Die nächste Geschichte verlangt einen etwas künstlichen Übergang. Athen feiert seinen Helden und opfert dankbar den Göttern. Theseus Heldentat wird in ganz Griechenland bekannt und bewundert. Von vielen wird er gebeten, ihnen aus Notlagen zu helfen. So wendet sich auch Calydon an ihn. Oenus hatte sich für die üppigen Erträge des Landes den Göttern wie es gebührt reichlich geopfert – für das Getreide der Demeter/Ceres, den Wein dem Dyonisos/Bacchus und die Oliven der Athene/Minerva. Nur die Göttin des Walds und der Jagd Artemis/Diana blieb unberücksichtigt – man glaubte wohl, dass man ihr für den Ernteertrag keinen Dank schulde. „Zorn kann auch Götter ergreifen (tangit et ira deos).“ Und so verkündet sie: Die Ignoranz „werden wir nicht ungestraft hinnehmen, und bleibt schon Unsere Ehrung aus, so soll doch wenigstens Unsere Rache nicht ausbleiben!“[1] Und so schickt sie zur Strafe ein Wald-Ungeheuer, einen riesigen, feuerspeienden Eber, der dem Landvolk schnell deutlich werden lässt, wie lebenswichtig doch die Welt des Walds für das Glück des Landes ist. Der Eber verwüstet die Felder, Gärten und Weinberge, und er macht sich über die eingefahrene Ernte her, fällt Mensch und Tier an und wütet auch unter den Schafherden und Rindern. „Das Volk flieht nach allen Seiten und glaubt sich nur noch hinter den Stadtmauern sicher“.[2]
WIR LESEN OVID
Ovids Metamorphosen sind ein lesenswerter Klassiker. Wir lesen Stück für Stück die fünfzehn Bücher in kleinen überschaubaren Abschnitten. Können wir Philosophisches zur Zeit daraus lernen? Finden Sie’s raus und lesen Sie mit! Das geschah bisher.
Meleager, der Königssohn, schart tapfere Männer um sich, darunter auch Theseus, die Erzählbrücke zur neuen Geschichte, die so begierig sind wie der Königssohn selbst, ihren Mut und ihre Jagdkunst an dem mächtigen Eber zu beweisen. Ovid schildert nun die verzweifelten Versuche mancher großsprecherischen Halbstarker, die sich gegen den Eber versuchen und alle tödlich scheitern. Einzig Atalanta, eine unter der Obhut von Artemis/Diana aufgezogene Jägerin, gelingt es mit dem Bogen, dem Eber eine blutige Wunde zuzufügen. Der Anfang vom Ende, das ihm dann Meleager bereitet. „Die Gefährten bezeugen ihre Freude durch Beifallsrufe und drängen sich danach, die siegreiche Hand zu drücken.“ Als Zeichen des gemeinsamen Jagderfolgs, der schließlich durch Meleager zum Abschluß gebracht wurde, tauchen sie ihre Waffen in das Blut des Ebers. Aber die Harmonie dauert nicht lange. Meleager, der schon vor der Jagd der Liebe zu Atalanta verfiel, will ihr nun eine besondere Ehre gewähren: „Nimm, Nonacrierin, die Tophäe, die mir zusteht, und mein Ruhm sei zwischen dir und mir geteilt.“ Das empört die Jagdgesellschaft. Sie sehen darin eine ungerechte Übervorteilung. „‘Lege die uns gebührenden Ehrenzeichen weg und raube sie uns nicht, Weib! Laß dich furch deine Schönheit nicht verführen […]‘ Und sie rauben ihr die Gabe und ihm das Recht des Gebens (huic adimunt munus, ius muneris illi)“[3] Vor allem die Brüder Plexippus und Toxeus tun sich dabei hervor. Meleager widersetzt sich ihnen, immerhin seine Onkeln mütterlicherseits, und stößt zunächst dem überraschten Plexippus das Schwert in die Brust und dann dem zu Hilfe kommenden Toxeus. Wie der wilde Eber, so fordert auch die wilde Begierde seine Opfer.
Aber das ist erst der Anfang der Geschichte. Die Mutter die Meleagers, Althaea, die gerade den Göttern für den Sieg ihres Sohnes opfern will, muss nun sehen, „wie ihre Brüder entseelt heimgetragen werden“. Sie fällt in tiefe Trauer. „Doch kaum war ihr der Mörder genannt worden, war alle Trauer wie weggefegt, und die Tränen schlugen um in heißen Durst nach Rache (a lacrimis in poenae versus amorem est).“[4] Auch sie ergreift ein Verlangen, amor. Aber soll und kann sie ihr Verlangen nach Rache, die sich gegen den Sohn richtet, wirklich umsetzen?
