Ovids Metamorphosen VIII: Durch Weglassen etwas sagen – auch eine Kunst

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Minos zieht von Athen ab, aber legt Athen eine schwere Tributlast auf. Athen wurde darauf verpflichtet, alle neun Jahre sieben Jünglinge und sieben Jungfrauen nach Kreta zu senden, die dem gefräßigen Ungeheuer geopfert wurden, das dort im Labyrinth haust, das von Daedalus gebaut wurde. Das ist die Gelegenheit Theseus ins Spiel zu bringen. Ovid widmet der berühmten Geschichte aber nur wenige Zeilen. Er regt durch knappe Andeutungen den Leser mehr dazu an, sich an die alte Geschichte zu erinnern, als dass er sie selbst erzählt. Was hätte sich hier nicht alles ausschmücken lassen? Minos ist schließlich nicht ganz so ehrenhaft und sittenstreng wie er sich angesichts Scyllas Verrat zeigen wollte. Seine Macht in Kreta verdankt er einer Übereinkunft mit Poseidon, die er dann einfältig, um nicht zu sagen dümmlich unterlaufen wollte: er hatte Poseidon zugesichert, ihm für seine Unterstützung bei der Festigung seiner Königsmacht, das erste Wesen zu opfern, das dem Meer entstieg. Poseidon schickte ihm, wohl um seine Verlässlichkeit zu prüfen, einen prächtigen Stier. Den freilich wollte Minos nicht wieder hergeben und opferte an seiner Stelle ein altes, schmuckloses Rind aus seiner Herde.

WIR LESEN OVID
Ovid – WikiCommons

Ovids Metamorphosen sind ein lesenswerter Klassiker. Wir lesen Stück für Stück die fünfzehn Bücher in kleinen überschaubaren Abschnitten. Können wir Philosophisches zur Zeit daraus lernen? Finden Sie’s raus und lesen Sie mit! Das geschah bisher.

Daedalus fertigt für Pasiphaë die künstliche Kuh

Konnte er wirklich glauben, Poseidon damit zu täuschen? Poseidon musste es nicht nur als Wortbruch, sondern auch als selbstermächtigende Beleidigung verstehen. Er strafte ihn, indem er in Minos Frau Pasiphaë hitzige Begierde nach dem Stier entfachte. Sie beauftragte Daedalus, ihr eine hölzerne Kuh zu bauen, die der Stier bespringen konnte, während sie sich darin entsprechend positionierte. 

Eine Geschichte, von der man hätte annehmen dürfen, dass sie Ovids Aufmerksamkeit und Erzähllust hätte fesseln sollen. Aber er lässt sie genauso weg wie Pasiphaë Rache an ihrem Gatten, die auch Ovidsches Format gehabt und uns Lesern sicher in ein prickelndes Schaudern versetzt hätte. Das alles lässt er weg. Auch darin zeigt er seine Souveränität. Ich erzähle was ich will, nicht was ihr erwartet. Das hätte Euch lüsternen, sensationsgierigen Spannern so gepasst, meint man ihn sagen hören. Er rekapituliert stattdessen in aller Kürze, dass Theseus unter Mithilfe der Minos Tochter Ariadne das Ungeheuer bezwingt und aus dem Labyrinth wieder herausfindet. Schließlich flieht er von Kreta und nimmt Ariadne mit sich. Allerdings aus anderen Motiven als Ariadne das gehofft hatte. Er entführt sie nicht aus Liebe, sondern als Geisel zur eigenen Sicherheit. Als er sich in sicherer Entfernung weiß, setzt er sie auf einer Insel aus. „Die Verstoßene und unablässig Klagende rettete Liber [Dyonisos/Bacchus] mit seiner Umarmung; um sie durch ein ewig sichtbares Gestirn berühmt zu machen, nahme er die Krone vom Haupte und warf sie gen Himmel. Sie fliegt durch die zarten Lüfte, und im Fluge verwandeln sich die Edelsteine in strahlende Feuer und stehen an dem Orte still, der in der Mitte zwischen dem ‚Knieenden‘ und dem ‚Schlangenträger‘ ist. Die Gestalt der Krone blieb bestehen[1] – die sogenannte Nördliche Krone oder Corona Borealis. Darum geht es ihm also: Geschichte wiederholt sich. Was die Königstochter Scylla für Minos, das ist Ariadne für Theseus. In Liebe entflammte Töchter ernten dann bei denen Undank, für die sich gegen ihre Väter wenden. Und dafür sie schließlich verwandelt. Aus. Fertig. So ist das eben!?

[1] VIII 176ff.

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