Ovids Metamorphosen VIII: Die unheilige Extinction Rebellion

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Der Geschichte von Philemon und Baucis sollte die Unermesslichkeit der Macht der Götter zeigen. Aber eigentlich feierte sie die Liebe zwischen Menschen, denen die Götter ihre Anerkennung nicht versagen konnten. Ovid lässt anschließend den Flussgott Achelous seinen menschlichen Gästen eine weitere Geschichte erzählen, die den Spöttern beweisen soll, wie selbstzerstörerisch es ist, die Macht der Götter zu verachten (qui numina divum sperneret).[1] Erysichthon, König von Thessalien, glaubte nicht an die Übermacht der Götter, opferte ihnen nicht, verhöhnte sie und alle, die an sie glaubten. Er missachtet die heiligen Orte und versucht ihre „Wohnstätten“ zu zerstören. Einen riesigen, uralten Baum, der der Ceres/Demeter zugeschrieben wird, ließ er fällen und tötete alle, die sich an dieser Untat nicht beteiligen wollten. Schließlich legt er selbst Hand an und fällt großtuerisch die „göttliche“ Eiche. Waldnymphen flehen Ceres an, die Untat zu bestrafen. Die Göttin „nickte zustimmend, und als die Herrliche ihr Haupt bewegte, ließ sie die Äcker, die schwer von lastender Frucht waren, erzittern. Sie verhängt über ihn eine mitleiderregende Strafe […] nämlich: daß er an verzehrendem Hunger hinsieche.[2]

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Ovid – WikiCommons

Ovids Metamorphosen sind ein lesenswerter Klassiker. Wir lesen Stück für Stück die fünfzehn Bücher in kleinen überschaubaren Abschnitten. Können wir Philosophisches zur Zeit daraus lernen? Finden Sie’s raus und lesen Sie mit! Das geschah bisher.

Demeter, Wandgemälde aus Pompeij

Wer die Fruchtbarkeit der Erde klein redet, sie missachtet und sich gegen sie auflehnt, dem werden ihre Segnungen entzogen. Er wird elendiglich zu Grunde gehen. Selbst dann, wenn ihm großer Reichtum zur Verfügung steht und er sogar auf besondere, durch göttliches Wohlwollen verliehene Kräfte zurückgreifen kann.

Ohne Ceres herrscht Hunger. Entzieht sie sich, stürzt sie alle ins Elend, um einen zu strafen. Um Erysichthon und nur ihn zu treffen, wendet sich Ceres an ihre Widersacherin, die Göttin des Hungers, Fames. Die personifizierte Herrschaft des Hungers ist im Griechischen als Gegenteil der lebensspenden Fruchtbarkeit Demeters männlich, nämlich Limos.[3] Bei Ovid wird die Kraft des Mangels weiblich. Sie ist die privative Verkümmerung, der Verlust fruchtbarer Lebenskraft, der selbst eine wirkende Kraft entfaltet. Sie sind aufeinander bezogen und doch in größter Distanz. Fames haust am Ende der Welt, „am fernsten Rande des eisigen Scythien […], ein trostloser Ort, wüste Erde, unfruchtbar, ohne Korn und ohne Baum“. Ceres kann dieses Reich nicht betreten. Nähert sich die fruchtbare, alles zum Reifen bringende Ceres, weicht der Hunger zurück.

Ceres schickte deshalb eine Bergnymphe auf die weite Reise zu Fames. Dort angekommen, „sah sie auch schon die gesuchte Hungersnot, auf steiniger Flur mit Nägeln und Zähnen die spärlichen Grashalme ausrupfen. Struppig war das Haar, hohl die Augen, Blässe im Gesicht, die Lippen welk und grau, rauh vor Rost die Kehle, hart die Haut, so daß die Eingeweide hindurchschienen. Die Knochen standen dürr unter den eingefallenen Lenden hervor. Statt des Bauches war nur eine leere Stelle da; man hätte meinen können, die Brust hänge und werde nur vom Brustkorb am Rückgrat festgehalten. Hagerkeit hatte die Gelenke groß erscheinen lassen, die Kniescheibe dick geschwollen, und als maßlose Buckel sprangen die Knöchel vor“.[4] Die Oreade übermittelt die Bitte der Göttin der Fülle. Fames erfüllt sie gerne und macht sich auf den Weg, um im fremden Reich wirksam zu werden und sich dort zur Geltung zu bringen. Den schlafenden Erysichthon „umschlingt sie mit beiden Armen, flößt sich dem Mann ein, haucht ihm den Rachen, die Brust und das Gesicht an und erzeugt in den leeren Adern Hungergefühl“. Aus dieser Umarmung gibt es für ihn kein Entrinnen mehr. Sein Hunger lässt sich nicht mehr stillen, so viel Erysichthon auch isst. Ovid greift dabei zu einem anschaulichen Vergleich: „wie das Meer von der ganzen Erde die Flüsse aufnimmt und nie des Wassers satt wird, sondern fremde Ströme leer trinkt, wie raffendes Feuer niemals Nahrung verschmäht und unzählige Scheite zu Asche verbrennt und, je mehr Stoff es bekommt, desto mehr angreift und gerade durch die Menge noch gefräßiger wird, so nimmt der Mund des unheiligen Erysichthon alle Speisen auf und verlangt zugleich nach weiteren.

