Ovids Metamorphosen VII: Die Pest

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Theseus, der von Ovid gerade auf die Bühne der Verwandlungen geführt wurde, hat noch eine Nebenrolle. Um ihn herum lässt Ovid einiges geschehen, bevor er ihn selbst zur handelnden Person macht. Zunächst bestimmt Minos, sein Gegenspieler, das Geschehen. Vor allem aber umschlingt er die minoische Vorgeschichte mit einigen Geschichten, die neben dem Erzählten eben auch den Erzähler ins Spiel bringen. In das erzählte Geschehen werden andere Geschichten eingefügt, die sich nicht aus ihm selbst verstehen, sich vielmehr dem dichterischen Willen verdanken. Wo die Geschichte sich gleichsam von selbst zu entwickeln scheint, muss sie unterbrochen und durch etwas für sie Beiläufiges kunstvoll ergänzt und zum Kunstwerk gemacht werden. Kunst bildet etwas ab, geht in dem Abgebildeten aber nicht auf. Das Bild von etwas ist mehr als das Abgebildete selbst. Es trägt eine kunstsinnige Handschrift. Die kunstvoll gemalte Fliege ist keine „echte“: sie ist „weniger“, eben nur ein Bild, und zugleich „mehr“ als nur eine Fliege. Die musca depicta führt uns über die Fliegen hinaus, die wir in der Küche als Störenfriede verscheuchen. Sie zeigt uns etwas anderes, auf das wir uns zu verstehen suchen.

 

WIR LESEN OVID
Ovid – WikiCommons

Ovids Metamorphosen sind ein lesenswerter Klassiker. Wir lesen Stück für Stück die fünfzehn Bücher in kleinen überschaubaren Abschnitten. Können wir Philosophisches zur Zeit daraus lernen? Finden Sie’s raus und lesen Sie mit! Das geschah bisher.

Also lässt Ovid die (bekannte) Geschichte nicht einfach laufen und sich selbst erzählen. Er gestaltet sie. Zur Vorgeschichte des Wirkens Theseus gehört z.B. der Feldzug, den der mächtige kretische König Minos, immerhin ein Sohn von Zeus und Europa, gegen Athen plant. Von den Zwangsabgaben, die Minos Athen auferlegen wird, wird Theseus die Stadt befreien und sie zu neuer Größe führen. Minos durchstreift mit seiner beeindruckenden Armada die Ägäis auf der Suche, nach weiteren Verbündeten und plündert diejenigen, die zu einer Unterstützung nicht bereit sind. So kommt er auch ins mächtige Aegina, das mit Athen freundschaftlich verbunden ist. Dort wird er abgewiesen, weil er „Unerfüllbares“ (inrita) fordert, Aegina sich nämlich vertraglich verpflichtet sieht (ea foedera magno), Athen beizustehen. Minos scheut das Risiko einer direkten Konfrontation und zieht erstmal unter Drohungen ab: „Teuer wird Dich [Aeacus, König von Aegina] Dein Bündnis zu stehen kommen.“ Er hält es für „nützlicher mit Krieg zu drohen, als ihn zu führen“ (utilius bellum putat esse minari quam gerere).[1]

Kurz danach trifft Cephalus aus Athen mit dem Ansinnen in Aegina ein, von dort militärische Unterstützung für die Auseinandersetzung mit Minos zu bekommen, dessen Armada er noch abziehen sieht. Das wäre jetzt vielleicht nicht so wichtig für die Heldengeschichte des Theseus. Aber Ovid will uns noch andere Geschichten erzählen, die eben mit Cephalus verbunden sind und die Theseus-Geschichte umrahmen.

Cephalus wird jedenfalls die geforderte Unterstützung vorbehaltlos zugesichert. Obgleich Aegina grade erst eine für das Gemeinwesen äußerst kritische Situation überstanden hat. Aeacus erzählt ihm von der „verheerenden Pest“ (dira lues), die Juno über Aegina kommen ließ, aus Zorn auf die Nymphe Aegina, nach der das Land benannt wurde und die, von Juppiter verführt, die Mutter des König Aeacus wurde.

