Ovids Metamorphosen VIII: Wer die Bodenhaftung verliert, geht am Ende über Leichen

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Daedalus, das mythologische Urbild des Demiurgen, wir würden heute vom Ingenieur sprechen, wurde überlistet: mit dem Faden der Ariadne lässt sich der Ausgang auch des kunstvollst gebauten Labyrinth finden. Jede technische Trickserei schreit nach einer, die den Trick austrickst. Seither sind wir im rat-race der Hacks der Security gegen Hacks. Den Schaden hat in diesem Fall nur Daedalus, dessen Ruf nun angekratzt ist. Minos und Kreta bleiben schadlos – im Gegenteil, sie sind ja nun das Ungeheuer los, das sie jahrelang bedienen musste. Daedalus aber muss sich neu beweisen.

Sein Erfindungsreichtum ist auch umgehend wieder gefordert. Denn Minos will Daedalus nicht ziehen lassen. „Mag Minos auch Land und Wasser versperren, steht uns doch der Himmel offen.[1] Also erfindet er für sich und seinen Sohn ein künstliches Fluggerät, um sie von der Insel wegzutragen.

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Ovid – WikiCommons

Ovids Metamorphosen sind ein lesenswerter Klassiker. Wir lesen Stück für Stück die fünfzehn Bücher in kleinen überschaubaren Abschnitten. Können wir Philosophisches zur Zeit daraus lernen? Finden Sie’s raus und lesen Sie mit! Das geschah bisher.

Das Kunstwerk erfordert freilich Kunst, es richtig zu gebrauchen. Er weiß um die Gefahr und warnt seinen Sohn, nicht zu tief zu fliegen, um nicht in den Sog der Meereswellen zu gelangen, aber nicht zu hoch, um der Sonne nicht zu nahe zu kommen und das Wachs, mit dem die Federn „verleimt“ wurden, nicht weich und flüssig zu machen. Er ermahnt den Sohn, sich gekonnt in der Mitte zwischen den beiden Gefahren zu halten – eine Metapher für die tüchtige Lebensführung des μηδὲν ἄγαν (meden agan), „Nichts im Übermaß!“. Natürlich erreicht die Mahnung den Sohn nicht, der sich himmelstürmend beweisen will. Um an seine Grenzen zu erkennen, muss er sie überschreiten. Und das endet wie es enden muss: Hybris wird bestraft. Manchmal durch einen Muskelkater oder eine Sportverletzung, manchmal durch Nervenzusammenbrüche und (eben) „burn out“. „Der unglückliche Vater, der kein Vater mehr ist (pater infelix nec iam pater)“, beklagt nun sein Dasein und „verflucht seine Künste (devovit suas artes)“. devovit ist nicht maledico, das hieße ja die Kunst zu verwünschen und nicht als Künstler zu geloben, ihr gerecht werden zu wollen. maledico ist von Daedalus wirklich nicht zu erwarten. Er beharrt auf seiner Kunst und beklagt, ihr noch nicht zu entsprechen. Was sollte Daedalus ohne seine Kunst sein, die doch sein Wesen, seinen Erfolg und sein Scheitern ausmacht.

Und für sie geht er, wie viele seiner Nachfolger, schon mal über Leichen. Perdix z.B. ein aufgewecktes Kerlchen, zwölfjähriger Sohn der Schwester, wurde ihm „in die Lehre gegeben“. Mir nichts, dir nichts erfindet er die Säge und den Zirkel. Und wie reagiert Daedalus. Er wurde „neidisch“, stürzt den Neffen kurzerhand und kopfüber „von Minervas heiliger Burg“ und gibt vor er sei dort ausgeglitten. Seine Erfindungen reklamiert er für sich. „Doch Pallas, die begabten Menschen gewogen ist, fing ihn auf, machte ihn zum Vogel und gab ihm mitten in der Luft ein Federkleid.“ Dem Vogel allerdings „fliegt er nah am Boden und legt seine Eier in Hecken“. Es bleibt ihm sein Name, perdix, Rebhuhn: „Eingedenk des früheren Sturzes fürchtet er [nun] die Höhe (antiqui memor metuit sublima casus).[2] Ja, die sublima casus, die herausragenden Dinge, die in hoher Höhe schweben, gleichsam überheblich emporragen, die sollten wir meiden, denn sie wecken den Neid derer, die sich der Kunst verpflichtet wissen, die natürliche Welt künstlich zu verbessern.

Athena verwandelt Perdix, niederländischer Druck 1602/07

[1] VIII 185f: ‚terras‘ licet ‚et undas / obstruat, at caelum certe patet‘

[2] VIII 259.

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