„Die Mutter in ihr ringt mit der Schwester, und zwei entgegengesetzte Pflichten reißen ein und das selbe Herz hin und her. (pugnat materque sororque / et diversa trahunt unum duo nomina pectus)“[5] In einer Fülle wunderbarer Formulierungen beschreibt uns Ovid ihren Kampf. So vergleicht er ihre Stimmungslage mit einem Schiff, das zwischen dem Wind und der ihr entgegenwirkenden Brandung hin und her gerissen wird; sie ist zwei Kräften ausgeliefert, die beide an ihr reißen und denen sie beiden gehorchen muss. Was kann man Besseres über einen Dichter sagen, als dass man ihn selbst lesen muss und die einzig angemessene Laudatio darin besteht, ihn zu zitieren?! „Ich räche und begehe zugleich eine Untat (ulciscor facioque nefas): Tod soll Tod sühnen (mors morte pianda est), und es häufe sich Frevel auf Frevel (in seclus addendum scelus est, in funera funus) … Unter einem Berg von Trauer werde das gottlose Haus begraben (per coacervatos pereat domus inpia luctus).“[6]
Aber wie, wenn sie es denn wirklich wollte, könnte sie es anstellen? Zur Bluttat wäre sie wohl nicht fähig. Also Gift, das man ohne es mitzuerleben wirken lassen kann? Sie freilich hat ein besonderes Mittel, das sie einem frevelhaften Diebstahl verdankt.
Wir verdanken unser Leben den Müttern. Wie lange es währt, ist Sache der Parzen, der Schicksalsgöttinen. Eine, Klotho spinnt den Lebensfaden, den die zweite, Lachesis, zuteilt und die dritte, Atropos, abschneidet. Bei Ovid wird der Schicksalsfaden ein Scheit, das von ihnen bei Geburt ins Feuer gelegt wird: „Wir geben Dir, Du Neugeborener, dieselbe Lebenszeit wie diesem Holz.“[7] „Die Zeit ist das Feuer“, wird es dann viel später einmal heißen, „in dem wir verbrennen“.
Die Mutter hatte eine, wie es scheint, blendende Idee: sie reißt das brennende Scheit aus dem Feuer und wirft es ins kalte Wasser. Seither verwahrt sie es und solange sie es „hütet“, behütet sie auch Meleagers Leben. Nun freilich ist sie entschlossen, es wieder ins Feuer zu werfen und es kräftig anzufachen. Doch gesagt, ist nicht getan. Wieder melden sich Skrupel, wieder muss sie sich selbst überzeugen. Schließlich wirft sie das Scheit – sich abwendend – ins lodernde Feuer. „Das Holz ächzte – oder kam es nur der Mutter so vor? Dann ging es in Flammen auf, die es nur widerstrebend verschlangen.“[8]
Meleager ahnt davon nichts und ist weit ab vom tödlichen Feuer, aber „fühlt [gleichwohl], wie unsichtbare Gluten sein Inneres ausdörren“. Ovid genießt es wieder, uns das zu beschreiben: Meleager unterdrückt mannhaft die heftigen Schmerzen, „doch ist er traurig, dass er eines feigen unblutigen Todes sterben muss“. Er preist mit letzter Kraft den Vater, die Brüder und Schwestern und „vielleicht auch die Mutter (forsitan et matre)“! „Feuer und Schmerz nehmen zu und lassen wieder nach: Zugleich sind beide erloschen; allmählich entwich der Lebenshauch in die leichten Lüfte, allmählich hüllte graue Asche die glühende Kohle ein.“
Eine erschütternde Geschichte, deren Untat weit zurückliegt. Als Althaea sich anmaßt das Scheit aus dem Feuer zu nehmen, begeht sie eine die Götter herausfordernde Hybris. Sie, die Mutter, will und muss nun über das Leben des Sohns entscheiden. Wann glaubt sie denn, dass sie das Scheit wieder ins Feuer legen kann. Bei einer unheilbaren Krankheit? Als Ersatz für das Abschalten der würdelosen Lebensverlängerung durch daedaleske Apparate? Und wer soll sie beerben? Er selbst oder ein eingesetzter Leumund? Die Tat Althaeas ist eine widernatürliche Untat, etwas das per se ins Unglück führt. Dass nun der Mord an den Brüdern den Ausschlag gab, macht die Sache fast wieder erträglich und lässt gleichwohl alle im Unglück zurück. Althaea bringt sich selbst um, der Vater „beklagt sein langes Leben“ und die Schwestern verfallen in tiefe Trauer. Schließlich lässt sich Artemis/Diana erweichen, lässt den Schwestern Federn sprießen und „trägt sie empor, spannt weite Flügel über ihre Arme, gibt ihnen Schnäbel aus Horn und läßt sie verwandelt durch die Luft fliegen.“