperat

[27] A.a.O., 12: et non simul totum sed per partes

[28] Cap. 12:

[29] Man könnte es mit einer Maschine vergleichen, die „angestellt“ werden muss und von „außen“ einen „Verarbeitungsimpuls“ braucht. Anselm unterscheidet den Willen, der etwas wollen muss, vom ziellosen Laufen. Wer laufen kann, kann loslaufen. Er braucht kein Ziel. Der Wille dagegen braucht eine Ausrichtung. Er muss etwas wollen oder er will nicht.

[30] Cap. 13:

[31] Cap. 14: Quaniam ergo nec solummodo volendo beatitudinem, nec solummodo volendo quod convenit cum ex necessitate sic velit, iustus vel iniustus potest appellari, …e necesse est ut sic faciat deus utramque voluntatem in illo convenire, ut et beatus esse velit et iuste velit.

[32] Cap. 7: quod etiam in nostra natura quaeri potest, …

[33] Gen. 3, 5: eritis sicut dii… das Versprechen der Schlange ist, nach dem Genuß der Früchte „werdet ihr wie Gott“.

[34] Cap. 4.

[35] Cap. 5: hoc certum habes quia si non potuerunt peccare, non potestate sed necessitate servaverunt iustitiam.

[36] Im christlichen Verständnis ist das, was ist, Ergebnis eines (göttlichen) Willens. Diese Voraussetzung ist für das zugrunde liegende Problem freilich (zunächst) nicht entscheidend. Wir könnten heute schlicht sagen, was von sich her, natürlich und ohne Verantwortung eines frei handelnden Wesens ist, das ist moralisch-ethisch neutral. Dass Löwen Schafe fressen mag uns nicht gefallen, es ist aber nicht „böse“ oder irgendwie verwerflich. Wir können uns fragen, warum die Welt so „eingerichtet“ ist, dass Löwe Schafe fressen und warum andere Lebewesen, sich so verhalten, wie sie sich verhalten, also z.B. auch solche, die wir „vernünftige Lebewesen“ (animalia rationalia) oder Menschen nennen. Welche Gründe dafür – jenseits eines göttlichen Schöpfungswillens – auch immer genannt werden mögen, es bleibt die Herausforderung, Verantwortlichkeit „jenseits“ der (natürlichen) Ausstattung verständlich zu machen.

[37] Jes. 47, 7.

[38] Cap. 5: quod si mala est et aliquid est, iterum occurrit quia non nisi a deo est, a quo est omne quod aliquid est

[39] Cap. 11: de malo quaestio est in manibus

[40] Cap. 12: multa namque in communi locutione dicuntur improprie

[41] Cap. 12: sed cum oportet medullam veritatis inquirere, necesse est improprietatem perturbantem … secernere.

[42] Cap. 11: nequaquam differant nihil esse et non aliquid esse

[43] Wir verneinen das, was wir erwarten (könnten), also z.B. dass es dort einen Tisch und Stühle gibt. „Im Besprechungsraum war niemand. Da war gar nichts.“ – „Auch kein Teppich?“ „Doch, ich glaub’ schon. Aber kein Tisch, keine Stühle und auch sonst nichts“, nichts, was wir dort erwartet hätten. Der Raum war einfach „leer“.

[44] Steine können nicht sehen, sie „können“ auch nicht blind sein.

[45] Cap 11: nihil enim non aliud significat quam non-aliquid, aut absentiam eorum quae sunt aliquid. Et malum non es aliud quam non.bonum, aut absentia boni ubi debet aut expedit esse bonum

[46] Cap. 11: Quod autem non est aliud quam absentia eius quod est aliquid, utique non est aliquid. Malum igitur vere est nihil et nihil non est aliquid

[47] Gäbe es das Böse, dann wäre es entweder von Gott – mit der Konsequenz, dass wir in Widersprüche mit unserem Glauben gerieten – oder es wäre ein zweiter Gott, ein böser, gottgleicher Dämon, der im Streit mit dem „guten“ Gott läge (Manichäismus). Beides würde die Verantwortlichkeit des Handelns untergraben bzw. unmöglich machen.

[48] Cap. 27: nihil nec venit nec recedit.

[49] De libertate arbitrii 7: Vides igitur quia cum homo habitam rectitudinem voluntatis aliqua ingruente deserit tentatione, nulla vi aliena abstrahitur, sed ipsa se convertit ad id quod fortius vult.