Erysichthon im Bann des Hungers

Immer mehr muss er verschlingen und verfrisst sein ganzes Vermögen. Ihm bleibt nur die eigene Tochter, Mestra, an den Höchstbietenden zu verkaufen. Mestra, eine Enkelin des Poseidonsohnes Triopas, freilich verlor ihre Unschuld als Poseidon zu seiner Urenkelin heftiges Begehren überkam. Ihn bittet die „verkaufte“ Mestra nun um Hilfe und Poseidon verleiht ihr zum Ausgleich für die an ihr verübten Schandtat, die Fähigkeit beliebige Gestalten anzunehmen und zu wechseln. So entkommt sie dem Käufer und kann sich vor seinem männlichen Zugriff retten. Der Vater erkennt darin eine hilfreiche Einnahmequelle und verkauft seine Tochter an beliebige Interessenten, denen die Tochter immer aufs Neue zu entkommen vermag. Aber auch das rettet ihn nicht. Der Betrug kann mit dem wachsenden Hunger nicht mithalten: noch bevor der nächste Verkauf ansteht, sind die Mittel des vorherigen aufgebraucht. Und so kommt es, wie Ceres es angekündigt hatte: „Als die Gewalt des Unheils jedoch alle Vorräte verbraucht und der schweren Krankheit nur immer neue Nahrung gegeben hatte, begann er die eigenen Glieder mit blutigem Biss zu zerfleischen. So ernährte der Unselige seinen Leib, indem er ihn verzehrte.[5]

Wir wissen, dass Erysichthon auch ein Zeitgenosse unserer Zeit ist. Was Erysichthon als eine Strafe für seine Verachtung der göttlichen Natur ereilt, das trifft auch heute die, die glauben, sich über alle Grenzen hinwegsetzen zu können. Das gilt nicht nur für die gierige Sucht des „Immer größer, immer weiter“, die das eigene Dasein zu zerstören droht und jedenfalls kein Glück verheißt. Der verzweifelte Versuch, gesund zu bleiben, macht schließlich krank. Wem ewige Jugend Bedingung einer gelingenden Lebensführung ist, kämpft gegen seine Natur und wird sein eigener Feind, den zu besiegen zwangsläufig unglücklich macht. Nicht nur der totale Krieg frisst seine Kinder und die Generation, die ihn führen muss. Auch die Extinction Rebellion, die eine prognostizierte Katastrophe abwenden will, neigt zur Selbstüberschätzung und Hybris. Wer glaubt, die Welt retten zu können, bereitet der Extinction den Weg, gegen die er rebelliert. Auch er rebelliert gegen die Götter und die eigene Natur und ist jederzeit bereit, die Axt an heilige Dinge zu legen, wenn es ihm „richtig und wichtig“ erscheint. Alternativlos aber sind nur die Götter und ihre Ordnung, nicht das eigene Handeln.

Aber Ovid wäre nicht Ovid, wenn er das schlimme Schicksal des Erysichthon und seine bittere Wahrheit, nicht noch mit einer erzählerischen Pointe versehen und aus dem todernst religiös-metaphysischen Strudel lösen würde. Ovid lässt die Geschichte von Achelous erzählen, selbst ein Gott, der die Macht der Götter erzählerisch belegen will. Was gottloser Hybris blüht, sollte die Geschichte der Selbstzerfleischung des Erysichthon belegen. Hätte er es nicht auch zeigen können? Statt eine Geschichte zu erzählen, hätte er Wasser in Wein verwandeln oder Felsen schweben lassen können. Dem Spötter, der die Macht der Götter relativierte und bestritt, dass sie „Gestalten geben und nehmen“ können wie es ihnen gefällt, hätte er sie am eigenen Leib spürbar machen können. Durch Wunder wäre ihm die Bewunderung sicher gewesen, oder?

Und hier lässt Ovid Achelous stutzen. „Doch was halte ich mich bei fremden Schicksalen auf?“, lässt er ihn fragen. „Auch ich habe die Möglichkeit […] meine Gestalt mehrfach zu wandeln, junger Mann. Denn bald erscheine ich, wie ich jetzt hier bin, bald winde ich mich als Schlange, bald nehme ich als Anführer der Rinderherde alle Kraft in den Hörnern zusammen.“ Aber, so lässt Ovid den göttlichen Achelous bekennen, seine Möglichkeiten sind „durch die Zahl begrenzt“!? Und so gesteht der Gott plötzlich versonnen ein: „Ja, die Hörner – solange ich es noch konnte. Jetzt fehlt meiner Stirn auf der einen Seite die Waffe, wie du selbst siehst.“ Diesen Worten lässt Ovid „einen tiefen Seufzer“ folgen (gemitus sunt verba secuti). Ja, die Möglichkeiten dieses alternden Gottes sind, anders als die des Erzählers, begrenzt. Statt strahlender Kraft wendet er sich schwermütig aufs eigene Dasein zurück. Und so erfährt der Gott durch die Erzählung über die menschliche Hybris, die ihm Ovid in den Mund legt, am Ende etwas über sich selbst. Dem Dichter sei Dank.

[1] VIII 739f.

[2] VIII

[3] Cf. Hesiod, Theogonie 227.

[4] VIII 799ff. Das Ganze erinnert ein wenig an den Besuch Athenes bei Invidia, der Göttin des Neids und der Missgunst, die sich danach aufmacht, um Aglauros in ihren Bann zu schlagen: II 760ff.

[5] VIII 875ff.

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