Medea ist, seit sie ihre Heimat in kopfloser Hingabe an Jason verlassen hat, ständig auf der Flucht. Sie flieht nach der Mordtat an Pelias auf geflügelten Schlangen quer durch Griechenland. Eine Gelegenheit für Ovid Griechenland von oben, also dichterisch, zu beschreiben. Schließlich kommt sie nach Athen, dessen König Aegeus sie aufnimmt und ihr verfällt. Ihre grausamste Tat erwähnt nur mit einem Satz: sie hatte die Frau, die Jason ihr vorzog erbarmungslos getötet, indem sie ihr ein Kleid schenkte, das beim Tragen zu brennen anfing, und schließlich ihre Kinder mit Jason gemordet, um ein gnadenloses Ende ihres Sich-Verführt-Betrogen-Glaubens durch Jason herbeizuführen.
WIR LESEN OVID
Ovids Metamorphosen sind ein lesenswerter Klassiker. Wir lesen Stück für Stück die fünfzehn Bücher in kleinen überschaubaren Abschnitten. Können wir Philosophisches zur Zeit daraus lernen? Finden Sie’s raus und lesen Sie mit! Das geschah bisher.
Nun in Athen fürchtet sie, dass der strahlende Held Theseus, ein Sohn Aegeus, von dem dieser nichts weiß, die Macht an sich reißt. Also braut sie für ihn einen tödlichen Zaubertrank. Den „reichte auf den listigen Rat seiner Frau [Medea] der Vater Aegeus selbst seinem Sohn, also wäre er ein Feind. Schon hatte Theseus mit ahnungsloser Hand den Becher, den man ihm gab, genommen, als der Vater am elfenbeinernen Schwertgriff das Zeichen seines Geschlechts erkannte und ihm den mörderischen Trank von den Lippen stieß.“ Und Medea sieht sich wieder zur Flucht gezwungen.
Aber das Ganze erzählt Ovid nur, um zu Theseus überzuleiten. Erst jetzt nach gescheitertem Mordanschlag erfahren wir von seinen Heldentaten und der Begeisterung des athenischen Volks einen solchen Helden als zukünftigen König zu haben.
Die Geschichte Medeas ist vorbei. Sie endet irgendwo im Nebel des Nirgendwo. Medea kann einem fast wieder leid tun … für das Tragische ihrer Existenz hatte Ovid wohl keinen rechten Sinn. Er hat sie nur „metaphorisch“ benutzt. Ein bisschen wie Jason. Obwohl Ovid zu wissen scheint, dass ihre Zaubersprüche und sein Gedicht (carmen) nahe Verwandte sind. Im Übrigen ist auch Ovid ein Flüchtiger, ein Ausgestoßener, der im Nebel des kalten Nordosten verschwindet.
Demnächst
Geschichten haben Vorgeschichten. Und Erzähler lieben es, bevor sie richtig beginnen, uns Vorgeschichten zu erzählen. Und eine Pest, die auf Aegina tobte, hat zwar nicht wirklich was mit dem zu tun, was dann erzählt werden soll, ist aber allemal erzählenswert – vor allem wenn man Ovid heißt und sie wie er erzählt.