Pest auf Aegina (Druck 17.Jhd)

Ovid lässt nun Aeacus spektakulär das Elend der Pest beschreiben. Gibt es dazu Vorbilder? Jedenfalls gelingt es Ovid, uns den Horror der sich ausbreitenden Pest in schrecklichen Bildern mitreißend zu vergegenwärtigen. Der Pest ist nicht zu entkommen. Die Pestschwüle legt sich über Mensch und Tier. Wohin sich der Blick wendet, liegt das Volk „niedergemäht, wie wenn faule Äpfel von den Zweigen fallen“. Keine Kunst kann sie eindämmen. Im Gegenteil wird z.B. den Ärzten die Ausübung ihrer Kunst zum Verhängnis: alle Anstrengung sich gegen die Pest zu stellen oder ihr zu entkommen erweist sich als sinnlos und „den Kundigen schadet ihre Kunst“ (obsunt auctoribus artes).[2] Die Menschen fliehen ihre Häuser und verenden auf den Straßen. Wohin sie auch zu fliehen suchen, es endet immer tödlich. Sie scheitern selbst darin, die Götter anzuflehen: „Wie oft starb ein Ehemann, während er Rauch spendet? […] Wie oft brachen die Opfertiere, die man vor den Tempel brachte, während der Priester das Gelübde aussprach … unerwartet zusammen!“ Auch die Tempel säumen Leichen. „Im Angesicht der Altäre selbst schnüren sich manche mit der Schlinge den Atem ab, vertreiben die Todesfurcht durch den Tod und rufen freiwillig das Schicksal herbei, das ohnehin kommt (mortisque timorem morte fugant ultroque cocant venientia fata).[3]

Schließlich beschwört Aeacus – „von dem Wirbelsturm des Unglücks erschüttert (attonitus tanto miserarum turbine rerum)[4] – Jupiter, der doch sein Vater ist, er möge ihm die Seinen zurückgeben oder auch ihn sterben lassen. Das „Wetterleuchten“ (fulgore), das dem (an)klagenden Flehen folgt, deutet er als Zeichen des Wohlwohlens wie er auch den darauf folgenden Donner „glücksverheißend (secundo)“ (!?) nennt: es ist in seinen Augen jedenfalls eine Antwort und Zeichen, dass er gehört wurde: „Ich nehme deine Antwort an und bitte, dies möge ein glückliches Zeichen deines Willens sein. Das Omen, das du mir gibst, gelte mir als Unterpfand.[5] Unter der Eiche stehend, die Juppiter heilig ist, sie er „körnersammelnde Ameisen“ am Werk, die „in langem Zuge, schwere Lasten im kleinen Maule tragen und in der rissigen Rinde ihren Pfad verfolgen […] ‚Gibt du mir, bester Vater, ebenso viele Bürger und fülle meine leeren Mauern wieder mit Menschen‘“. In der folgenden Nacht fällt er in großer Sorge um seine Mitbürger in den Schlaf und träumt davon, dass sein Wunsch in Erfüllung geht. Und als ihn der Schlaf verläßt (somnus abit), straft er zunächst das „Traumgesicht Lügen (damno vigilans mea visa)“ und klagt darüber, „dass uns die Götter nicht helfen (queror in superis opis esse nihil)“. Dann aber hört er reges Treiben vor dem Haus, tritt hinaus und sieht, was er geträumt: neue Männer wurden ihm in Fülle gegeben, mit dem „Wesen, das ihnen vorher eigen war (mores, quos ante gerebant)“, „genügsam (parcum genus)“, „arbeitsam, am Erworbenden festhaltend und bereits das Erworbene zu bewahren (patiensque laborum quaesitique tenax et quod quaesita reservent)“,[6] Männer, um die Cephalus gebeten hat. Und sobald der Ostwind (eurus), der Cephalus nach Aegina gebracht hat, „sich zum Südwind gewandelt hat (fuerit mutatus in austros)“ werden sie mit ihm Aufbrechen.

Das freilich dauert noch. Ovid hat es nicht eilig, den Wind zu verwandeln, da er noch von anderen Verwandlungen erzählen will. Theseus muss mit seinen Heldentaten noch warten, damit Ovid seine Kunst zeigen kann.

[1] VII 488f.

[2] VII 562. Das ist im Übrigen gar nicht so selten – und dazu braucht es nicht immer so etwas wie die Pest. Es reicht oft schon, wenn man zu viel weiß, um sich in ernste Schwierigkeiten zu bringen!

[3] VII 603ff.

[4] VII 614. Attonitus meint vom Donner gerührt und spielt auf den Donner Juppiters an, den er gleich als Zeichen dafür sehen wird, von den Göttern gehört zu werden.

[5] VII 620f: accipio, sintque ista, precor, filicia mentis / signa tuae […] quod das mihi, pigneror omen.

[6] VII 695ff.

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