Nun endlich lässt Ovid die Winde drehen. Cephalus bricht mit der geforderten militärischen Unterstützung von Aegina auf. Während seines Aufenthalts und all der erzählten Geschichten hat Minos gehandelt. „Inzwischen verwüstet Minos die Küsten der Leleger und erprobt die Kräfte seiner Streitmacht an der Stadt Alcathoe.“ Dort herrscht Nisus über das mächtige Megara. Ihn schmückt eine purpurne Haarsträhne, die ihm – so lange er sie trägt – die Macht über Megara sichert. Minos wird also so groß seine Streitmacht auch sein mag, keinen Erfolg haben können. Freilich weiß er das nicht und rennt vergeblich gegen die Stadt an. Freilich weiß Scylla, die Tochter des Nisos, um die magische Kraft der Haarsträhne. Und sie verliebt sich in Minos als sie ihn von weitem vom Festungsturm wahrnimmt. Jedesmal wenn sie ihn sieht, ist sie kaum mehr ihrer Sinne mächtig (vix sua, vix sanae virgo Niseia compos mentis erat). Aber ihre Situation ist denkbar ungünstig: er weiß nichts von ihr und ihrer Liebe, sie kann sich ihm nicht einfach nähern. Minos, den sie liebt, ist für sie ein Feind. Natürlich kann sie sich über den Krieg nicht freuen, aber ohne ihn hätte sie Minos nie gesehen. Nun phantasiert sie sich allerlei zusammen: sie möchte auf Flügeln ins gegnerische Lager gelangen und ihm ihre Liebe offenbaren. Er wird, so hofft sie, schon nicht die Burg des Vaters als Mitgift fordern. Und falls doch? Dann würde sie ihr Vorhaben aufgeben, denn nie wolle sie „durch Verrat an das Ziel [ihrer] Wünsche“ gelangen.[1]
WIR LESEN OVID
Ovids Metamorphosen sind ein lesenswerter Klassiker. Wir lesen Stück für Stück die fünfzehn Bücher in kleinen überschaubaren Abschnitten. Können wir Philosophisches zur Zeit daraus lernen? Finden Sie’s raus und lesen Sie mit! Das geschah bisher.
Aber der nächste Gedanke macht vieles möglich: „schon oft und für viele ist eine Niederlage dank der Milde des gütigen Siegers zum Segen geworden“.[2] Und natürlich kann sie gar nicht anders als glauben, dass die Sache für die der Geliebte kämpft gut ist. Und wird die Stadt seinem mächtigen Heer nicht eh unterliegen. Wäre es da nicht besser, wenn sie ihm die Stadt ausliefert ohne das Blut vergossen wird? „Der Plan ist gefaßt; mein Entschluß steht fest, mich auszuliefern ind mit mir die Vaterstadt als Mitgift. So will ich dem Krieg ein Ende setzen.“[3]Aber wie? „Wollen ist nicht genug (verum velle parum est).“[4] Die Stadt ist fest verriegelt und der Vater wacht über alles. Und so führt sie gegen ihn Klage: „Den Vater muss ich Unselige fürchten (hunc ego solum / infelix timeo), er allein steht meinen Wünschen im Wege. Wollten die Götter, ich wäre ohne Vater! (di faceret, sine patre forem)“[5] Spätestens jetzt ahnen wir, was da kommen wird und dass die Geschichte wieder nicht gut ausgehen wird.
Richtig. Natürlich besinnt sie sich auf die einzige Schwäche des Vaters, die zugleich seine unbesiegbare Stärke versichert: die purpurne Haarsträhne. Wird sie abgeschnitten, sollte ihrem Glück nichts mehr im Wege stehen. So schleicht des Nachts zum schlafenden Vater und schneidet ihm das purpurne Haar aus und flieht in das Lager des geliebten Feinds und gibt sich Minos zu erkennen. Sie übergibt ihm das Haar und damit zugleich das Haupt des Vaters. Minos schrickt fassungslos zurück – auch er ist Vater und möchte wohl weder eine Tochter, die zu solche einer Tat fähig ist, noch solche eine Geliebte: „Mögen die Götter dich von ihrem Erdkreis vertilgen, du Schandfleck unseres Jahrhundert(infamia saecli , […] ich werde jedenfalls niemals dulden, daß Kreta, Juppiters wiege und meine Welt, mit solche einem Ungeheuer (monstrum) in Berührung kommt.“[6]
Nach der Eroberung ließ er Scylla zurück. Sie „gerät in rasende Wut“ und ruft ihm völlig außer sich nach „Wohin fliehst Du, Grausamer? Sein Sieg ist mein Verbrechen und mein Verdienst (cuius victoria nostrum et scelut et meritum est).“ Ob wir es Verdienst nennen wollen, darüber kann man streiten; sein Sieg freilich wäre ohne ihr „Vergehen“ gegen den Vater wohl nicht möglich gewesen. Nun ist Sycalla heimatlos. Also stürzt sie in ihrer Verzweiflung ins Meer und der auslaufenden kretischen Flotte nach. Sie holt die Schiffe ein – „die Begierde lässt ihr Kräfte wachsen“ – und klammert sich ans Heck von Minos Schiff. Da verfolgt sie ein Fischadler, zu dem ihr Vater verwandelt wurde, und versucht sie „mit seinem krummen Schnabel zu zerfleischen“. Aus Angst lässt sie los und schwebt – ihrerseits zum Vogel geworden – über dem Wasser. Ob sie so Minos folgt oder selbst weiter vom Fischadler verfolgt wird, lässt Ovid offen.
Der Verrat an Vater und Vaterland hat wohl keine Zukunft, vor allem dann, wenn der Geliebte von seinem Geliebtwerden nichts weiß und nichts wissen will. Wir Leser, die wir wohl nur selten – und hoffentlich nie – in eine vergleichbare Lage kommen, erkennen uns aber doch in der Selbstbeschwörung Scyllas, die im Wissen um das Vergehen, sich immer wieder Entschuldigungen zuspricht. Man kann – vor allem, wenn man selbst im Bann der eigenen Leidenschaften steht – sich vieles damit entschuldigen, dass man es ja wirklich gut gemeint hat. Das hilft sogar, über Leichen zu gehen.