Theseus ist mit seinen Gefährten auf dem Weg zurück nach Athen. Dabei versperrt ihm der reißende Fluss Achelous den Weg. Achelous ist ein Flussgott, der die Athener warnt. Schon vieles wurde von ihm in den Tod gerissen. Man muss ihm Respekt zeigen und sich nicht an ihm versuchen. Dann zeigt sich Achelous als freundlicher Gastfreund, der Theseus und die Seinen in sein Haus, eine große Felsenhalle, einlädt. Er sucht offenbar Gesellschaft von Leuten, die seine Macht anerkennen und ehrfürchtig achten. Und so erzählt er ihnen gerne die Geschichte, dass er einst aus Wut, von den Naiaden, vergleichsweise unbedeutenden Quellnyphmen, nicht gebührend gewürdigt worden zu sein, ihnen seine Macht bewies. Zu einem reißenden Strom angewachsen, treibt er sie „samt ihrem Grund und Boden ins Meer hinaus“ und macht sie zu vorgelagerten Inseln. Der Schönsten freilich, Perimele, raubt er ihre Jungfernschaft, worauf hin sie von ihrem Vater Hippodamas, verstoßen und vom Felsen gestoßen wird. Achelous bittet daraufhin Poseidon/Neptun um Unterstützung. Der fängt sie auf und verwandelt sie in die Insel, die von den anderen hervorsticht.
WIR LESEN OVID
Ovids Metamorphosen sind ein lesenswerter Klassiker. Wir lesen Stück für Stück die fünfzehn Bücher in kleinen überschaubaren Abschnitten. Können wir Philosophisches zur Zeit daraus lernen? Finden Sie’s raus und lesen Sie mit! Das geschah bisher.
Die seltsame Szenerie, dass ein Gott zu Tisch bittet, um sich in Geschichten zu ergehen, wird nun noch gesteigert. Einer der Gefährten bezweifelt die Macht der Götter und zeiht damit Achelous zum Entsetzen aller der Hochstapelei: „Du erzählst Märlein, Achelous, und hältst allzuviel von der Macht der Götter, wenn du sagst, daß sie Gestalten geben und nehmen.“[1] Und so erzählt ein anderer, um die unermeßliche Macht der Götter zu beweisen, eine andere Geschichte. Es ist die rührende Geschichte von Philemon und Baucis, ein altes Ehepaar, dass aus seiner Armut keinen Hehl macht und sie leicht erträgt. Als Juppiter und Mercur in Menschengestalt die Landschaft durchstreifen und um eine Unterkunft und ein Nachtlager bitten, werden sie allerorts abgewiesen. Nur Philemon und Baucis nehmen sie trotz ihrer ärmlichen Lebensumstände auf und bewirten sie so gut es ihnen möglich ist. „Zu alledem kamen die freundlichen Gesichter hinzu und ein guter Wille, der weder träge noch ärmlich war.“[2] Als der Krug mit Wein sich nach dem Ausschenken immer wieder von selbst mit neuem Wein anfüllt, erstarren sie in Ehrfurcht, beginnen sie zu beten und „bitten um Vergebung für die Speisen und den fehlenden Aufwand“.[3]
Aber Gottesfürchtige haben nichts zu fürchten. Die Götter geben sich zu erkennen und beruhigen die beiden. Sie fordern sie auf, ihr Haus zu verlassen und mit ihnen auf einen Berg zu steigen. Sie werden Zeuge, wie die Landschaft sich in einen riesigen Sumpf verwandelt, der die Häuser samt ihrer Bewohner, die zu ihnen so abweisend waren, verschlingt. Nur das Haus der beiden Alten wird verschont. Die ärmliche Hütte verwandelt sich in einen strahlenden Tempel und Juppiter fordert sie auf, zu sagen, was sie sich für ihre weiteres Leben wünschen. Nichts weiter als „eure Priester zu sein und euren [!] Tempel zu hüten“, zu dem ihr Haus jetzt erhoben wurde. Vor allem aber wünschen sie sich, ihr Leben gemeinsam und zur selben Stunde zu beenden. Keiner mag gezwungen sein, den anderen überleben. „Auf den Wunsch folgt die Erfüllung“ (vota fides sequitur): Für die gottesfürchtigen Eheleute geht ihr Wunsch in Erfüllung: sie werden auch durch den Tod nicht geschieden. Sie verwandeln sich in beieinanderstehende Bäume. Seither wünschen sich Liebende, nicht ohne den Geliebten bzw. die Geliebte (weiter)leben zu müssen. Das ist wohl ein Wesenszug von Liebe und Freundschaft, dass man sich ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen mag.