[50] Seine Rechtheit zu nehmen: nec deus potest auferre voluntatis rectitudinem.

[51] De libertate arbitrii 8: Totam quidem substantiam quam de nihilo fecit, potest redigere in nihilum, a voluntate vero habente rectitudinem non valet illam seperare.

[52] Das zeichnet das aus, das wir das Geistige nennen. Wie von Anerkennung nur gesprochen werden kann, wenn sie nicht erzwungen ist, sondern von einer Person einer anderen zugesprochen wird, so gilt das auch fürs Wollen des Wollens. Eigentlich können wir hier gar nicht von Wollen, sondern sollten vom Wünschen sprechen. Cf. »Es kommt die Zeit, in der das Wünschen wieder hilft« – Philosophisches zur Zeit (rhetorik-forum-nuernberg.de)

[53]Das Gewicht der Autorität der Tradition, an der immer festgehalten wurde, verbietet zwar, daß aufgrund menschlicher Überlegung ein Zweifel an der Vereinbarkeit von göttlichem Vorherwissen und menschlicher Freiheit aufkommt, und dennoch führt die Reflexion immer wieder an den Punkt, wo sie unvereinbar scheinen.“ (quamvis enim tanta auctoritate asseratur et tanta tenatur utilitate, ut nullatenus propter ullam humanam rationem dubitandum sit divinam praescientiam et liberum arbitrium invicem sibi consentire; tamen quantum ad rationis considerationem quae videtur spectat, insociabiliter videntur dissentire.) Woran wir im Glauben festhalten (wollen), daraus scheint dem Nachdenken immer wieder ein Zweifel zu erwachsen. Der Glaube gerät in Widerspruch zur Vernunft. Das aufzulösen, dient die philosophische Überlegung. Sie ist ein Auftrag des Glaubens an die Vernunft.

Das Argument greift im Übrigen weiter: nicht die menschliche Freiheit, sondern die Welt des So-oder-anders-Möglichen erlaubt kein Vorherwissen: Was so oder anders sein kann, kann nicht vorausgewusst werden. „In der Tat scheint ein Vorherwissen von etwas, das auch nicht sein kann, nicht möglich zu sein, und ebensowenig, daß etwas nicht eintritt, was vorausgewußt wird.“ (videtur nec posse praesciri quod potest futurum non esse, nec posse futurum quod praescitur) “Denn das Sein von etwas, das auch nicht sein kann, läßt sich auf keinen Fall aus einem sicheren Vernunftgrund erschließen.“ Es gibt, würden wir heute sagen, dafür allenfalls gewisse Wahrscheinlichkeiten. (Quod enim non esse potest, nequaquam esse certa potest colligi ratione) (a.a.O., cap. 21)

[54] Die christliche Vorstellung der Vorsehung spiegelt sich im übrigen im naturalistischen Determinismus: auch dort wird die Freiheit des Menschen in Opposition zur Herrschaft der alles bestimmenden Naturgesetze gesetzt.

[55] Siehe dazu auch: ST I, Quaestio 22 (HL) – Summa Theologica (summa-theologica.de)

[56] Cap. 27: cur voluit quod non debuit?

[57] Cap. 27: non nisi quia voluit.

[58] Frei nach der von Auda Abu Tayi, dem Fürsten der Howeitat, in Lawrence von Arabien formelhaft vorgebrachten Bekundung seiner herrschaftlichen Freiheit: „weil es mir so gefällt“.

[59] Nicht die Vernunft als solche, sondern das Vermögen sich selbst vernünftig zu bestimmen, der durch Vernunft ausgezeichnete freie Wille ist das göttliche Erbe.

[60] Cap. 27: nam haec voluntas nullam aliam habuit causam …, sed ipsa sibi efficiens caus fuit, si dici potest et effectum.

[61] Non solum autem voluit esse aequalis deo quia praesumpsit habere propriam voluntatem, sed etiam maior voluit esse volendo quod deus illum velle nolebat, quoniam voluntatem suam supra dei voluntatem posuit.

[62] Cap. 10.

[63] Cap. 10: nam cum nomen “mali“, frustra horrerent corda nostra…

[64] Cap. 8: mala voluntas non es ipsum malum quod malos facit, sicut nec bona voluntas est ipsum bonum quod bonos facit

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