Vota fides sequitur, das ist wieder so eine Wendung, die sich nur schwer übersetzen lässt. Hermann Breitbach übersetzt in seiner am Versmaß orientierten Übertragung: „Sprach’s , und der Wunsch ward ihnen erfüllt“. Dagegen ist Michael von Albrechts „Auf den Wunsch folgt die Erfüllung“ etwas gedrängter und bündiger, näher an der lateinischen Prägnanz. Vielleicht wäre „Dem Wunsch folgt (die) Erfüllung“ noch eindringlicher. Zwischen vota („Wunsch“) und fides („Erfüllung“) gibt es einen engen Zusammenhang. Das eine folgt dem anderen als seiner notwendigen Bedingung. Die ernstgemeinte Bitte zielt auf ihre Erfüllung und bekennt das Vertrauen, derjenige, an den sich die Bitte richtet, könnte sie erfüllen. Das Votum ist selbst ein Akt des Glaubens. Kein Glauben ohne das Votum, das sich dem Wohlwollen des (göttlichen) Anderen zuspricht und sich ihm wünschend verspricht.
Die Geschichte selbst, die beweisen will, dass die Götter – und nur sie – erfüllen können, wonach wir im Leben streben: das Glück einer Liebe, die auch der Tod nichts anhaben kann.
„Unermeßlich ist die Macht des Himmels“, bekennt der Erzähler, „sie hat keine Grenze; und alles, was die Götter je gewollt haben, hat sich vollendet.“[4] Sie soll der Respektlosigkeit des Pirithous entgegenwirken, der „als Verächter der Götter trotzigen Sinnes“ den gastgebenden Flussgott Achelous verspottet hatte. Doch vor allem hatte Pirithous seine Gefährten im Blick, die solche Geschichten Glauben schenken, in denen die Götter die Macht hätten, „Gestalten zu geben und zu nehmen“. Ovid lässt den Erzähler der Geschichte von Philemon und Baucis deshalb mit einer Versicherung schließen: „Das haben mir ernsthafte alte Männer erzählt – sie hatten auch keinen Grund, mich anzulügen.“ Er selbst habe die beiden Bäume gesehen, an deren Äste Blumengewinde hingen. Aber kann uns das von der „Wahrheit“ der Geschichte überzeugen? Dass sie von ehrenwerten Männern erzählt wird, die keinen Grund zu lügen haben, ist sicher hilfreich. Und auch, dass sie offenbar auch von anderen „wahrgenommen“ wird, die an ihrer Wahrheit nicht gezweifelt wird. Die Wahrheit einer Geschichte gründet in ihrer Wirklichkeit schaffenden Erzählung: wir hören ihr zu, sie nimmt uns ein und schlägt uns in ihren Bann. Wir tauchen in sie ein und erleben sie mit. Der Schein der Wahrheit wird selbst zur erlebten Wirklichkeit. Die in ihnen erlebte Macht der Götter verdankt sich der Kunst des Erzählers, „Gestalten zu geben und zu nehmen“ (dare et adimere figuras).
[1] VIII 614f.: ficta refers nimiumque putas, Achelos, potentes / esse deos […] si dant adimuntque figuras
[2] VIII 677f.: super omnia vultus / accessere boni nec iners pauperque voluntas
[3] VIII 683: et veniam dapibus nullisque paratibus orant
[4] VIII 618f.: immensa est finemque potentia caeli / non habet et, quidquid superi voluere, peractum est. Schön wieder die Entgegensetzung von „unermeßlich“ (immensa) und der „Begrenzung“ (finem), die dann im nächsten Vers aufgehoben für die himmlische Macht aufgehoben wird (non habet).
[5] Ähnlich in III 527: Dicta fides sequitur. Dort bezieht es sich auf den Seher Tireisias, dessen Voraussage eintrifft. Auch hier haben wir es mit einem zu tun, Pentheus, der die Götter verspottet.